Die kurdische Diaspora als politische Kraft
Mobilisierung der ersten und zweiten Generation
Mari Toivanen, Doktorin der Sozialwissenschaften an der Universität Turku, Finnland
In vielerlei Hinsicht stellt die kurdische Diaspora ein Beispiel par excellence einer politisch organisierten Diaspora dar. Die Kurden, geschätzte 1,5 Millionen in Europa, davon allein 1 Million in Deutschland, treten damit als eine der größten Gruppen in der Diaspora hervor. So vergeht zum Beispiel seit 1982 bis heute kein Monat ohne eine prokurdische Demonstration. Die politische Kapazität der kurdischen Diasporaorganisationen, Zehntausende für die Straße zu mobilisieren, zeugt von dem Volumen der Organisationsstrukturen und dem assoziativen Tempo, in dem die kurdische Diaspora agiert.
Der ist es gelungen, mit diversen politischen Strategien auf die Situation der kurdischen Minderheiten in der Region aufmerksam zu machen. Über die Jahre wurde die kurdische Diaspora zudem zu einem signifikanten nichtstaatlichen Akteur, trotzdem und gerade weil sie über keinerlei offizielle politische Vertretung verfügt. Dieser Erfolg ist größtenteils auf ihren hohen politischen und ökonomischen Organisierungsgrad auf einem transnationalen Level zurückzuführen.
Die Mitglieder der kurdischen Diaspora haben etliche Organisationen, Institutionen, Vereinigungen und Zentren in verschiedenen europäischen Ländern gegründet, die auf einer länderübergreifenden Ebene basieren, über nationale Grenzen hinaus, mit einer großen Anzahl Politiker und Parteien in Europa (z. B. flämische Politiker in Brüssel) und in der Heimat. Nicht zuletzt hat auch die unermüdliche Lobbyarbeit kurdischer politischer Aktivisten in direktem Kontakt mit den Institutionen der EU und den Parteien im Europäischen Parlament dazu geführt, dass die kurdische Thematik auf der politischen Agenda weit oben steht. So ist die kurdische Frage zu einer europäischen geworden, anstatt lediglich die Länder mit kurdischen Minderheiten zu betreffen.
Die Organisation auf einem solch hohen Level ist einer der Gründe für die enorme Kapazität zur länderübergreifenden Mobilisierung und für den politischen Einfluss der kurdischen Diaspora auf die entsprechenden Staaten. Die Beziehung ist wechselseitig: Die politischen Akteure profitieren selbst auch von dem Netzwerk und den politischen Ressourcen der Diaspora. Was sicherlich interessant ist im Hinblick auf die politische Partizipation der kurdischen Diaspora, ist der Weg, den diese gewählt hat, um einen neuen politischen Raum für Engagement zu schaffen, unabhängig von staatlichen Grenzziehungen. Ihre politische Mobilisierung findet zeitgleich auch lokal (z. B. in einer Kommune), auf Landesebene (im jeweiligen Land) und supranational (EU) statt. Aus diesem Grund kann die kurdische Diaspora auch eine zentrale Rolle als politischer Akteur in den jeweiligen Ländern spielen.
Hinsichtlich einer Konfliktlösung beispielsweise nahmen Mitglieder der Diaspora aktiv an den Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Staat und der PKK bis zum letzten Sommer, als die Verhandlungen durch den türkischen Staat unterbrochen wurden, teil. Die kurdische Diaspora wurde in den Gesprächen mit der Türkei als legitimer Part, wenn auch mit sekundärer Funktion, wahrgenommen. Sie zeigte konstanten Support mittels von kurdischen Organisationen in Europa und weltweit durchgeführter Demonstrationen, Konferenzen und Seminare.
Auf ähnliche Weise rufen etliche Diasporaorganisationen den türkischen Staat zur Rückkehr an den Verhandlungstisch mit der PKK auf. Darüber hinaus gibt es eine Zusammenarbeit zwischen den Organisationen und lokalen politischen sowie zivilgesellschaftlichen Strukturen in der Türkei. So arbeitete die Diaspora während des Wahlkampfes für die Parlamentswahlen im Juni und November vergangenen Jahres effektiv über eine Mobilisierung und Rekrutierung inaktiver Diasporamitglieder für die Demokratische Partei der Völker (HDP). Sie organisierte in Zusammenarbeit mit lokalen zivilgesellschaftlichen Akteuren etliche Wahlbeobachterdelegationen in die Türkei. Einer der sichtbarsten Wege der politischen Diasporabeteiligung war die Abstimmung türkischer Staatsbürger (inklusive der Kurden) bei den Wahlen im Ausland. Die Stimmen der Diaspora spielten eine entscheidende Rolle für den Erfolg der HDP. 1,4 Millionen Stimmen wurden abgegeben, davon ca. 19 % für die HDP (mehr als für die Republikanische Volkspartei CHP). Der Einfluss der kurdischen Diaspora auf direkte Entscheidungsprozesse mittels Wahlen wird in den nächsten Jahren voraussichtlich steigen.
Die kurdische Diaspora ist ein weitaus uniformer und homogener politischer Akteur. Sie scheint durch die Repressionen des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei vereint. Vor allem in den letzten zwei Jahren gibt es Hinweise auf eine Zunahme der politischen Mobilisation innerhalb der kurdischen Diaspora in Europa als Reaktion auf die politischen Entwicklungen in der Türkei und Syrien.
Eines dieser Ereignisse ist die Einnahme von Kobanê (arab.: Ain al-Arab) durch den Islamischen Staat (IS) im September 2014. Einige Monate später erlangten lokale kurdische Truppen der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ) erfolgreich die Kontrolle über die Stadt. Diese Schlacht um Kobanê, genannt „kurdisches Stalingrad“, brachte die kurdische Frage als Resultat der medialen Aufmerksamkeit auf die internationale Agenda.
Diese medial aufbereiteten Ereignisse führten zu einer umfangreichen Solidaritätserklärung innerhalb der kurdischen Diasporagesellschaft und zu einem Punkt, den man als „Kobanê momentum“ bezeichnen kann. Zu sehen war dies besonders innerhalb der ersten, aber auch zweiten Generation der Kurden, die ihre Solidarität bekundeten und zunehmend politische Kampagnen und Wiederaufbauprojekte für Kobanê initiierten, teilweise durch Nutzung sozialer Medien. Der Fall Rojava (kurd.: „Westen“; für Westkurdistan) hat die kurdische Diaspora in Europa dazu bewegt, sich an politischen Initiativen zu beteiligen, lokale Politiker aus Rojava für Treffen mit Vertretern diverser europäischer Staaten einzuladen, Petitionen und humanitäre Projekte zu initiieren u. Ä. Diese Initiativen fokussierten sich auf den Wiederaufbau Rojavas und die Vermittlung des multiethnischen und multireligiösen basisdemokratischen Experiments der drei Kantone.
Dem Zusammenbruch der Friedensverhandlungen in der Türkei im vergangenen Sommer folgte eine Serie von Ereignissen, abzielend auf die kurdische Bevölkerung sowie generell Andersdenkende. Die im Südosten der Türkei verhängte Ausgangssperre stellt eine Kollektivstrafe des Staates gegen die eigenen Staatsbürger dar. Auch die Inhaftierung von zwei Journalisten der Cumhuriyet, Can Dündar und Erdem Gül, sowie das harte Durchgreifen gegen Akademiker, die Anfang des Monats eine Petition für Frieden unterzeichneten, zeigen das Entstehen eines klaren Repressionsmusters des türkischen Staates gegen die Opposition und andersdenkende Stimmen seit dem vergangenen Sommer. Die Bombenanschläge von Suruç (kurd.: Pîrsûs) und Ankara – deren Opfer waren mehrheitlich linke Aktivisten – und das Attentat auf den Vorsitzenden der Anwaltskammer Diyarbakır (kurd.: Amed), Tahir Elçi, sind weitere Beispiele für die Gewaltspirale im Land. Die kurdische Diaspora in Europa reagierte darauf unverzüglich.
Wir können davon sprechen, dass die kurdische Diaspora sich in den letzten drei Jahrzehnten durch aktive Lobbyarbeit, Kampagnen und die Etablierung kurdischer Institutionen und Netzwerke erfolgreich in einen politischen Akteur transformiert hat: Sie hat ihren eigenen politischen Aktionsradius formiert. Doch kann die Rolle der kurdischen Diaspora in der EU und auf nationaler Ebene als ein legitimer politischer Akteur in der Konfliktlösung und Friedensbildung in der Türkei weiter verstärkt werden.
Es ist unabdingbar, Unterstützung (finanziell wie anderweitig) für die Diasporaorganisationen zu sichern, die für eine Konfliktlösung und Etablierung einer Zivilgesellschaft in der Türkei arbeiten. Partnerprogramme, die auf Kooperation zwischen Diasporaorganisationen, zivilgesellschaftlichen Akteuren im Gastland und politischen Akteuren in der Heimat basieren, erlauben den Diasporaorganisationen, ihren Einfluss auf den Demokratisierungsprozess zu verstärken. In diesem Zusammenhang spielen Jugend- und Frauenorganisationen eine signifikante Rolle. Die jüngsten Ereignisse haben auch zu einer Mobilisierung der zweiten Generation und deren zunehmender Beteiligung an Basispolitik in der europäischen Zivilgesellschaft und dem kurdischen Aktionsradius geführt, u. a. durch Zirkulation von Qualitäten und Kompetenzen zwischen den kurdischen Regionen und den Ländern in Europa, in denen sie geboren sind. Der Partizipation der Diaspora an der Konzipierung lokaler basisdemokratischer Initiativen, nicht nur in der Türkei, sondern auch in Rojava, sollte mehr Nachdruck verliehen werden.
Im Hinblick auf zivile und politische Partizipation ist es wichtig, den nationalen Besonderheiten innerhalb der EU beim Skizzieren von diasporaorientierten Programmen Aufmerksamkeit zu schenken. Jüngste Studien haben gezeigt, dass die Möglichkeiten politischer Partizipation für die kurdische Diaspora stark vom institutionellen Kontext des jeweiligen Staates abhängen. Der nationale Kontext ist in puncto Kriminalisierung politischer Aktivitäten der Kurden in den EU-Mitgliedsstaaten signifikant unterschiedlich. Das behindert ernsthaft die zivilen und politischen Freiheiten, die Bürger dieser Staaten genießen dürfen sollten, und steht in Kontrast dazu.
Schlussendlich, vielleicht auf einem eher symbolischen Level, sollten die EU und ihre Mitgliedsstaaten dringend den türkischen Staat ermutigen, an den Verhandlungstisch mit der PKK zurückzukehren, und den Staatsterror in der Türkei verurteilen. Das relative Schweigen der europäischen Staaten zu den Entwicklungen im Südosten der Türkei ist niederschmetternd. Eine Verurteilung des Staatsterrors wäre nicht nur eine Botschaft an den türkischen Staat, sondern auch eine Geste gegenüber der großen kurdischen Community in Europa.
Tagtäglich verschärft sich die Sicherheitslage in der Türkei. Das bedeutet, dass die kurdische Diaspora auch in naher Zukunft eine wichtige Rolle spielen und erneut der primäre Akteur sein wird, um politische Botschaften an eine breite europäische Öffentlichkeit zu befürworten und zu verbreiten. Allerdings kann die Diaspora im Prozess einer politischen Lösungsfindung für die kurdische Frage in der Türkei eine wichtige Rolle spielen, sowohl durch Lobbyarbeit auf nationaler und europäischer Ebene sowie vermehrte Allianzen mit Parteien und Organisationen auf lokaler Ebene in Europa als auch durch Repräsentation in basisdemokratischen regionalen Initiativen. Solche Anstrengungen können und müssen unterstützt werden.