Altstadt von Amed/Diyarbakır (Suriçi)

Anatomie einer Zerstörung

Ercan Ayboga, Plattform »Nein zur Zerstörung von Sur, Diyarbakır«

Nachdem Suriçi – Teil der UNESCO-Welterbestätte »Festung von Diyarbakır und Kulturlandschaft Hevselgärten« – im Winter 2015/2016 Schauplatz von Kämpfen zwischen kurdischen RebellInnen und türkischen Staatskräften war, wird die Altstadt systematisch vom türkischen Staat zerstört. Durch Enteignung wird die politisierte kurdische Bevölkerung vertrieben und das Gebiet kommerzialisiert. Von der Gentrifizierung ist auch das angrenzende Tigristal betroffen.

Diyarbakır – heute auch Amed genannt – ist mit seiner geopolitisch wichtigen Lage am Tigris seit mehr als 4.000 Jahren eine Stadt, die von einer Reihe östlicher und westlicher Zivilisationen beherrscht wurde. Sie diente für viele politische Kräfte als regionales Zentrum. Der älteste archäologisch gesicherte Fund in der Zitadelle reicht 7.000 Jahre zurück, die Stadtmauer wurde vor mindestens knapp 3.000 Jahren errichtet. Zwischen der Festung und dem Fluss erstrecken sich die auf einer ebenso großen Fläche angelegten Hevselgärten, die seit 3.000 Jahren die Stadt mit Gemüse und Obst versorgen.

Erst 1988 wurde die ummauerte Altstadt – auch Suriçi genannt – unter Denkmalschutz gestellt, als aber schon über 80 % der Gebäude weitgehend durch neue ersetzt waren. Mit ihrem mehrsprachigen, multikulturellen und vielschichtigen Charakter wurden innerhalb der Festung 595 Bauwerke unter Denkmalschutz gestellt. In den 1990er und 2000er Jahren wuchs Amed äußerst schnell, doch behielten die Altstadt und das Tigristal mit den Hevselgärten ihre Eigenschaft als Quelle der Kultur und identitätsstiftendes Element. Gerade deswegen begann 2011 unter Federführung der Zivilgesellschaft, der sich die Kommunalverwaltungen der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) und der Demokratischen Partei der Völker (HDP) umgehend anschlossen, eine Initiative, die zur Aufstellung eines demokratisch-partizipativ beschlossenen »Suriçi-Erhaltungsplans« im Jahre 2012 führte. Diese breit getragene Initiative wurde damals von der türkischen Regierung unterstützt und so wurde Anfang Juli 2015 die »Festung von Diyarbakır und Kulturlandschaft Hevselgärten« in die Liste der UNESCO-Welterbestätten aufgenommen. Die Freude über diesen Erfolg in und um Diyarbakır war sehr groß.

Der Krieg kommt nach Suriçi

Doch am 24. Juli 2015 war der Waffenstillstand zwischen dem türkischen Staat und der ArbeiterInnenpartei Kurdistans (PKK) vorbei, als die Armee die Guerilla umfassend angriff. Sofort ging eine große Repressionswelle los, woraufhin die politisch organisierten Jugendlichen in mehreren Städten Barrikaden errichteten. Darauf antwortete die türkische Polizei umgehend mit groß angelegten Operationen in Verbindung mit mehrtägigen 24-stündigen Ausgangssperren. Das passierte auch in der Altstadt von Amed. Von Anfang September bis Mitte Oktober 2015 gab es mehrere Polizeieinsätze mit Ausgangssperren, in deren Folge jedes Mal mehrere Menschen starben, tausende ZivilistInnen die Altstadt verließen und auch Monumente zu Schaden kamen. Jedes Mal wurden die Angriffe härter, der Widerstand aber auch stärker. Am 2. Dezember 2015 begann eine bis heute andauernde Ausgangssperre, sie wurde nur am 11. Dezember 2015 für knapp einen Tag unterbrochen, was zu einer Massenflucht aus dem östlichen Suriçi führte. Denn dieses Mal griff der Staat mit Militär, Panzern, Mörsern und anderen schweren Waffen an, wie auch in den Städten Cizîr (Cizre) und Silopiya (Silopi).Suriçi vor den Zerstörungen

Zerstörung und Vertreibung

Weil der türkische Staat einen schnellen Erfolg wollte, bombte er sich im Ostteil Suriçis seinen Weg im wahrsten Sinne des Wortes frei. Zwar hatte Suriçi nicht mehr so viele historische Gebäude, aber das historische enge Straßennetz war nach wie vor intakt. Bei diesem Vorgehen war der Befehl erteilt worden, vor historischen Gebäuden und wichtigen Monumenten nicht haltzumachen. Der Lebensraum von über 22.000 Menschen in sechs Stadtteilen – 57.000 hatten vor dem Konflikt in Suriçi gelebt – wurde ernsthaft beschädigt. Anfangs hatten noch bis zu 3.000 ZivilistInnen im belagerten Osten ausgeharrt, um so ein gewaltsames Vordringen des Staates zu verhindern, doch wurde auf sie absolut keine Rücksicht genommen und auch ihre Häuser wurden in dem Wissen, dass sich dort Menschen aufhielten, beschossen. Außerhalb der Altstadt versammelten sich jeden zweiten Tag Tausende, um gegen den Zerstörungs- und Tötungswahn zu protestieren, was jedes Mal im Keim erstickt wurde. Noch nie war in der Geschichte Ameds so viel Tränengas verschossen worden, insgesamt wurden bei Demonstrationen elf Jugendliche von ScharfschützInnen gezielt ermordet. Amed gleicht seitdem einer belagerten Stadt.

Die Polizei- und Militärkräfte nutzten auch die Festung für ihren systematischen Beschuss der Stadtteile mit schweren Waffen. Dabei wurde sie bewusst beschädigt, indem zum Beispiel Stangen metertief in die Mauer einbetoniert wurden. Toiletten wurden auf die Burg gebracht und das Abwasser floss offen über die Stadtmauer hinunter, die Spuren waren aus hunderten Metern zu sehen. Es wurden Anbauten an die Festung angebracht und die kleinen Durchgänge zubetoniert, wofür erst im Nachhinein Genehmigungen von der zuständigen regionalen Denkmalschutzbehörde eingeholt wurden. Hier ist zu erwähnen, dass die Festung direkter Bestandteil des UNESCO-Welterbes ist, während die Altstadt zur Pufferzone gehört.

Nach den Kämpfen – die eigentliche Zerstörung beginnt

Die Militäroperationen wurden offiziell am 10. März 2016 abgeschlossen. Der Staat verkündete zynisch seinen Erfolg, doch das Ergebnis war neben der physischen Zerstörung oder Beschädigung hunderter Gebäude und der Vertreibung Zehntausender auch der Tod von mindestens 25 ZivilistInnen und von KämpferInnen beider Seiten in dreistelliger Zahl.

Während die Mehrheit der Bevölkerung und der Öffentlichkeit davon ausging, dass nun die Vertriebenen zurückkehren und die Schäden behoben werden könnten, dachte die türkische Regierung überhaupt nicht daran und wollte Suriçi aus ihrer Sicht ein für alle Mal dauerhaft widerstandsunfähig machen. Als Erstes wurde die Ausgangssperre über die sechs Stadtteile im Ostteil Suriçis aufrechterhalten. Gleich danach am 21. März 2016 fasste die Regierung den Beschluss, die gesamte Altstadt zu enteignen. Da 18 % ohnehin staatlichen Behörden gehörten, sollten 82 % von Suriçi – einschließlich aller Moscheen, Kirchen und anderer Monumente – enteignet werden. Daraufhin bildete sich die Sur-Schutzplattform unter Beteiligung fast aller Kommunalverwaltungen und zivilgesellschaftlicher Organisationen, um gegen die angekündigte Zerstörung Widerstand zu organisieren.

Zwar fuhren seit Dezember 2015 täglich viele LKWs mit Schutt aus Suriçi heraus, doch erst ein von der Provinzverwaltung in Auftrag gegebenes Satellitenphoto vom 10. Mai 2016 zeigte das Ausmaß der weitergehenden Zerstörung. Zehn Hektar waren komplett dem Erdboden gleichgemacht und ermittelte 832 Gebäude ganz und 257 Gebäude teilweise zerstört. Die systematische Zerstörung wurde so begonnen, dass an einigen Straßen beidseitig Gebäudereihen abgerissen wurden, um leichten Zugang zu allen Gebieten Suriçis zu bekommen. Es wurde klar, dass der Staat zumindest den gesamten östlichen Teil Suriçis völlig zerstören wollte. Er ließ nur Teams hinein, die eben diese Zerstörung und das Abtragen des Schutts durchführen sollten.Satellitenphoto vom 16. Mai 2016

Schweigen der UNESCO

Seit Beginn der Kämpfe und Zerstörungen hat das UNESCO-Welterbestättenmanagement von Amed, angesiedelt bei der DBP-/HDP-regierten Provinzverwaltung, immer wieder dem Kultusministerium geschrieben und ein Eingreifen zum Stopp der Zerstörung der Kulturgüter und Bebauung und die umgehende Entsendung einer gemeinsamen Mission in die Altstadt gefordert. Nur ein Mal kam eine Antwort und diese beschwichtigte nur. Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der UNESCO hatte das Welterbestättenmanagement keinen Zugang zum Welterbe selbst! Das Welterbestättenmanagement verfasste Berichte, die es auf eigene Untersuchungen vor Ort – soweit es möglich war – sowie auf Nachrichten und Bilder anderer stützte. Erst nach Erhalt dieser wichtigen umfangreichen Berichte hat das UNESCO-Welterbekomitee reagiert und von dem bis dahin schweigenden türkischen UNESCO-Botschafter Auskunft verlangt.

Das UNESCO-Welterbekomitee reagierte sehr zurückhaltend, als der türkische UNESCO-Botschafter die ersten Berichte einreichte, und hielt sich mit Kritik und Forderungen zurück – es wurde nur appelliert. Seine zwanzig Mitglieder hatten nur im Sinn, keine diplomatischen Konflikte zu riskieren. Denn damit drohte ihnen die türkische Regierung indirekt, wenn die Türkei wegen ihres Vorgehens von einem oder mehreren Mitgliedern kritisiert werden würde. Das spiegelte sich wider auf der vierzigsten Sitzung des UNESCO-Welterbekomitees Anfang Juli 2016 in Istanbul. Trotz aller Bemühungen des Welterbestättenmanagements von Amed wagte keines der zwanzig Mitglieder auch nur den Mund aufzumachen – einige sagten ganz offen im Vieraugengespräch, dass die Türkei ihnen mit Konsequenzen gedroht habe. Da stellte sich zurecht den KurdInnen und kritischen Menschen in der Türkei die Frage, wozu es denn die UNESCO gebe, wenn sie wie im Falle Ameds nicht eingreift. Es ist nichts Neues, dass einige Welterbekomitees Welterbestätten in ihren Staaten bei unangenehmer Thematisierung durch andere indirekt mit Konsequenzen drohten. Doch hier handelt es sich um die systematische und umfangreiche Zerstörung einer eigenen Welterbestätte durch ein Mitglied. Ein solch skandalöses Verhalten hatte das UNESCO-Welterbekomitee bis dahin nie gezeigt.

Auch bei der 41. Sitzung des UNESCO-Welterbekomitees im polnischen Krakow Anfang Juli 2017 wiederholte sich das gleiche Szenario. Kein Mitglied des Welterbekomitees äußerte Kritik am Vorgehen der Türkei, von ihr wurde nur ein Masterplan für die Zukunft Suriçis und bis Ende 2018 ein Bericht zur Lage verlangt. Das wird die Türkei in irgendeiner verschönerten Form ohne Bezug zur Realität liefern. Doch dann könnten auch der Westen Suriçis und das Tigristal weitgehend zerstört sein.

Ausmaß der Zerstörung

Im August 2016 offenbarte ein zweites Satellitenphoto, dass die Zerstörung mit aller Brutalität weiterging. Jetzt waren schon 20 Hektar und 1519 Gebäude völlig zerstört. Damals war der Ausnahmezustand in der Türkei neu ausgerufen worden und die Maschinerie zur intensivierten Repression gegen die KurdInnen setzte ein. Im September 2016 wurden per Erlass alle Denkmalschutzstättenmanagements direkt dem Kultusministerium unterstellt, womit die Provinzverwaltung Ameds nicht mehr für die UNESCO-Welterbestätte zuständig war. Denn die mit fundierten Berichten unterfütterte Kritik aus Amed störte die türkische Regierung. Einen weiteren Monat später wurden die Ko-BürgermeisterInnen der Provinzverwaltung festgenommen und eine Woche später, Anfang November 2016, wurde die Provinzverwaltung unter Zwangsverwaltung gestellt. Weitere Wochen später wurden Dutzende Vereine in Amed geschlossen, darunter auch viele, die sich gegen die Zerstörung von Suriçi starkgemacht hatten.Satellitenfoto von August 2016

Mit dem Beschluss zur Enteignung Suriçis behauptete die türkische Regierung anfangs, Suriçi werde nach dem Erhaltungsplan von 2012 wieder aufgebaut. Dass es von Anfang an eine Lüge war, zeigte sich, als der Zwangsverwalter im Dezember 2016 diesen Plan nach den Interessen des Staates änderte. Seine alleinige Unterschrift reichte dafür aus, der Stadtrat wurde ohnehin nicht mehr einberufen.

Durch diese extreme Unterdrückung der Gesellschaft konnte Ende 2016 kein drittes Satellitenphoto von der Provinzverwaltung in Auftrag gegeben werden. Nur noch aus den landenden und aufsteigenden Flugzeugen und von staatlichen Bediensteten geschossene und der Öffentlichkeit zugespielte Bilder vom Frühjahr 2016 und die vorangegangenen Satellitenphotos dienten zur Feststellung, dass im Mai 2017 etwa 35–40 Hektar Fläche in Suriçi komplett vernichtet waren. Dies dürfte bei zurückhaltender Schätzung mindestens 2.500 Gebäuden entsprechen, eine genaue Zahlenangabe ist momentan nicht möglich. Auch wenn die Zerstörung im östlichen Suriçi langsamer vorangegangen ist, dürfte die Zerstörung vielleicht um weitere zehn Prozent zugenommen haben. Von der »Plattform Nein zur Zerstörung von Sur« wird angenommen, dass am 10. März 2016 höchstens 300–400 Gebäude so weit zerstört waren, dass sie nicht mehr bewohnbar waren. Das wären etwa zehn bis fünfzehn Prozent der heute zerstörten Gebäude.Luftbild vom 4. Mai 2017

Die systematische Zerstörung durch Baumaschinen im Osten Suriçis im Anschluss an den bewaffneten Konflikt hat nicht vor denkmalgeschützten Gebäuden haltgemacht. Das Satellitenphoto vom August 2016 lässt erkennen, dass 89 denkmalgeschützte Bauwerke komplett, 40 teilweise zerstört und 41 ernsthaft beschädigt waren. Das entspricht 29 % aller Denkmäler in Suriçi. Bei diesen Bauten handelt es sich neben Kirchen und Moscheen auch um Wasserbrunnen, Mausoleen, Bäder (Hamams), eine Synagoge und ein öffentliches Gebäude. Das berühmteste komplett zerstörte Denkmal ist die Hasırlı-Moschee. Unter den teilweise zerstörten Denkmälern sind unter anderem: die Kurşunlu-Moschee, die zum Sinnbild der Zerstörung kulturellen Erbes Ameds geworden ist, die Şeyh-Mutahhar-Moschee, das Paşa-Hamam, die größte armenische Kirche, die Surp-Giragos-Kathedrale, und ihre angrenzenden und ebenfalls denkmalgeschützten Geschäfte und die armenische katholische Kirche.Teilweise zerstörte Kurşunlu-Moschee

Beim Zerstörungsprozess gab es absolut kein Bestreben, historisch-authentische Bauelemente und -figuren an denkmalgeschützten Gebäuden zu schützen. Auch wurde vor dem Abtragen von Schutt nicht kontrolliert, ob historisch-authentische Bauelemente und -figuren zu retten seien. Bisher ist zumindest weder vom türkischen Kultusministerium noch von der eigens eingerichteten Sur-Wissenschaftskommission bekannt gegeben worden, ob solche Elemente gerettet werden konnten. Die Sur-Wissenschaftskommission, deren Mitglieder gegenüber der Regierungspolitik der letzten fünfzehn Jahre unkritisch aufgetreten sind, gab stattdessen bekannt, dass die PKK systematisch Bombenfallen in den Denkmälern installiert habe und dies zur Zerstörung all dieser Denkmäler geführt habe. Es ist in der Türkei angesichts des starken Nationalismus und der Dominanz der AKP-Regierung nicht das erste »wissenschaftliche Gremium«, das von der türkischen Regierung eingesetzt wurde und in ihrem Sinne geurteilt hat.

Neben der physischen Zerstörung ist es sehr wichtig zu erwähnen, dass in der Hälfte Suriçis die Kontinuität einer spezifischen und authentischen Gemeinschaft und das Leben zehntausender Menschen vernichtet wurden. Das charakteristische Handwerk und die Handelsstruktur von Suriçi sind ebenfalls verloren gegangen. Seit 2000 gab es etliche Bemühungen und Projekte, untergegangene Kultur wiederzubeleben, vor allem die der ArmenierInnen und AssyrerInnen, die 1915 einem Genozid ausgesetzt waren. Eine an diesem Ort für mindestens 4.000 Jahre ununterbrochen herrschende Lebensform und Kultur wurde von einem »modernen Staat« in der Manier der Mongolenstämme von vor 600, 700 Jahren mit einem Mal vernichtet.armenisch-katholische Kirche nach der Zerstörung

Die Enteignung ist im weitgehend zerstörten Ostteil der Altstadt abgeschlossen worden. Die HausbesitzerInnen wurden mit geringen Beträgen abgespeist. Sie konnten sich kaum wehren, weil die Enteignung nach dem berüchtigten, für Krieg und Ausnahmezustand vorgesehenen, Paragrafen 27 des Enteignungsgesetzes durchgeführt wurde und der verbreitete Staatsterror sie auch vom Einfordern ihrer Rechte abhält. Die MieterInnen sind wie bei allen Enteignungen in diesem Staat leer ausgegangen und ihre Lebensgeschichte in dem jeweiligen Umfeld wird für unbedeutend gehalten; ihnen wurden nur einmal 1500 Euro für die Inneneinrichtung angeboten, was viele ablehnten, weil es weit unter ihrer Forderung liegt und sie es daher als Beleidigung betrachten.

Zerstörung und Vertreibung auch im Westen Suriçis

Nachdem die Zerstörung im östlichen Suriçi im Frühjahr 2017 überwiegend abgeschlossen war, hat der türkische Staat angefangen, die Menschen aus dem Südwesten der Altstadt zu vertreiben. 500 Familien aus den Stadtteilen Lalebey und Ali Paşa wurde im Mai 2017 mitgeteilt, dass sie innerhalb von zwei Wochen ihre per Dekret enteigneten Häuser zu verlassen hätten. Mit diesem Schritt ist der Staat dazu übergegangen, den Westen Suriçis anzugreifen. Vom Plan, ganz Suriçi zu enteignen und im eigenen Sinne umzugestalten, ist er somit nicht abgerückt – das hatten viele zeitweise angenommen. Er geht nur in kleinen Schritten vor, um nicht gleich die ganze Bevölkerung gegen sich aufzubringen bzw. die Menschen gegeneinander ausspielen zu können. Im Westen sind die Bevölkerungsdichte und Geschäftstätigkeit höher. Doch im Südwesten verhält es sich wie im Osten, nur wenige Gebäude haben mehr als zwei Stockwerke. Der Grund, hier den Westen Suriçis anzugreifen, liegt auch darin, dass vor mehreren Jahren mit einem Projekt der Provinzverwaltung dieses Gebiet baulich neu gestaltet werden sollte, ohne die Bevölkerung zu vertreiben. Der Staat und der lokale Zwangsverwalter beziehen sich darauf und meinen, dass sie es doch nun umsetzen würden. Doch Tatsache ist, dass die Provinzverwaltung auf die Bevölkerung einging und das scharf kritisierte Projekt stoppte, als die berechtigte Kritik heftig in der Öffentlichkeit geäußert wurde.

Die Bevölkerung der Stadtteile Lalebey und Ali Paşa hat sich auf ihren starken sozialen Zusammenhang berufen, angefangen sich zu wehren und sowohl von der angrenzenden Bevölkerung als auch von vielen lokalen Zivilorganisationen aktiv Unterstützung erhalten. Sogleich bildete die Zivilgesellschaft die »Plattform Nein zur Zerstörung von Sur« und organisierte Öffentlichkeitsarbeit in Amed und in der ganzen Türkei. Trotzdem zwei Mal Baumaschinen anrückten, konnten die Gebäude nicht zerstört werden, und der anbrechende Ramadan führte dazu, dass sich der Staat zurückhielt. Erst Mitte Juli 2017 begann er, die seit Jahren unbewohnten und halb zerstörten Gebäude direkt unterhalb der Häuser der 500 Familien abzureißen und diesen so näher zu kommen. In den kommenden Tagen und Wochen kann es zur großen Auseinandersetzung kommen. Hier kann sich entscheiden, ob dem Staat in Suriçi endlich Grenzen in seinem Zerstörungswahn gesetzt werden können.

Im Frühjahr 2017 hat der Staat, genauer gesagt das Ministerium für Umwelt und Urbanisierung, die ersten der seit langem angekündigten Gebäude in Suriçi zu bauen begonnen. Diese neuen Häuser sind zwar zweistöckig und optisch mit dem für Amed typischen schwarzen Basaltstein versehen, doch ein genauer Blick zeigt, dass sie alle aus Beton gebaut und nur mit einer dünnen Schicht Basaltstein abgedeckt werden. Hinzu kommt, dass die neuen Straßen breit angelegt sind und damit die frühere Straßenstruktur völlig ignoriert wird, dass der Abstand jedes Hauses zur Straße mehrere Meter beträgt und dass sie für teures Geld verkauft werden sollen. Diese Häuser haben absolut nichts gemein mit den typischen Amed-Häusern, die immer einen von Wohnräumen umgebenen Innenhof haben. Außerdem widerspricht es allen möglichen Prinzipien vom Wiederaufbau historischer Stadtkerne und den Vorgaben der UNESCO. Das ist die konkrete Vorgehensweise des Staates, die frühere ärmere Bevölkerung soll nie wieder hierher zurückkehren. Mit dem Label UNESCO-Welterbe und der zweifellos einzigartigen Lage werden die Häuser bestimmt für erhebliche Summen verkauft werden. Damit würde der Kommerzialisierung dieses Areals nichts mehr im Wege stehen.neue Häuser im Ostteil der Altstadt

Tigristal auch betroffen

Das kommerzielle Interesse der AKP-Regierung ist nicht nur auf Suriçi beschränkt. Kurz nach der Änderung der Pläne für die Altstadt hat das Ministerium für Umwelt und Urbanisierung zusammen mit dem Zwangsverwalter von Amed den alten Plan für das Tigristal im Stadtbereich wiederbelebt. Der war nach einem langen politischen und juristischen Kampf der Zivilgesellschaft und der Kommunalverwaltungen Ameds im Frühjahr 2015 endgültig abgeschlagen worden. Das als Pufferzone der Welterbestätte definierte Tigristal findet seit Jahren das Interesse nicht nur des Staates, auch größere Unternehmen würden hier gern große Freizeitanlagen, Geschäfte und Häuser für Reiche bauen. Dieser neu-alte Plan sieht eben dieses vor. Zwar soll der Kern der Hevselgärten, die UNESCO-Welterbe sind, nicht bebaut werden, aber alles andere drumherum. Im März 2017 ließ der Zwangsverwalter mit dem Bau einer Moschee an der historischen Brücke über den Tigris (Zehn-Augen-Brücke) beginnen, was der Startschuss für weitere umliegende Bauwerke wurde. Dann wurden zwei Durchgänge der Brücke für Cafés einfach zugeschüttet, was im Normalfall ein großer Skandal wäre. Jetzt werden entlang des Tigris Lizenzen für Dutzende Cafés erteilt. Das alles geschieht auf Beschluss des Zwangsverwalters oder Ministers mit einer Unterschrift, der eigentlich zuständige Stadtrat wird ohnehin seit November 2016 nicht mehr einberufen. Die viel größeren Bauwerke auf einer Länge von zehn Kilometern sind gerade in Vorbereitung. Deren Realisierung wird Tausende Menschen, die im Tal in einfachen Behausungen leben, zweifellos vertreiben, da sie für den anvisierten Profit ein Hindernis darstellen. Das ist nichts als großflächige Gentrifizierung, was unter der DBP/HDP unmöglich gewesen war.neue Bebauung an der historischen Zehn-Augen-Brücke

Ausblick

Sowohl für Suriçi als auch das Tigristal gilt es aus Sicht des Staates und all seiner Einrichtungen, die geplanten Zerstörungen und Bebauungen bis zu den Kommunalwahlen im März 2019 weitgehend zu vollenden. Dann werden höchstwahrscheinlich die DBP/HDP die Wahlen wieder gewinnen. So sollen bis dahin unumkehrbare Tatsachen geschaffen werden: a) Zerschlagung von organisierter Bevölkerung in Suriçi, b) Zerstörung von für den türkischen Nationalismus nutzloser Geschichte und kulturellem Erbe, c) Kommerzialisierung Suriçis und des Tigristals, womit ein Teil der Ausgaben für die Aufstandsbekämpfung wieder eingespielt wird und die lokalen AKP-UnterstützerInnen bedient werden, d) die ab 2019 die Kommunalverwaltung regierende DBP vor eine Reihe großer Widersprüche stellen.

Doch bei der gesamten Bevölkerung Ameds brodelt es, was sich bei der beabsichtigten Vertreibung der 500 Familien aus Lalebey und Ali Paşa zeigt. Trotz Ausnahmezustand und äußerster Repression treten die Betroffenen nicht zurück. Dabei muss die Solidarität überall stärker werden, sonst kann der Staat diesen so wichtigen Widerstand schnell zerschlagen. Wenn der Widerstand hier Erfolg hat, kann die gesamte Entwicklung zumindest für einen längeren Zeitraum gestoppt werden. Das könnte ungeahnte positive Auswirkungen auf Amed, Nordkurdistan und sogar die Türkei haben.

Bilder © Ercan Ayboga