Der Krieg gegen die Frauen

Der längste Krieg der Geschichte

Rojda Yıldırım, Frauenrechtsaktivistin

Das tiefe Zerwürfnis zwischen Kain und Abel endet mit der Ermordung Abels. Dabei handelt es sich um den ersten Kampf zwischen Geschwistern in der Mythologie. Es folgt die Kriegsphase zwischen Sumerern und Akkadern. Die Kriege zwischen Hethitern und Ägyptern, Persern und Griechen schließen sich an sowie die endlosen Kriege zu Zeiten des Römischen Reiches. Dann kommen die Kriege des Mittelalters und anschließend die grenzenlose Ausdehnung und Zerstörung durch das Osmanische Reich. Schließlich gelangen wir zum Ersten und Zweiten Weltkrieg. Wir können in den Geschichtsbüchern problemlos tausende Kriegsbeispiele finden. So wird die Mehrheit auf die Frage »was ist Geschichte?« vermutlich antworten, es handele sich um eine Serie von Kriegen. Diese Kriege finden mit »ihren Protagonisten, ihrem Epos und ihren ruhmreichen Geschichten« ihren Platz in den Büchern. Auf deren Seiten stehen die Namen von Königen, Dynastien und Kommandanten. Es folgen zahlreiche Panegyriken. Gedichte werden gelesen und mythische Märchen geschaffen. Die Erzählungen nehmen kein Ende. Alle Personen, deren Namen im Rahmen der Kriege erwähnt werden, sind Männer. Erzählungen von Kriegen sind zugleich Erzählungen der Männerwelt.

Aber Sie werden in keinem Geschichtsbuch lesen, dass der erste tiefe Konflikt in der Geschichte zwischen Adam und Lilith stattgefunden hat. Von der Existenz Liliths, einer Frau des Widerstands noch vor Eva, die aus dem Paradies auf die Welt geflüchtet ist, da sie sich Adam nicht beugte, ist nichts zu hören.

Sie werden auch keinem Buch begegnen, in dem festgehalten wurde, dass die Frauen der Faktor waren, der die Menschen zum Menschen machte. Frauen haben 15 000 Jahre mit einer frauenzentrierten Gesellschaft ihr hervorragendes System geschaffen. Einige Frauen haben diese Wahrheiten aufgrund ihrer Sensibilität gegenüber den Frauen schriftlich festgehalten.

Endlos wird von der Geschichte der Kriege berichtet. Doch haben Sie je vom längsten Krieg der Geschichte seit Beginn der Klassengesellschaft, dem gegen Frauen, gelesen? Haben Sie erkannt, dass die Vernichtung der Urgöttin Tiamat durch Marduk symbolisch die Geschichte des Krieges des Patriarchats gegen alle Frauen darstellt?Demonstration gegen Frauenmorde in Istanbul: »Wir werden die Frauenmorde stoppen« | Foto: DIHA

Haben Sie gelesen, dass die Verbrennung von Millionen als Hexen beschuldigter Frauen im Mittelalter einen der größten Kriege darstellt? Wussten Sie, dass die Steinigung der Hypatia von Alexandria stellvertretend für die Steinigung des Intellekts und der Philosophie der Frauen steht?

Sind Sie in dieser »ruhmreichen Geschichte« einer Analyse begegnet, die sich mit der Frage nach der Ursache der seit tausenden Jahren währenden Tötung von Frauen beschäftigt?
Der Erste Weltkrieg hat einen Namen, der Zweite ebenfalls ... der Name eines dritten Weltkrieges steht ebenso bereit ...

Warum hat der Krieg, der seit tausenden Jahren pausenlos gegen die Frauen geführt wird, keinen Namen? Die anderen Kriege haben ein Anfangs- und Enddatum. Für alle gibt es nationale Feiertage, Gedenkveranstaltungen und Feierlichkeiten. Doch der vom System gegen die Frauen geführte Krieg hat keinen Namen. Er hat keinen Anfang und kein Ende. Der tägliche Tod von Dutzenden Frauen hat keine Definition.

Dabei haben wir Frauen selbstverständlich einen Namen und eine Definition dafür. Dieser Krieg wird seit 5 000 Jahren ununterbrochen geführt. Mit dem Beginn einer Klassengesellschaft hat auch unser Krieg begonnen. Das war kein von uns gewollter Krieg. Diese aus einem männerdominierten Charakter hervorgegangene Zivilisation hat ihren ersten Krieg gegen die Frauen begonnen. Jeglicher Besitz der Frauen wurde als deren Stärke und als Gefahr gesehen. Als das vorherrschende Begriffsvermögen dem nicht gewachsen war, wurde die Frau »verdammt«. Es kam der Zeitpunkt, da wurde »aus der Frau der Teufel« geschaffen, da wurde sie als »Prostituierte« ausgegeben, wurde sie hinter einem schwarzen Schleier versteckt. Es gab Momente, in denen die Frauen lediglich das kalte Gesicht des Todes sahen. Es gab Augenblicke, da wurden sie gesteinigt. Es gab Momente, in denen sie bis auf die Knochen ausgebeutet, aus jedem ihrer Körperteile Profit geschlagen und sie verkauft wurden. Die Klassenzivilisation hat so bis heute mit ihrem frauen-, gesellschafts- und naturfeindlichen System ihren Krieg weitergeführt.

Dieser Krieg dauert als Geschlechtergenozid an. Seit mehr als zweihundert Jahren führen Frauenbewegungen einen organisierten Kampf. Trotz aller Bemühungen wird der Feminizid in der internationalen Literatur und im internationalen Recht weiterhin nicht anerkannt. Während wir einem weiteren 25. November, dem Internationalen Tag des Widerstands gegen Gewalt an Frauen, entgegengehen, ist es essentiell, diesem Krieg jenseits der Visualisierung des Feminizids nochmals einen Namen zu geben. Es ist zudem unsere historische Verantwortung, dass Feminizid gegen êzîdische Frauen in Şengal an die Öffentlichkeit gelangt und er als Kriegsverbrechen und Feminizid anerkannt wird.

Genozid und Feminizid

In einer Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord haben die Vereinten Nationen 1984 den Genozid als internationales Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt. Mit diesem Vertrag wurden sämtliche Handlungen, die zum Zwecke der teilweisen oder gänzlichen Vernichtung einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe begangen werden, als Genozid bezeichnet: Diese Definition, die den Kernpunkt der Genozidkonvention ausmacht, wurde in Bezug auf den Genozid an den Juden im Zweiten Weltkrieg erstellt. Dieser Definition wurden keine kulturellen Genozide, Verbrechen gegen die Natur oder der Feminizid hinzugefügt. Der Feminizid findet im internationalen Recht keine Entsprechung. Vergewaltigung wurde als Ergebnis des erbitterten Kampfes der Frauenbewegungen und Menschenrechtsorganisationen als Kriegsverbrechen anerkannt. Die »Kriegsverbrechertribunale« von Tokio und Nürnberg ahndeten zahlreiche Kriegsverbrechen, dabei wurde die Situation hunderttausender Frauen, die Opfer von Gewalt geworden waren, außer Acht gelassen. Nach den Kriegen in Ruanda und Bosnien wurden vor den von den Vereinten Nationen gegründeten Internationalen Strafgerichtshöfen die Folter und Vergewaltigung von Frauen als ein schweres Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet. Wenn auch verspätet, so wurde jegliche Zwangsmaßnahme gegen das weibliche Geschlecht, Vergewaltigung, Prostitution u. Ä. als schwerer Verstoß gegen die Genfer Konvention und als Kriegsverbrechen gewertet.

Ein wichtiges Beispiel hierfür ist der Krieg in Bosnien-Herzegowina. Von 1992 bis 1995 wurden dabei mehr als 250 000 Menschen, darunter 16 000 Kinder, getötet. 20 000–60 000 Frauen und junge Männer waren Opfer sexueller Gewalt und systematischer Vergewaltigung. Die Täter waren sämtlich serbische Männer, die Opfer zumeist bosnische Frauen.

Die Frauen, die systematischer Vergewaltigung ausgesetzt waren, wurden von serbischen Männern gezwungen, serbische Kinder zu gebären. Neben einem Genozid handelt es sich hierbei auch um einen Feminizid. Doch wurden die Vergewaltigungen nicht in vollem Umfang im Rahmen des Genozids gewertet.

Ein weiteres Beispiel ist das UN-Kriegsverbrechertribunal für Ruanda. 1994 starteten hier Hutus gegen die Minderheit der Tutsi einen Vernichtungsfeldzug: In 100 Tagen wurden fast eine Million Menschen getötet, 500 000 Frauen wurden vergewaltigt. Mit der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs wurde Vergewaltigung als Kriegsverbrechen anerkannt. Dieser Beschluss wurde über die Feststellung »Vergewaltigung ist ein Genozid, wenn sie als Methode angewandt wird, um Mitgliedern einer geschützten Gruppe schwerwiegende körperliche und seelische Schäden zuzufügen« getroffen. Zudem wurde festgehalten, dass »Vergewaltigung zur Verhinderung von Geburten in einer Gruppe verwendet« werden kann. Es wird damit gesagt, dass »in Gesellschaften, in denen die ethnische Herkunft über den Vater definiert wird, verhindert werden kann, dass das Opfer nach der Vergewaltigung ein Kind auf die Welt bringt, das der eigenen Gruppe angehört«.

Da dieser Beschluss auch die anderen Aspekte des Genozids mit einschließt, wird Vergewaltigung als Genozid gewertet. Ohne Krieg und Völkermord wäre Vergewaltigung allein nicht als Genozid gewertet worden. Der genannte Rahmen umfasst die Frau auch nicht als Frau und unter dem Aspekt der Vergewaltigung. Als Kriegsverbrechen wird gewertet, »in Gesellschaften, in denen die ethnische Herkunft über den Vater definiert wird, die Fortpflanzung dieser Gruppe zu verhindern und der anderen ethnischen Gruppe zu stärken«. Es besagt Folgendes: Egal, woher, wie und von wem Vergewaltigung begangen wird, ist sie ein auf das Geschlecht bezogener Genozid; es handelt sich um einen Angriff auf das weibliche Geschlecht gegen ihren Willen.

Somit ist der Hintergrund der Definition von Vergewaltigung wieder geprägt von der patriarchalen Gesinnung. Es handelt sich nicht um eine auf die Frau zentrierte Definition.

Dabei unterscheiden sich die alltägliche Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen nicht von der Gewalt und Vergewaltigung in Kriegen. Es zeigt uns, dass die gleiche vorherrschende Kultur sich bis in jede Zelle des gesellschaftlichen Lebensraumes ausgedehnt hat. Jeglicher Angriff auf und jegliche Einschränkung von Frauen, also nicht nur diejenigen im Rahmen von Kriegen, sollten als Verbrechen geahndet und als Feminizid definiert werden.

Statistische Daten zum Feminizid:

Weltweit ist eine von vier Frauen irgendwann in ihrem Leben mit häuslicher Gewalt konfrontiert.

Laut Schätzungen in Berichten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erfährt eine von drei Frauen irgendwann in ihrem Leben körperliche Gewalt, wird zum Geschlechtsverkehr gezwungen und anderweitig sexuell belästigt. Der Täter ist in der Regel ein Mitglied der Familie oder ein Bekannter.

Von 613 betroffenen Frauen in Japan haben 57 % physische, emotionale und sexuelle Gewalt erfahren.

Zwei Drittel der koreanischen Frauen werden regelmäßig von ihren Ehemännern geschlagen.

In Kenia werden einer Studie zufolge 41 % der Frauen regelmäßig von ihren Ehemännern geschlagen.

In Chile erfolgen 72 % aller sexuellen Übergriffe gegen Bekannte.

In Ägypten wurden 47,1 % der getöteten Frauen zuvor von ihren Verwandten vergewaltigt.

Weltweit wird eine von vier Frauen während der Schwangerschaft zum Geschlechtsverkehr gezwungen.

Ca. 40–70 % der getöteten Frauen werden von ihren Partnern ermordet. In den Jahren 1989–1996 wurden in Australien 43 %, in Bangladesch 50 %, in Zimbabwe 60 %, in Papua-Neuguinea 73 % von ihren Partnern getötet. In England und Wales wurden 2000/2001 42 % der Frauen und 4 % der Männer von ihren Partnern ermordet.

Der Kriminalitätsstatistik in Großbritannien zufolge sind ein Viertel aller kriminellen Fälle solche von häuslicher Gewalt. 81 % der Opfer sind dabei Frauen, 18 % Männer.
Lediglich 35 % der Opfer häuslicher Gewalt sprechen mit anderen darüber.

In Kriegsgebieten sind Vergewaltigungen, sexuelle Übergriffe, erzwungene Schwangerschaften Kriegsstrategie.

Vor dem Hintergrund all dieser Zahlen und der praktischen Entsprechung wäre es sinnentleert, zur Beschreibung des geschlechtsspezifischen Terrors lediglich von Gewalt zu sprechen. Es ist offensichtlich, dass es sich um einen Feminizid handelt, der durchgeführt, aber nicht offengelegt wird. Es ist zudem der Name eines namenlosen bzw. undefinierten Krieges.

Das Massaker in Şengal ist ein weiteres Beispiel für dieses Verbrechen. Gegen die êzîdischen Kurden wurde ein Genozid eingeleitet. Die Verbrechen gegen êzîdische Frauen erfordern jedoch eine gesonderte Bewertung. Sie sind ein typisches Beispiel dafür, den Genozid mit dem Feminizid vollenden zu wollen. Es erfordert einen Kampf und Opfer, um die systematische Gewalt gegen Frauen innerhalb der Kriegsverbrechen im Nahen Osten darzustellen.

Wir erleben weltweit jede Sekunde einen Feminizid, physisch, psychisch, ökonomisch. Gewalt, Krieg, Vergewaltigung und Repression sind Teil unseres Lebens. Dabei sind wir Frauen es, die diese Welt verändern können. Denn mit dem Feminizid hat die Geschichte ihren traurigen Lauf genommen. Ist dieser zu ändern, dann also nur mit Frauen.