Efrîn – ein Kanton der Demokratischen Föderation Nordsyrien

Die feuchte, schöpferische Erde

Sozdar Efrîn

Der Kanton Efrîn liegt oberhalb des »Fruchtbaren Halbmonds« Mesopotamien, einst die Wiege der Zivilisation. Damit ist der westliche Teil Kurdistans gemeint. Im Nordwesten Efrîns erstrecken sich die Amanos-Berge, im Norden die Taurus-Ausläufer, im Südosten liegt die Provinz Şehba und im Süden die Berge Samans.

Heute ist Efrîn einer der drei Kantone der Demokratischen Föderation Nordsyrien, aber abgetrennt von Cizîrê und Kobanê, den beiden anderen. Momentan gibt es keine Wege, um von dort nach Efrîn zu gelangen. Für die von der Türkei unterstützten Kräfte von Daesch (Islamischer Staat, IS) und der Freien Syrischen Armee (FSA) ist die Aufrechterhaltung der Separierung ein strategisches Ziel, um die Gebiete zu isolieren und auszubluten.Die Bevölkerung von Efrîn protestiert gegen die Landnahme bei der Grenzziehung des türkischen Staates. | Foto: ANHA

Die Herkunft des Namens Efrîn geht aus vielen Quellen und Recherchen aus dem fünften und dem neunten Jahrhundert hervor. Eine dieser Untersuchungen besagt, der Name Efrîn stamme aus dem aramäischen Wort »afro«, »feuchte Erde«. Eine weitere Vermutung lautet, er werde von der Wurzel des kurdischen Wortes »afirîn« hergeleitet, »Entstehung/Schöpfung«. Beide Beschreibungen beziehen sich auf die Fruchtbarkeit und die Kraft der Natur, aus der wir Menschen schöpfen, um mit ihr und durch sie überleben zu können.

Die Provinz liegt circa sechzig Kilometer von der Großstadt Aleppo entfernt. Der Kanton besteht aus sieben Regionen, Şêrawa, Cindirêsê, Mabeta, Reco, Bilbilê, Şiyê, Şêra, und den 365 umliegenden Dörfern. Die EinwohnerInnen sowohl in den Regionen als auch in den Dörfern sind mehrheitlich KurdInnen. Im Zentrum Efrîns lebt eine geringe Anzahl AraberInnen, in der Region Mabeta leben alevitische KurdInnen und in Cindirêsê, Şêrawa und Şêra gibt es êzîdische Dörfer. Diese Region war wie alle anderen kurdischen Siedlungen vom Baath-Regime vernachlässigt worden. Um ihre Grundbedürfnisse zu decken, sahen viele EfrînerInnen nur noch eine Alternative – die Flucht in die großen syrischen Städte wie Aleppo und Damaskus. In Aleppo leben sie in den Stadtvierteln Eşrefiyê, Şêxmeqsûd und Bustan Paşa. Während des Bürgerkriegs in Syrien nahmen die Gefechte zu. Die BewohnerInnen dieser großen Stadtteile wurden sowohl vom Baath-Regime als auch von den militärischen Kräften der Opposition auf barbarische Weise unterdrückt. Viele der BewohnerInnen sind in den Vierteln geblieben und haben sich innerhalb kürzester Zeit militärisch, gesellschaftlich und politisch organisiert, um ihre Stadtviertel zu verteidigen. Andere sind wieder zurück nach Efrîn geflohen. Aufgrund der Fluchtbewegung aus den großen syrischen Städten wuchs die EinwohnerInnenzahl Efrîns rasant – von 50.000 vor den Unruhen auf jetzt mehr als 400.000 in der Stadt Efrîn mit ihren 365 Dörfern. Die Gesamtbevölkerung des Kantons zählt jetzt ca. 1,5 Millionen, Tendenz steigend.

Das Gebiet hat seinen Namen von den Vorfahren der KurdInnen, den HurriterInnen und Mitanni. Heute noch wird eine an die Türkei angrenzende Region »Çiyayê kurmênc« (Berg der KurdInnen) genannt. Die Spuren der Sippen und Clans, die über Jahrhunderte die Regionen besiedelten, können nicht hundertprozentig belegt werden. Doch man kann sagen, dass in soziologischer Hinsicht Efrîn »kurmancî« (kurdisch) ist. Die bekanntesten Sippen im Kanton sind die Amkî, Bîyî, Xastî, Cûmî, Şikakî, Robarî, Heverkî, Dimiliyan und Behdînan.

Efrîn hat wie viele Provinzen Kurdistans eine dieser Gegend entsprechende eigene Kultur und ist historisch sehr alt.

Mit seiner Höhe von 1200 Metern über dem Meeresspiegel ist der Hawar Efrîns höchster Berg, gefolgt von Amkan, Sîsakan, Xastiyan und Lêlûn. Das Cûmê-Tal zwischen den Bergen Lêlûn und Xastiyan ist für seine fruchtbare Erde bekannt. Seit Jahrtausenden wird sie landwirtschaftlich bestellt, bis heute. In der Region Efrîn fließen zwei große Flüsse, der »çemê Efrînê« (Fluss Efrîn) und der »ava reş« (schwarzes Wasser). In ganz Efrîn sind sehr alte historische Stätten zu finden, aufgrund von Ausgrabungen werden sie der hurritischen und der mitannischen Epoche und dem Römischen Reich zugeordnet. Einer der bekanntesten Orte ist die Zitadelle Nebî-Horî am Fluss Efrîn mit einem Amphitheater, heute sind nur noch Ruinen übrig. Auch die Region Cindirêsê mit ihren Hügeln weist Spuren auf, die den Epochen der Mitanni, Alexanders des Großen und des Römischen Reichs zugeschrieben werden.

Das Erdreich Efrîns ist für jegliche Landwirtschaft bzw. Aussaat geeignet. Es werden alle Obst- und Gemüsesorten gepflanzt. Die Region ist reich gesegnet mit Wasserquellen, sowohl unter- als auch überirdisch. Der Fluss Efrîn fließt auf einer Länge von 55 Kilometern durch das Tal. In ganz Syrien ist Efrîn eine der regenreichsten Regionen. Die Jahresniederschlagsmenge beträgt hier 500 bis 660 Millimeter.

Nach der Bilanz des an die demokratische Selbstverwaltung Efrîns angebundenen Ministeriums für Agrar- und Landwirtschaft wurden im Jahr 2015 im Kanton 127.000 Hektar bewirtschaftet.
Hauptanbauprodukt sind Oliven. Neben den Olivenbäumen werden noch Obst und Getreide angebaut. In der ganzen Region wurden 77.000 Quadratmeter mit Olivenbäumen bepflanzt, insgesamt ca. 18.000 Stück.

Dank des reichen Bodens bzw. der Landwirtschaft und Subsistenzstrategie wurden die Daesch-Angriffe abgewehrt und das verhängte Embargo gebrochen. Die Subsistenzwirtschaft, d. h. das Bestehen aus sich selbst heraus, ist dafür genauso von Bedeutung wie die Selbstverwaltung und die legitime Selbstverteidigung. Es ist wichtig, dass die Menschen selbst neue wirtschaftliche und autonome Projekte schaffen.

Die Situation Efrîns ist in den letzten sechs Jahren aufgrund des Chaos in Syrien eine besondere. Es wurde und wird vom Baath-Regime und türkeinahen und von dieser unterstützten Kräften angegriffen und umzingelt. Ein Embargo ist seit 2014 verhängt. Die Angriffe der Türkei auf den Kanton sind nichts Neues. Seit der Revolution in Rojava – jetzt der Demokratischen Föderation Nordsyrien – sieht die Türkei dessen Errungenschaften als Gefahr für sich. Immer noch werden ZivilistInnen, die sich nahe der Grenze der alltäglichen Arbeit und dem Ackerbau widmen, vom türkischen Militär beschossen, dutzende getötet.

Eine Antwort auf die Angriffe und das Embargo ist die Weiterentwicklung der ökonomischen Projekte. Eines der in der Region entwickelten Projekte ist der Gemüseanbau im Gewächshaus. Um die Kollektivität der Bevölkerung zu fördern, wurden viele verschiedene Kooperativen gegründet. Momentan gibt es davon im Kanton Efrîn Hunderte – Bau-, Agrar-, Schneidereikooperativen, Betriebe für Textilien-, Oliven-, Seife-, Wasser-, Chips-Verarbeitung etc. Was die Region gebraucht und verbraucht, wird aus eigenen Ressourcen erzeugt. Eine autarke Ökonomie wird realisiert.

Seit Jahrzehnten greift das unterdrückerische Baath-Regime die KurdInnen gezielt mit seiner Politik der Assimilation und Ausbeutung an, die kurdische Sprache, Kultur und Identität sollen verleugnet werden. So versucht es das Nationalstaatssystem – ein Staat, eine Flagge, eine Religion – zu vertiefen und zu festigen.

Das Resultat dieser praktizierten Nationalstaatsmentalität führte in Rojava zu Widerstand. Die Revolution ergriff alle gesellschaftlichen Bereiche, wie auch die Sprache. In Efrîn wurde ein Bildungssystem aufgebaut und sämtliche Schulen wurden geöffnet. Es ist das erste Mal, dass hier die SchülerInnen das Schreiben und Lesen in ihrer Muttersprache lernen.

Die Bildungsarbeit für die kurdische Sprache wird vom Saziya Zimanê Kurdî (SZK), dem Institut der kurdischen Sprache, organisiert. In allen Orten werden Kurse für AnalphabetInnen gegeben, für das Lesen- und Schreibenlernen in Kurmancî-Kurdisch mit lateinischem Alphabet, für Fortgeschrittene und angehende Lehrende. Tausende, darunter Jugendliche und Kinder, haben diese Kurse besucht. Die erste kurdischsprachige Schule in Rojava wurde im Dorf Diraqliyê im Bezirk Şera in Efrîn eröffnet.

Mit der Deklaration der autonomen Selbstverwaltung wurden die kurdische und die arabische als offizielle Sprachen anerkannt. Das Bildungssystem ist eines der Grundprinzipien der Demokratischen Nation.

Des Weiteren wurde im Kanton die erste Fakultät für kurdische Sprache und Literatur unter dem Namen »Şehîd Viyan Amara« eröffnet. Mittlerweile können Studierende an der Universität sieben Studiengänge wie Ingenieurswesen, kurdische Literatur, Wirtschaftslehre, Medizin, Agrarwissenschaft und Journalismus belegen.

Aufgrund des historisch einmaligen Widerstands sind die Pläne zur Vernichtung der kurdischen Gesellschaft und aller unterdrückten Gesellschaften physisch, kulturell und historisch ins Leere gelaufen.

Mit Beginn der Revolution am 19. Juli 2012 wurde im Westen Kurdistans das System der Selbstverteidigung etabliert, das auf dem Recht auf legitime Selbstverteidigung fußt. Es wird von der Gesellschaft getragen und fungiert nach ihrem Willen. Bei diesen bewaffneten Kräften handelt es sich um die Volks- und die Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ), die Sicherheitskräfte (Asayîş), die Zivilen Selbstverteidigungskräfte (HPC) und die Kräfte der »Pflicht zur Selbstverteidigung«, die koordiniert agieren.

Mit den Verteidigungskräften, dem Willen zum Widerstand, den Errungenschaften, der Selbstverwaltung und dem Neuaufbau in allen Bereichen wurde Efrîn zu einem der sichersten Orte in Syrien. Heute ist es trotz des Embargos Zufluchtsort für Tausende von Binnenflüchtlingen. 2014 wurde aufgrund der großen Fluchtbewegung das Camp Rûbar im Gebiet Şêrewa aufgebaut, dort wurden mehr als 400 Familien untergebracht. Durch den andauernden Krieg kamen immer mehr Flüchtlinge in die befreiten Gebiete Efrîns, so dass die autonome Selbstverwaltung ein weiteres Camp errichtete. Das Lager Şehba liegt in der Ortschaft Dêrcemal, dort leben zurzeit mehr als 240 Familien.

Der Arabische Rote Halbmond und die internationalen Hilfsorganisationen haben bis jetzt keine Stellung bezogen zur Fluchtbewegung in Efrîn bzw. keine Hilfe geleistet. Wie bei allen anderen Angelegenheiten wird die Selbstverwaltung auch hier mit der Situation alleingelassen. Zwischen dem Krieg und dem Systemaufbau, womit Efrîn beschäftigt ist, werden Strukturen für die Binnenflüchtlinge geschaffen.

Man kann sagen, dass sich die Bedeutung der schöpferischen Natur bis heute wie ein roter Faden durch die Geschichte Mesopotamiens zieht. Sie diente zum Schutz vor menschengemachten Katastrophen, Kriegen. Die Menschen in diesen Siedlungen leben im Einklang mit der Natur und nehmen ihr nicht die Kraft, sich selbst zu erneuern. Wichtiger denn je ist der Schutz der Natur, auf deren Grundlage freie Strukturen aufgebaut werden. Um nachhaltig Schutz gewähren zu können, bedarf es des Bewusstseins über alternative Ökologie, das sich mehr auf die Natur bezieht, und das ist nur durch die Sensibilisierung und die Schaffung einer ökologischen Gesellschaft möglich.