Massenproteste gegen Korruption und Vetternwirtschaft

Quo vadis, Südkurdistan?

Halit Ermiş, ANF

Die letzten Tage und Wochen in Südkurdistan sind von Demonstrationen, Aufständen gegen die Regierung, Schulboykotten und Arbeitsniederlegungen der BeamtInnen geprägt. Die Reaktion der südkurdischen Regierung, allen voran der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), ist mehr als rabiat. Mit äußerster Brutalität wird gegen die demonstrierenden Menschen vorgegangen. Die Polarisierung zwischen der herrschenden Klasse und der breiten Gesellschaft wächst, ähnlich wie die Schere zwischen Arm und Reich.

Was geschieht derzeit in Südkurdistan? Einem Gebiet, das inmitten fragiler Staaten und Kriegsgebiete immer sehr stabil und ruhig wirkte. Was waren die Auslöser dieser Welle an Protesten?

»Es reicht«, so ist die Stimmung in der Bevölkerung

Die Situation vor dieser Protestwelle ähnelte der Ruhe vor dem Sturm. Die Gesellschaft von Südkurdistan ist geprägt durch Menschen, die über Jahrzehnte einen unerbittlichen Freiheitskampf gegen das irakische Baath-Regime geführt haben. Diese Generation, die für ihre Freiheit einen hohen Blutzoll hatte leisten müssen, hegt eine starke Verbundenheit mit den herrschenden Parteien. Doch hat sich Südkurdistan nicht zu einer freiheitlichen Demokratie entwickelt. Konträr dazu ist das System von Korruption und Vetternwirtschaft geprägt, dessen Folge u. a. eine extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit ist. Ein De-facto-Rentierstaat, dessen herrschende Klasse sich am Verkauf der Reichtümer des Landes bereichert, während der Großteil der Gesellschaft unter der Armutsgrenze lebt.Die Löhne für Staatsbedienstete bleiben seit Monaten aus. Proteste in Südkurdistan | Foto: Rojnews

Vor 24 Jahren, infolge des ersten Golfkrieges, erlangte die kurdische Autonomieregion (KRG, Kurdistan Regional Government) einen offiziellen Status im internationalen Weltsystem. Es wurde ein Parlament mit eigener Verfassung gegründet. Allerdings haben Verfassung und Gesetze der KRG keinerlei faktische Bedeutung. Tatsächlich regieren zwei Parteien über unterschiedliche Gebiete. Die PDK hält die Vorherrschaft über die beiden Provinzen Dihok (Dohuk) und Hewlêr (Arbil), während die größte Provinz Silêmanî (Sulaimaniyya) von der Patriotischen Union Kurdistans (YNK) kontrolliert wird. Inmitten des Chaos, das durch den Angriff des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Sommer letzten Jahres begann, verfügt die YNK über entscheidenden Einfluss auf die Provinz Kerkûk (Kirkuk), die die größten Erdölvorkommen des Irak aufweist.

Das politische System weist neben einem Ministerpräsidenten auch einen Präsidenten auf. Die wirtschaftliche und politische Ordnung Südkurdistans wird jedoch vom Barzanî-Klan (PDK) und dem Talabanî-Klan (YNK) dirigiert. Als Abspaltung von der YNK ist die Goran-Bewegung entstanden, die sich als drittstärkste Kraft in Südkurdistan etabliert hat.

Keine Wahl, kein neuer Präsident

PDK, YNK und Goran-Bewegung einigten sich bisher auf ein politisches Gleichgewicht. Während die YNK den irakischen Staatspräsidenten stellte, kommt von der PDK der Präsident der KRG. Der Ministerpräsident wurde im Wechsel von PDK und YNK beordert, während der Sitz des Parlamentspräsidenten von Goran besetzt wurde.

Die Wahl des Präsidenten führte nun zu einer ernsthaften politischen Krise. Die Verfassung sieht vor, dass dieselbe Person höchstens für zwei Amtsperioden als Präsident fungieren darf. Die zweite Amtsperiode des amtierenden Präsidenten Mesûd Barzanî endete vor zwei Jahren und wurde durch das Parlament für zwei weitere Jahre verlängert. Diese Verlängerung endete am 20. August dieses Jahres. Es hätte also zur Wahl eines neuen Präsidenten kommen müssen. Es fanden jedoch keine Wahlen statt, was eine Verschärfung des angespannten Verhältnisses der einzelnen Parteien, vor allem der PDK, zur Folge hatte.

Mesûd Barzanî besetzt weiterhin den Posten des KRG-Präsidenten. Dieser Umstand ist nicht verfassungskonform. Während YNK, Goran, Yekgirtû Islamî (Islamische Bewegung in Kurdistan) und Komala Islamî (Islamische Gemeinschaft in Kurdistan) die Wahl durchführen wollten, sperrte sich die PDK als einzige Partei, die an der Regierung partizipiert, dagegen. Sie fordert eine weitere Verlängerung der Amtszeit Barzanîs, was bei den anderen Parteien jedoch keinerlei Unterstützung findet.

Weil dieses Problem absehbar war, war es Monate vor dem Ende der Amtszeit Barzanîs zu mehrfachen Treffen zwischen den fünf Regierungsparteien gekommen. Deshalb hatten auch mehrere Konferenzen in Hewlêr und Silêmanî stattgefunden, jedoch ohne Ergebnis.

Zum Ende seiner Amtszeit hätte Barzanî sein Amt an Yusuf Muhamed von der Goran-Bewegung abgeben müssen. Erwartungsgemäß tat er dies nicht und führte die Präsidentengeschäfte weiter, gab weiter als Präsident Erklärungen ab und führte Gespräche. Daraufhin setzten die vier anderen Parteien ihre Gespräche ohne die PDK fort.

Die Wirtschaftkrise führte zur Flucht aus dem Land

Die politische Krise geht mit einer schweren Wirtschaftskrise einher. Doch war auch dies absehbar. Wie anfangs schon erwähnt, handelt es sich beim KRG-System um einen De-facto-Rentierstaat. Inlandsproduktion ist Mangelware. Dass dieses fragile Wirtschaftssystem irgendwann einmal zusammenbrechen würde, war vorhersehbar.

Doch erreichte die Wirtschaftskrise durch die politischen Widersprüche zwischen Hewlêr und Bagdad neue Dimensionen. Grund war der rechtswidrige Verkauf von Erdöl an die Türkei. Laut irakischer Verfassung darf der Erdölhandel nur mit Zustimmung der irakischen Zentralregierung vonstattengehen. Auf das Vorgehen Hewlêrs reagierte Bagdad mit der Einstellung der Jahreszahlung an Hewlêr, die 17 % des gesamtirakischen Haushaltes ausmacht. Als offiziellen Grund nannte die Zentralregierung die Angriffe des IS und die daraus resultierende Krise.

So konnte die kurdische Regierung den Gehaltszahlungen an ihre BeamtInnen und PeşmergakämpferInnen nicht mehr nachkommen. Diese Zahlungen tragen einen wesentlichen Anteil an der Legitimation des südkurdischen Systems. Die Zahlungsunterbrechung dauerte Monate an. Wegen des Kaufkraftverlusts stieg die Arbeitslosigkeit rapide an. Dem zuvor boomenden Bausektor, nach dem Erdölhandel eine wichtige Einnahmequelle des Landes, drohte der wirtschaftliche Kollaps. Die BäuerInnen und LandwirtInnen, die gezwungenerweise von den Subventionen der kurdischen Regierung leben, erhielten ebenfalls kein Geld mehr. Die Massenflucht aus Südkurdistan begann.Protest der Lehrkräfte in Helepce | Foto: Rojnews

Anfänglich waren es vor allem Jugendliche, die auf illegalem Wege ins Ausland flohen. Nach und nach entschieden sich auch ganze Familien zur Flucht. Schätzungen zufolge beläuft sich die Zahl der Wirtschaftsflüchtlinge der letzten Monate auf über 30 000.

Das Parlament kam nicht zusammen – die Probleme wurden nicht gelöst

Der gesellschaftliche Protest wurde durch die öffentliche Meinung gestärkt, dass die MachthaberInnen Erdöleinnahmen unterschlagen würden. In dessen Folge kam es in einigen Landesteilen zu Massendemonstrationen, die Südkurdistan in dieser Art und Weise noch nicht erlebt hatte. Trotz öffentlichen Drucks, der durch Intellektuelle, NGOs und sogar Abgeordnete gestärkt wurde, kam das Parlament nicht zusammen, um über die Lösung der Wirtschaftskrise und -flucht zu beraten. Einzig und allein Gespräche über die Präsidentschaftskrise wurden fortgesetzt.

In diesem Rahmen gründete sich ein Komitee aus 22 ParlamentarierInnen, die die Ausarbeitung einer neuen Verfassung in Angriff nahmen. Seine Arbeit sollte bis August abgeschlossen und dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt werden. Die Differenzen zwischen den politischen Parteien führten dazu, dass diese Arbeit von der Tagesordnung genommen und die Debatte über eine neue Verfassung eingestellt wurde.

Die Lunte zum Aufstand entzündeten die Lehrkräfte

In der Bevölkerung wuchsen die Spannungen mit jedem Tag. Trotzdem zeigten diejenigen, die die regionale Regierung und Wirtschaft in den Händen hielten, keinerlei Interesse an einer Lösung. Die Lunte an den Protesten entfachten Lehrkräfte in Silêmanî, die über vier Monate lang keine Gehälter mehr ausgezahlt bekommen hatten. Die Demonstrationen wurden von den kurdischen Sicherheitskräften gewaltsam niedergeschlagen. Gegen dieses gewaltsame Vorgehen formierten sich Solidaritätsdemonstrationen in der ganzen Region, an denen sich mehr und mehr Teile der gesamten Gesellschaft beteiligten.
Bei den Protesten kamen fünf Menschen ums Leben. Zahlreiche Verletzte waren zu beklagen, viele wurden festgenommen. Die Proteste richteten sich vor allem gegen die PDK, die mit ihrer Politik als wesentliche Auslöserin für die wirtschaftliche und politische Krise gesehen wird.

Die PDK macht die Goran-Bewegung für die Proteste verantwortlich

Die politische Krise verschärfte sich im Zuge der Proteste weiter. Die PDK beschuldigte die Goran-Bewegung, die Proteste angezettelt zu haben. Die PDK warf ihr Volksverhetzung vor. Am Morgen des 12. Oktobers verweigerten die Polizeikräfte der PDK dem südkurdischen Parlamentspräsidenten die Einreise nach Hewlêr. Ministerpräsident Nêçîrvan Barzanî ging sogar noch einen Schritt weiter und entließ vier MinisterInnen des Regierungskabinetts, die der Goran-Bewegung angehören. Zum endgültigen Bruch kam es dann am 13. Oktober, als Nêçîrvan Barzanî erklärte, die Goran-Bewegung werde aus der Regierung ausgeschlossen. Die anderen Regierungsparteien bewerteten dieses Vorgehen der PDK als Putschversuch. Adil Murat, Generalsekretär der YNK, rief sämtliche politischen Kräfte Südkurdistans dazu auf, sich gegen die PDK zu vereinen. Weiter verkündete er, dass die Goran entzogenen MinisterInnenposten nicht von der YNK besetzt werden würden.

Nur eine umfassende Demokratisierung kann die Lösung bringen

Im Lichte dieser Ereignisse stellt sich die Frage nach Lösungsmöglichkeiten für die gegenwärtige politische und wirtschaftliche Krise. Eine Lösung kann durch die ignorante Haltung der PDK, die die drittstärkste Kraft ausschließen will, nicht herbeigeführt werden. Wenn es zu keiner Konstituierung eines parteiübergreifenden Systems kommt, könnten bald zwei politische Systeme mit den Zentren Hewlêr und Silêmanî gebildet werden. Nur eine wirkliche Demokratisierung Südkurdistans kann zu wesentlichen Veränderungen und Lösungen beitragen. Alles andere würde die Fragilität nur forcieren und die gesellschaftliche Polarisierung verstärken.