Mit dem Einfall des IS wurde die Heuchelei des imperialistischen Diskurses enthüllt
Auf der Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern II« interviewte Michael Knapp Prof. David Graeber zu seinen Eindrücken von der Revolution in Rojava
Du hast den Begriff der Arbeit, die Menschen produziert, in Deinem Vortrag erwähnt, könntest Du das in Beziehung zur kurdischen Freiheitsbewegung setzen?
Ich denke, es ist insbesondere der Einfluss des Feminismus und der Frauenbefreiung, der uns dazu gezwungen hat, zu erkennen, was Arbeit wirklich ist. So lange gab es dieses sehr maskuline Bild des Arbeiters, das eine_n dann, wenn der Arbeitsbegriff verwendet wird, an jemand in einem Blaumann denken lässt, der in einer Art Schmiede oder so arbeitet, und alles andere wird nicht als echte Arbeit anerkannt. Ich denke aber, dass die Menschen damit beginnen, ihre Grundkonzeption des Arbeitsbegriffs zu verändern. Wofür gearbeitet wird und worum es dabei geht. Die Frauenbewegung hat dies ermöglicht. Und es ist nicht überraschend, dass die Menschen, die dazu gezwungen sind, neue Wege zu beschreiten, beginnen, die Welt anders wahrzunehmen.
Wie siehst Du den Aufbau einer alternativen Ökonomie in Rojava?
In Rojava gibt es kaum Industrie und es wurde vor allem Weizen angebaut und Erdöl gewonnen. Das syrische Regime hatte in der Region nur Ressourcen gefördert, doch keine Infrastruktur aufgebaut. Die Raffinerien und die Mühlen waren aber woanders. Die Menschen haben mit der Revolution selbst Mühlen und Raffinerien gebaut. Wir konnten diese mit eigenen Augen sehen. Wir haben eine Mühle und sogar die Raffinerie besucht. Besonders die Raffinerie war natürlich ein geheimer Ort, denn nichts wollen die Gegner_innen der Revolution lieber in die Luft jagen als diese. Aber sie funktionieren wirklich. Es gibt eine ganze Reihe von Kooperativen und Kollektiven, die aufgebaut worden sind. Wir haben mehrere von ihnen besucht. Die Kooperativen bekommen kostenloses Brot und kostenlosen Treibstoff, die beiden Dinge, die relativ uneingeschränkt zur Verfügung stehen.
Sie berichteten uns, dass es im Moment drei Ebenen der Ökonomie gebe. Das, was sie als »offene Ökonomie« bezeichnen, welche die Verbindung mit dem Rest der Welt herstellt und auf marktwirtschaftlichen Grundlagen basiert. Dann die traditionelle Ökonomie, die keine reine Marktökonomie darstellt, wie sie ein_e europäische_r Wirtschaftswissenschaftler_in definieren würde. Denn diese »Basar-Ökonomie« beinhaltet gewisse moralische Komponenten, wie die Definition eines »gerechten Preises« und der Preis wird von der Community kontrolliert. Es gab beispielsweise Probleme, dass Leute begonnen haben, Zucker zu horten. An solchen Punkten kann die Gesellschaft intervenieren und eine Lösung herbeiführen.
Die dritte Ebene der Ökonomie ist die kooperative Ökonomie. Diese ist recht einfach aufzubauen, da ein großer Teil des Landes und der Ressourcen entweder dem Regime gehört hatte oder von Regimeanhänger_innen privatisiert worden war. Diese Leute sind fast alle weggelaufen. Dieses Land wurde an Kollektive und Kooperativen verteilt. Sie benutzen freilich immer noch syrisches Geld und es werden auch noch viele der Lehrer_innen und Ärzt_innen vom Regime bezahlt. Also, es kommt Geld in die Region; obwohl das Regime keine Kontrolle über die Region mehr hat, versuchen sie so einen Anspruch zu etablieren.
Die offene Ökonomie benutzt immer noch Geld, aber die kooperative Ökonomie versucht direkte Beziehungen untereinander herzustellen, um die Benutzung von Geld möglichst zu vermeiden. Allerdings sind siebzig Prozent der Ökonomie Kriegsökonomie. Das macht es schwierig, viele Experimente umzusetzen. Denn so viel der Energie muss auf die Reparatur von Uniformen, Waffen etc. verwendet werden.
Würdest Du die Ökonomie in Rojava als Notwirtschaft im Rahmen eines Krieges bezeichnen?
Nein, aber ich denke, einige der ökonomischen Maßnahmen sind vielleicht notwendiger wegen der Kriegssituation, z. B. die Maßnahmen gegen die Preisspekulation und das Ausnutzen der Mangelsituation, um Preise zu erhöhen. Solche Maßnahmen sind natürlich gewissermaßen notwendiger in einer Kriegssituation, aber es gibt eine Art moralisches Grundprinzip.
Wie bewertest Du den Wechsel der Wahrnehmung von Rojava nach dem Einmarsch des IS? Spielt Orientalismus dabei eine Rolle?
Der Wechsel der Wahrnehmung von Rojava mit dem Einfall des IS im Juni 2014 im Irak enthüllt die Heuchelei des imperialistischen Diskurses. Seit fünfzehn Jahren hören wir immer wieder »Demokratie« und »Frauenrechte« als Legitimation für imperiale Intervention. Die Menschen vor Ort werden als eine Art Barbar_innen oder Wilde ohne Sinn für Frauenrechte und Demokratie gesehen. Plötzlich taucht aber eine Bewegung auf, die in Demokratie und Frauenrechten weiter fortgeschritten ist als irgendeines der westlichen Länder. Aber das können sie nicht direkt sagen. Dies schafft eine Art logischen Widerspruch. Ich verfolgte die Geschichte um Şengal nur in den westlichen Medien und ich erinnere mich deutlich daran. Es gab all diese Geschichten, wie die USA dagegen vorgehen würden, eine Intervention wurde psychologisch vorbereitet. Es wurde gezeigt, dass es einen furchtbaren Fall von Genozid gibt, die Menschen waren umzingelt, dass der êzîdischen Bevölkerung der Tod drohe und dass deswegen Truppen geschickt werden müssten, und plötzlich sagten sie, ja, wir haben ein paar Aufklärer geschickt, und es ist doch so schlimm, wie wir dachten, und es geht bald vorbei. Ich fragte mich, was ist da passiert? Das wurde nie gesagt. Letzten Endes habe ich erfahren, dass die PKK und die YPG/YPJ gekommen sind und einen Korridor geöffnet haben. Und diese Geschichte konnte natürlich nicht gebracht werden; der Widerspruch ist, dass die PKK immer noch als terroristische Organisation gelistet ist, sie hätten also die Geschichte bringen müssen, dass heldenhafte Terroristinnen Babies vor dem Völkermord retten. Deshalb wurde dies nicht wahrgenommen. Und auch im Fall von Kobanê ist das zu beobachten, sie zeigen die ganzen Bilder der Kämpferinnen, aber sie wissen nicht, wie sie darüber sprechen können. Sie sagen, ja, es gibt so eine Tradition von kurdischen Kämpferinnen, das stimmt zwar, aber es wäre vor ein paar Jahren nicht so gewesen. Die Idee, dass sie Teil einer revolutionären Bewegung sind, erschien fast unaussprechlich für die Medien. Die Bilder sind fast unzeigbar – insbesondere die vom IS. Wenn wir uns den IS anschauen, dann wird klar, dass sich diese Leute viele Hollywoodfilme angesehen haben. Es ist zu sehen, dass sie sich absichtlich wie Hollywood-Schurken darstellen. Also, schwarz anziehen, Köpfe abschneiden, Sklaverei einführen – sie bemühen sich darum, dem Bild der »Bösen« möglichst gut zu entsprechen. Das hat sich aber gegen sie gewendet, es gibt keine Möglichkeit, wie ein_e westliche_r Beobachter_in sich das anschauen und das als einen Kampf des »Guten« gegen das »Böse« interpretieren kann. Also wurde eben versucht, nicht zu erzählen, wer denn eigentlich die »Guten« waren. Dieses Schweigen speist sich aus orientalistischer Ideologie. Der Orientalismus ist auch im öffentlichen Diskurs zu spüren. So habe ich Leute gesehen, die sich über mich lustig gemacht haben und sagen, »der Typ romantisiert, Frauenkämpferinnen in Kurdistan – aber da gibt es Ehrenmorde und Klitorisbeschneidung und solche Dinge«. Das ist so, wie zu sagen: »Der Typ mag italienische Marxist_innen, weiß er denn nicht, dass die Italiener_innen auch die Mafia haben?« Natürlich haben sie als eine revolutionäre Bewegung vieles, gegen das sie rebellieren müssen. Ich würde die Haltung dieser Menschen als auf orientalistischen Instinkten basierend ansehen. Sie scheinen es gar nicht zu realisieren, dass es an anderen Orten soziale Bewegungen gibt.
Wie hast Du die Rätebewegung in der Praxis erlebt?
Wir waren an einem Samstag auf einer Versammlung und da gab es einen großen Streit. Alle waren wirklich ärgerlich, aber am Ende haben sie gesagt: »Wir können nicht bei den Beschlüssen bleiben, denn es ist Freitag und die meisten sind nicht da, weil wir uns normalerweise am Montag treffen.« Es war interessant, worüber sie diskutiert haben. Das, was wir in Rojava haben, ist weltweit einmalig, soweit ich weiß, wir haben eigentlich ein duales Machtsystem, bei dem aber eigentlich dieselben Leute beide Seiten geschaffen haben. Einerseits ist da das Selbstverwaltungssystem von unten nach oben, andererseits die parlamentarischen Strukturen. Sie achten sehr genau darauf, dass die »top-down«-Strukturen nicht die Macht verkörpern, also die Ministerien und das Parlament, sondern die gesellschaftliche Macht bei den Kommunen liegt. Das war auch eine der hitzigsten Debatten, die ich erlebt hatte, als ich dort war. Es ging darum, dass jemand die Asayîş gerufen hatte, um ein Haus zu durchsuchen, wegen des Hortens von Zucker, die kamen, sagten aber, wir können da nichts machen ohne Genehmigung von meinem/meiner kommandierenden Offizier_in. Die Leute waren sehr verärgert. Sie sagten: »So fängt das an, so entsteht wieder ein Staat. Ihr seid uns gegenüber rechenschaftspflichtig und nicht gegenüber eurem/eurer Kommandeur_in!« Das ist den Menschen sehr wichtig, dass die Regierung ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig ist und nicht umgekehrt.
Wie hast Du die Situation der Frauen erlebt?
Der Unterschied zwischen Rojava und Südkurdistan ist an der Situation der Frauen sehr deutlich zu machen. Wenn mensch sich in Südkurdistan bewegt, dann sind so gut wie keine Frauen auf der Straße zu sehen, in Rojava kommt mensch in eine völlig andere Welt. Da begegnest du überall Journalistinnen, die Bilder von dir machen, schüttelst die Hände von all den Diplomatinnen, und dann die bewaffneten Kämpferinnen, die offen auf der Straße mit anderen Typen flirten. Es ist einfach zu sehen, dass die Menschen keine Angst in ihrer Umgebung verspüren. Viele Frauen sagen, bis zur Revolution bestand unser Leben nur aus fünf Räumen oder vielleicht einer Seitenstraße, vollkommen beschränkt auf eine enge Umgebung, und plötzlich steht die Welt offen. Aber sicherlich geht es nicht nur um den Kampf und wir erfahren immer nur einen kleinen Ausschnitt. Sicher gibt es auch Widerstand gegen solche Prozesse. Wir fragten zum Beispiel: Was ist mit Männern, die nicht an dieses System glauben? Dann sagen sie, die können nichts machen, insbesondere weil die Frauen jetzt bewaffnet sind. Aber dann gab es diesen Punkt von jemandem aus dem Justizsystem, der/die sagte, die Rate von häuslicher Gewalt und sexualisierter Gewalt sei nach der Revolution gestiegen. Das sind wirkliche Aussagen, denn das ist immer so. Wenn Frauen den öffentlichen Raum erobern, dann schlagen die Männer zurück. Das passierte auch in Nordamerika in den siebziger Jahren. Lokale Konflikte werden generell vor Konsenskomitees gelöst, aber es gibt auch eigene Komitees der Frauenräte und diese können bei Übergriffen jederzeit intervenieren und auch die Strafe erhöhen, wenn Männer vor den Konsenskomitees für Übergriffe zu leicht bestraft werden.
Die Menschen absolvieren im Moment eine Unmenge von Treffen und Versammlungen. Wie lange kann eine Gesellschaft das durchhalten?
Es besteht ein Risiko der Überanstrengung, aber so ist das bei Revolutionen, und später laufen die Dinge mit weniger Aufwand. Als wir Rojava verließen, haben sie zu uns gesagt, kritisiert uns. Ich habe auf drei Gefahren hingewiesen: zum einen das verschleierte Wiederentstehen von sozialen Klassen, nicht durch ökonomisches Kapital, sondern durch soziales und kulturelles Kapital, sprich die Entstehung einer technokratischen Elite. Die zweite Gefahr ist offensichtlich, also die Frage, wie wird die Regierung daran gehindert, sich tatsächlich wie eine Regierung zu verhalten, wenn das Embargo vorbei ist und internationale Gruppen hier hereinkommen und mit dem verhandeln, was aussieht wie die Regierung? Beim dritten Punkt geht es um Partizipation. Wir hören diese Beschreibungen, das jede_r Delegierte_r ist und dass die Entscheidungen immer wieder von den Räten rückbestätigt werden müssen, und mir ist klar geworden, dass der Aufwand an Zeit, den dies benötigt, enorm ist. Das ist ein Problem, das ich immer wieder in sozialen Bewegungen beobachtet habe, dass einige Menschen in der Lage sind, diesen Aufwand der direkten Demokratie zu widmen, aber das benötigt so viel von der Zeit, dass die Frage entsteht, wie die Menschen davon abgehalten werden, de facto Politiker_innen zu werden. Einfach weil sie die Zeit haben und zu den Treffen gehen können. Sie antworteten darauf: »Ja, wir wissen das und denken auch viel darüber nach, habt ihr vielleicht eine Idee?« Aber ich denke, wir haben diese Erfahrung aus vielen solchen Projekten, wie auch den Kibuzzim, die dies schon fünfzig Jahre tun, und was meist passiert ist, dass etwa ein Drittel der Menschen Politikjunkies werden und an jedem Treffen teilnehmen. Zwei Drittel interessieren sich nicht so sehr dafür. Aber das eine Drittel weiß genau, wenn sie irgendwas machen, was die anderen zwei Drittel wirklich stört, dann kommen die alle zu den Treffen. Auf diese Weise funktioniert es auch wieder. Das ist eben ein Widerspruch, wenn nur ein Drittel Entscheidungen fällt, kann das als Form der Unterdrückung gesehen werden, aber sie dort hinzuzwingen, wäre ja auch eine Form der Unterdrückung. Die Menschen können nicht zu etwas gezwungen werden, was sie nicht tun wollen. Also, manche beteiligen sich mehr, manche weniger, aber wenn eine Entscheidung auftritt, die sie nicht wollen, dann erscheinen sie sehr wohl.
Südkurdistan im Vergleich zu Rojava?
Was bezeichnend ist, Südkurdistan spielt tatsächlich das Spiel mit. Ich war sehr beeindruckt, als ich dort war, alles ist in Englisch beschrieben, sogar die Polizei hat englische Beschriftungen. Das zeigt einfach, dass der Machtapparat mehr auf dem internationalen System als auf regionalen Interessen beruht. Sogar alle Produkte kamen entweder aus der Türkei oder dem Iran. Alle beschweren sich, dass nichts mehr produziert wird, da es einfach billiger ist, das Erdöl zu verkaufen und alles einzukaufen. Es ist ein klassischer Patronatsstaat. Die Regierung ist eine Regierung, in der alle Parteien vertreten sind, jede von ihnen, denn es geht dabei um die Verteilung von Reichtümern an die Klientel. Insbesondere nach dem, was in Şengal passiert ist, als die Peschmerga weggerannt sind und dann die Grausamkeiten und die êzîdischen Flüchtlinge für ihre eigenen Ziele benutzt haben, um internationale Hilfe zu bekommen, womit sie erfolgreich waren. Ich denke, das Spiel im Mittleren Osten ist es, Bilder von Grausamkeit und Leid zu erzeugen, ob sie jetzt selbst IS sind und diese Bilder selbst produzieren oder ob sie sich als die Guten gerieren, macht in dem Sinne nicht wirklich einen Unterschied. Diese Bilder des Schreckens werden geschaffen und dann wird um internationale Militärhilfe gebeten und dann nach den Ölressourcen gegriffen und ein Patronatssystem aufgebaut. Sie suchen ausländische Patrone, die sie als inländische Patrone einsetzen. Das ist das Spiel, das sie spielen. Die Barzanîs wie die Talabanis. Und das ist es, warum Rojava auf eine Art so verwirrend ist, weil sie sagen, wir wollen ein anderes, ganz anderes Spiel schaffen, wir wollen dieses Spiel nicht spielen und niemand weiß, wie sie einzuordnen sind. Das ist auch der Grund, warum die antiimperialistische Linke Rojava nicht verstehen kann. Sie denken nur an ihr Spiel und sie können sich kein anderes vorstellen. Es sind dieselben Kategorien wie die der Imperialist_innen. Es war, glaube ich, C. G. Jung, der mal sagte: »Hör nicht darauf, was die Leute sagen, sondern worüber sie sprechen.« Die einen können nur zum Ausdruck bringen, wie sehr sie den Imperialismus ablehnen, die anderen, wie sie ihn am besten praktizieren können. Sie bewegen sich in derselben Welt und Rojava ist eine vollständig andere. In Rojava wird das Spiel radikal überdacht.
Wie siehst Du die Vorurteile, die es gegenüber direkter Demokratie in Europa gibt?
Wenn wir uns Nordamerika anschauen, dann wird klar, einerseits sagen sie, wir sind das Beispiel für Demokratie, und andererseits wird indirekt klargemacht, dass Demokratie eigentlich unmöglich sei und wenn es eine gäbe, dann würde sie in die Katastrophe führen. Es gibt diese Idee der Herrschaft des Mobs, die den Menschen im Hinterkopf herumspukt. Ich denke, die Römer waren politische Genies, angesichts dessen, dass die meisten antiken Städte demokratische Institutionen wie Volksversammlungen hatten, manchmal waren sie voll demokratisch, manchmal teilweise. Aber sie hatten diese Konzepte der öffentlichen Versammlungen und öffentlichen Entscheidungsfindung. Dann kommt Rom und sagt, »vergesst all den Quatsch, wir führen stattdessen die Herrschaft des Gesetzes ein«. Rom führt Gerichte und ein effektives Rechtssystem ein, aber die Menschen versammeln sich trotzdem in Rom. Sie versammeln sich allerdings nicht mehr auf der Agora, sondern im Circus. Sie wählen dort, ob jemand hingerichtet wird oder nicht. Sie schaffen eigentlich auf diese Weise diese Lynchmobs. Das sind dieselben Leute, die dann sagen, ja, so würde Demokratie aussehen. Das war ein brillantes Propagandamanöver, 2 000 Jahre alt und es ist immer noch im Kopf der Menschen. Niemand ist dafür, beispielsweise Gerichte zu demokratisieren. Alle sagen, es würde sein wie im römischen Circus, es wäre ein Lynchmob. Auf diesem Propagandamanöver beruht unsere Angst vor der Demokratie.
Wie kann der Gesellschaftsvertrag umgesetzt werden?
Ein Grundproblem ist, wie direktdemokratische Prinzipien auf Menschen angewendet werden, welche die Werte der Revolution nicht teilen. Das ist ein Problem, so gibt es eine syrianische Frauenunion, aber anscheinend noch keine arabische. Deshalb müssen die arabischen Frauen zur syrianischen gehen. Das große Problem in dem System ist es, eine breite Allianz in Syrien aufzubauen. Sie wollen, dass ihr Modell ein Modell für die syrische Revolution wird. Aber wie kann das gehen, wenn die zentrale Säule die Opposition gegen das Patriarchat ist; wie soll dann damit umgegangen werden, dass die meisten Menschen, mit denen mensch sich alliieren müsste, sprichwörtlich Patriarchen sind? Es gibt da ein Spannungsfeld, aber es ist schwierig, dazu mehr in einer Woche zu erfahren. Es ist klar, dass es arabische Communities gibt, welche die Revolution stark unterstützen, und es gibt auch andere häufig mit der Politik des arabischen Gürtels angesiedelte Gemeinschaften, mit denen die Kommunikation schwierig ist.
Schlägt sich der Gesellschaftsvertrag auch in der Ausbildung der militärischen Einheiten nieder?
Wir haben viel mit Einheiten der YPG, YPJ und Asayîş gesprochen und ich hatte vorher nicht realisiert, dass die Einheiten intern demokratisch organisiert sind, sie wählen ihre Offizier_innen, in der Regel ist das dann die älteste Person. Es gab einen interessanten Punkt, als uns erklärt wurde, dass sie ihre Offizier_innen wählen können, fragte ich: »Aber dann können sie Euch Befehle geben?«, und vielleicht war es ein Übersetzungsproblem, aber sie reagierte sehr beleidigt, sagte: »Meinst Du, wir brüllen Leute an oder sagen denen, was sie zu tun haben? Nein, natürlich nicht. Das wäre gegen alles, was wir hier aufzubauen versuchen.« In der Asayîş-Akademie muss zuerst ein Kurs in Konfliktlösung und feministischer Theorie absolviert werden, bevor überhaupt eine Waffe berührt wird.
Wir haben in Rojava eine Bevölkerung, die aus langjähriger Diktatur kommt und nun ein System direkter Demokratie aufbaut. Was sind die Probleme dabei?
Ich denke, da spielen zwei Faktoren eine Rolle. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass der hohe Repressionsgrad des Regimes sich zum Vorteil ausgewirkt hat. Gerechtigkeit beispielsweise, die Leute wissen, wie sie Konflikte durch Vermittlung lösen können, denn unter dem syrischen Baath-Regime gingen sie nicht einfach zur Polizei, wenn sie nicht unbedingt mussten, sie wussten, wie sie lokale Strukturen entwickeln. Auf der anderen Seite haben wir aber ein Problem der Expertise. Das Baath-Regime war sehr technokratisch ausgerichtet, es war eine Herrschaft der Expert_innen. Darüber sprachen die Menschen, die wir trafen, viel, dass diese »Expert_innen« ihnen erklärten, was sie anpflanzen könnten und dass andere Dinge nicht wachsen würden, und sie finden jetzt erst raus, dass diese Pflanzen sehr wohl in Rojava kultiviert werden können. Um mit diesem Problem umzugehen, wurde das Akademiesystem aufgebaut. Es geht dabei um die Demokratisierung von Wissen und darum, das Auftauchen einer neuen technokratischen Elite zu verhindern. Sie arbeiten auf der Basis von sechswöchigen Kursen und die Idee ist, so viel Wissen wie möglich für jede_n zur Verfügung zu stellen. So dass alle Polizeitraining machen und am Ende keine Polizei mehr gebraucht wird, so dass alle kooperative Ökonomie lernen, damit sich diese Form der Ökonomie entwickelt, aber ebenfalls geht es auch um Formen technischer Expertise, die so breit wie möglich für alle zugänglich sein soll. Aber das ist ein langfristiger Prozess. Zur Zeit arbeiten die Akademien eher ideologisch und organisatorisch als zu unterrichten, wie dieses oder jenes angepflanzt wird, oder ingenieurwissenschaftliche Kenntnisse zu vermitteln. Aber sie wollen an diesen Punkt kommen.
Wie unterrichten sie an den Akademien?
Sie experimentieren mit unterschiedlichen Methoden des Unterrichts. In den Schulen immer noch frontal, aber an den Akademien ist es viel partizipativer. Selbst die Ausbildung der Sicherheitskräfte. Ja, natürlich, sie treten in der Reihe an, es wird auch gebrüllt, sie verhalten sich wie Soldat_innen, aber danach sitzen sie dann im Kreis und diskutieren darüber, dass sie das so gemacht haben. Sie machen also beides. Wir gingen zur Mesopotamia-Akademie, dort gab es gerade einen großen Streit darüber, ob es Prüfungen geben sollte oder nicht, und sie haben sich letzten Endes dafür entschieden. Zum Teil, weil viele von denen, die dagegen waren, nicht auf dem Treffen waren. Sie entschieden dann aber auch gleichzeitig, dass die Schüler_innen die Lehrer_innen ebenfalls Prüfungen unterziehen werden.
Welche Bedeutung hat Rojava für die Menschheit?
Rojava ist ein Experiment – das Wichtige daran ist auch, dass die Menschen begreifen, dass solche Dinge möglich sind. Uns wird beigebracht, dass etwas wie wirkliche Demokratie, wirklich kooperative Ökonomie nicht möglich ist. Aber wir partizipieren und wir treffen auch kollektive Entscheidungen, wenn auch nicht so oft, wir kooperieren definitiv ökonomisch auf viele verschiedene Arten. Aber uns wird beigebracht, selbst das, was wir tun, nicht wahrzunehmen und schon gar nicht daran zu denken, dass es zu einem Grundprinzip in der Gesellschaft erweitert werden könnte. Ich denke, jedes Experiment wie Rojava mag nicht auf die gesamte Gesellschaft ausgeweitet werden können, aber das ist etwas, was wir herausfinden müssen: Was ist die ideale Mischung zwischen Kooperative und Individuum, das wissen wir nicht, und immer, wenn jemand versucht, ein Modell aufzubauen, ob es jetzt die Zapatistas sind, Rojava oder irgendwo anders ist, das bereichert die Erfahrungen der Menschheit. Es gibt nicht so viele Gelegenheiten, bei denen Menschen im großen Stil experimentieren konnten oder es ihnen möglich war, dies zu tun. Ich denke, langfristig ist die Verwirklichung im großen Stil nicht so schwer, wie wir glauben. Wir werden viele überraschende Entdeckungen machen. Diese Dinge wachsen mit der Zeit. Zum Beispiel lese ich gerade das Buch eines Archäologen über die Ursprünge sozialer Ungleichheit und mich hat wirklich überrascht, dass es in der Geschichte eigentlich viele Systeme der sozialer Gleichheit gegeben hat. Es gab viele demokratische Stadtstaaten, große Städte wie Teotihuacan, in denen es keine Hinweise auf soziale Ungleichheit gibt – stattdessen gibt es wenige Beispiele egalitärer Haushalte in der Geschichte. Es ist also nicht so, dass es im Kleinen leicht ist, Demokratie umzusetzen, und im Großen schwer, sondern umgekehrt. Deswegen ist es so wichtig, dass sie die Frage des Patriarchats an den Anfang stellen. Denn das ist die Spitze. Der große Rahmen mag nicht so schwer sein, wie wir denken. Das alles können wir nur durch Erfahrungen lernen und das macht Experimente wie dieses so wichtig. Dieses Wissen ist für alle Menschen nützlich, überall auf der Welt, einschließlich Europa.
David Graeber, herzlichen Dank für das Interview.