Ansätze für eine feministische Neuorganisierung in der BRD
Feministische Akademien
Anja Flach
Seit Anfang der 1990er Jahre existiert eine autonome Frauenbewegung innerhalb der kurdischen Befreiungsbewegung. Sie hat sich immer auf das Erbe der feministischen Bewegungen bezogen. Nachdem die feministische Bewegung in der Bundesrepublik in den letzten beiden Jahrzehnten weitgehend marginalisiert ist, besteht jedoch immer mehr Interesse an einem Austausch mit der kurdischen Bewegung und einer Diskussion darüber, wie die Befreiungskonzepte der kurdischen Frauenbewegung hier dazu beitragen können, auch in der Bundesrepublik und Europa zu neuen Ansätzen zu kommen.
2012 erschien das Buch »Widerstand und gelebte Utopien«. Eine Gruppe von Internationalistinnen hatte sich auf den Weg in den Mittleren Osten gemacht und die verschiedenen Bereiche der kurdischen Frauenbefreiungsbewegung untersucht, wie die PAJK (Partiya Azadîya Jinên Kurdistanê, Partei der Freien Frau Kurdistans), die YJA (Yekîtîya Jinên Azad, Verbände der Freien Frauen), das Komitee der Jungen Frauen, die YJA Star (Yekiniyên Jinên Azad Star, Einheiten der Freien Frauen Star) usw. Abschluss dieser Untersuchung war eine Diskussion mit kurdischen Genossinnen in den Bergen über die Perspektive für internationalistische (Frauen-)Kämpfe in Europa.
Erkannt wurde die Notwendigkeit, Leben und Kampf nicht voneinander zu trennen, eine eigene Theorie und Praxis zu entwickeln. »Wesentliche Voraussetzung hierfür sind der Aufbau einer eigenständigen Frauenorganisierung und die Selbstorganisation der Bevölkerung«, heißt es in dem Buch. Um diese Organisierung zu erreichen, wurde von der kurdischen Frauenbewegung vorgeschlagen, sich ideologisch zu vertiefen, denn Ideologie wird als »organisiertes Bewusstsein« verstanden.
Um die existierende starke Frauenbewegung in Kurdistan zu entwickeln, hat die kurdische Frauenbewegung zahlreiche »freie Akademien« aufgebaut, die das Ziel haben, jede Frau zu erreichen und politisch zu bilden, was als Voraussetzung für organisatorische Stärke gesehen wird.
»Diese können auch in anderen Ländern aufgebaut werden und ein Ort sein, an dem Frauen ein solches Geschichtsbewusstsein und eigene Perspektiven entwickeln«, so die Frauen in den Bergen.
Um diese Überlegungen praktisch werden zu lassen, finden seit einiger Zeit an verschiedenen Orten Akademien und feministische Bildungsreihen statt. Diese Akademien, meist über ein Wochenende, in einigen Städten auch als regelmäßige Tagesseminare durchgeführt, verstanden auch die Frauen hier als »befreite Gebiete«, Orte, an denen sich Frauen über ihre Utopien, Ideen und die Wege zu diesen Zielen austauschen und sich jenseits des kapitalistischen, individualisierten Alltags kollektiv ideologisch stärken.
Neuen Anschwung erhielt diese Entwicklung natürlich auch durch den erfolgreichen (Frauen-)Kampf in Rojava. Die eindrucksvollen Kämpferinnen der YPJ (Frauenverteidigungseinheiten), aber auch die Frauenorganisierung in Kommunen und Räten durch Yekîtiya Star (die Frauenorganisation in Rojava) haben große Hoffnung in die Herzen vieler Feministinnen hier getragen.
So wurden in den Akademien u. a. Blitzlichter der Frauengeschichte erarbeitet, sich der Geschichte feministischer Kämpferinnen, u. a. Clara Zetkins, Helke Sanders, Funmilayo Ransome-Kutis, Vandana Shivas, Audre Lordes oder Sakine Cansız‘, unter der Fragestellung angenähert, inwieweit ihre Kämpfe die Kämpfe von Frauen insgesamt vorangebracht haben. Das patriarchale Geschichtsbild wurde kritisiert und an einer feministischen Geschichtsschreibung gearbeitet. In verschiedenen Akademien wurde hervorgehoben, dass uns das System glauben lassen will, es gebe keine Alternative zu Kapitalismus und Patriarchat. Die Wissenschaft der Frauen (Jineolojî) und die feministische Forschung beweisen jedoch das Gegenteil: Eine andere Welt ist möglich und die längste Zeit der Menschheitsgeschichte haben Matriarchate, also herrschaftsfreie, ökologische, nichtetatistische Gesellschaften, existiert und existieren, wenn auch marginalisiert, bis heute. Diese Gesellschaften sind eine Quelle des Wissens für eine ökologische, basisdemokratische und geschlechteregalitäre Gesellschaft.
In einer der Frauenakademien stellte die kurdische Frauenbewegung detailliert ihre Entstehung, von der YJWK (Yekitiya Jinen Welatparêzên Kurdistan, Union der Patriotischen Frauen Kurdistan) bis zu den KJK (Komalên Jinên Kurdistan, Gemeinschaften der Frauen Kurdistans) dar: Die Theorie der Loslösung, die Prinzipien der Frauenbefreiungsideologie wurden erklärt und gemeinsam nachvollzogen.
Die Frauen diskutierten intensiv die Fragen, wie es möglich war, die Bewegung unter den extrem repressiven Bedingungen in der Türkei der 1980er und 90er Jahre zu entwickeln. Themen wie Ästhetik der Befreiungsbewegung bis hin zu Fragen, wie die kurdische Frauenbewegung Mütter in ihre Organisierung einbindet, wurden erörtert. Prinzipien der kurdischen Frauenbewegung wie z. B. »Liebe zum Land und seinen Menschen« waren Fragen, die ein Dilemma der linken Bewegungen in der BRD überhaupt aufzeigen, die mangelnde Verbindung zur Gesellschaft, die fehlende Verbundenheit mit der Bevölkerung. Statt sie zu gewinnen, wurde hier häufig ein tiefer Graben ausgehoben, durch subkulturelle Lebensweisen hat sich die Linke, auch die Frauenbewegung von der Gesellschaft entfernt.
Auch die Aufgabe der Frauenbewegung, die Männer nicht zurückzulassen, sondern ein »Projekt zur Änderung der Männer« anzugehen, wurde diskutiert, ebenso wie Selbstverteidigung und das neue Paradigma der kurdischen Bewegung.
Als Ergebnis erster Akademien stellen sich für eine zukünftige feministische Organisierung hier zahlreiche Aufgaben, u. a.:
- Gemeinsame Ziele müssen formuliert, eine ideologische Basis geschaffen sowie die Marginalisierung, die auch durch Grabenkämpfe und Konkurrenz entsteht, überwunden werden.
- Die Verbindung zur Gesellschaft muss neu hergestellt, Privilegien und Herrschaftsdenken müssen überwunden, die Europäerinnen in uns »getötet« werden.
- Verantwortung muss für die Prozesse übernommen werden, Beliebigkeit und Bequemlichkeit stehen uns im Weg. Gleichwertige genossenschaftliche Beziehungen sollten von größerer Bedeutung sein als individualisierende Liebesbeziehungen. Basisdemokratische Organisierungsformen, wie sie auch in der kurdischen Bewegung praktiziert werden, wurden auch für hier als passend gesehen.
Angesichts globaler Probleme – wie der Verarmung und Entrechtung immer größerer Teile der Weltbevölkerung und der Vernichtung unserer ökologischen Grundlagen durch Vergiftung und nukleare Verstrahlung sowie Krieg und unkontrollierbare Gewalt durch Armeen, Terror- und Mafiagruppen – ist deutlich, dass wir keine Zeit haben, uns zurückzulehnen. Die kurdische Frauenbewegung ist die Vorkämpferin einer Bewegung für eine Gesellschaft jenseits des Paradigmas der Herrschenden. Die KJK erklären: »Beginnend mit Kurdistan streben sie [die KJK] die Umsetzung der Frauenbefreiungsrevolution im Mittleren Osten und die Übernahme einer Mission in einer weltweiten Frauenrevolution an.«
Diese Aufgabe nehmen sie sehr ernst, sie haben bewiesen, dass sie die Kraft entwickelt haben, u. a. den sogenannten Islamischen Staat zurückzuschlagen und die Gesellschaft auf der Basis demokratischer Prinzipien zu organisieren. Auch die fortschrittlichen Frauen in der BRD wollen dazu beitragen, für eine andere Welt zu kämpfen. Akademien sind ein erster Schritt, dem viele weitere folgen sollten.