Vor der Parlamentswahl in der Türkei
Die Organisierung der Marginalisierten
Mako Qoçgirî
Die 10%-Klausel in der Türkei ist eine Wahlhürde, die dazu gedacht ist, alle Bevölkerungsgruppen, die sich außerhalb des monistisch-kemalistischen Rasters von türkisch und sunnitisch-muslimisch verstehen, auch aus dem parlamentarischen System herauszuhalten. Diese Menschen haben sich entweder unterzuordnen oder sich assimilieren zu lassen. Anderenfalls wird ihnen schlichtweg durch die Wahlhürde das demokratische Grundrecht genommen, für die eigenen gesellschaftlichen und politischen Interessen einzutreten. Doch was passiert, wenn nun all diese gesellschaftlichen Gruppen, die laut offizieller Staatsideologie gar nicht existieren, aufstehen, sich gemeinsam unter einem Dach organisieren und so die 10%-Hürde nehmen?
Diese Frage ängstigt gerade die herrschenden Eliten in der Türkei. Denn unter dem Dach der Demokratischen Partei der Völker (HDP) haben sich neben den Kurdinnen und Kurden auch verschiedene Dachverbände der AlevitInnen, VertreterInnen der ÊzîdInnen, der Suryoye, der ArmenierInnen und TscherkessInnen und AktivistInnen der LGBT-Bewegung für die anstehenden Parlamentswahlen am 7. Juni zusammengefunden. Auch führende sozialistische Organisationen und Parteien haben sich dabei auf die Seite der HDP gestellt. Während die ESP (Sozialistische Partei der Unterdrückten) ohnehin ein Teil der HDP ist, wird die EMEP (Partei der Arbeit) im Bündnis mit ihr zur Wahl antreten. Die Organisationen DHF (Föderation für Demokratische Rechte), Partizan und Halk Evleri (Volkshäuser) rufen ihre AnhängerInnen auf, bei dieser Wahl die HDP zu unterstützen. Der wohl wichtigste Faktor für den Antrieb der HDP beim anstehenden Urnengang ist die Präsenz der Frauen in ihren Reihen. Bei einem Blick auf die KandidatInnenlisten der verschiedenen Parteien wird sofort deutlich, was die HDP von den anderen Parteien unterscheidet. 268 der insgesamt 550 KandidatInnen der HDP sind Frauen. Das sind prozentual gesehen rund 48 %. Bei der Republikanischen Volkspartei (CHP) und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) macht der Anteil der Frauen auf der KandidatInnenliste 18 % aus, bei der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ist er erwartungsgemäß nur noch halb so hoch.
Die HDP eröffnet einen neuen Horizont in der türkischen Politik. All diejenigen gesellschaftlichen Kreise, deren Stimme bislang in der türkischen Systempolitik nicht gehört oder gar unterdrückt wurde, sollen nun nicht durch die HDP vertreten werden, sondern können sich selbst in den Reihen der HDP vertreten. Die HDP stellt somit eine Bühne für alle ausgeschlossenen Kreise der Gesellschaft dar, auf der sie gleichberechtigt und demokratisch ihrem Willen Ausdruck verleihen können.
Doch noch sagen Umfragen einen knappen Wahlausgang voraus. Bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2014 konnte der HDP-Kandidat Selahattin Demirtaş 9,77 % der WählerInnenstimmen auf sich vereinen. Mensch mag davon ausgehen, dass mit der aktuellen Aufstellung der HDP die Wahlhürde deshalb kein Problem darstellen sollte. Doch so direkt vergleichen lassen sich die beiden Wahlen nicht, weil bei der Präsidentschaftswahl neben Demirtaş nur noch der gemeinsame MHP- und CHP-Kandidat Ekmeleddin İhsanoğlu und der damalige Minister- und jetzige Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan antraten.
Und es sind jener Erdoğan und seine AKP, die sich am meisten vor der HDP fürchten. Denn die türkische Regierungspartei hat »große Ziele« für die Zeit nach der Wahl und sieht nun deren Verwirklichung durch die HDP gefährdet. Präsident Erdoğan hat die Marschroute vorgegeben. Er forderte zunächst 400 gewählte AKP-Abgeordnete im türkischen Parlament. Gelingt das, kann seine Partei die Verfassung des Landes nach eigenen Vorstellungen ändern. Es ist nicht so, dass die Verfassung der Türkei in ihrer jetzigen Form ein schützenswertes Gut ist – die oben beschriebene 10%-Hürde ist nur einer von zahlreichen Gründen, weshalb sie es nicht ist –, doch Fakt bleibt, dass die AKP vieles im Sinn hat außer eben eine neue demokratische Verfassung für die Türkei. Präsident Erdoğan wünscht sich nämlich ein Präsidialsystem mit weitreichenden Befugnissen und nicht bloß ein PräsidentInnenamt mit vor allem repräsentativer Funktion (was es in seinem Falle ohnehin nicht ist, da er weiterhin als Vater der Partei und Regierung gilt, gegen den lieber nicht gesprochen und gehandelt wird). Erfüllt sich die Vorstellung von 400 Abgeordneten, blickt die Türkei mit aller Wahrscheinlichkeit in eine Zukunft mit einer autoritäreren Verfassung, was sich zweifellos in der politischen und gesellschaftlichen Sphäre widerspiegeln wird.
Bleibt die HDP unter 10 %, kann die AKP ihre Pläne ausführen. Knackt sie aber die Hürde, sieht es deutlich schwieriger aus. Vorsichtshalber hat auch Erdoğan jüngst nur noch von 335 AKP-Abgeordneten geredet, die er aber auf alle Fälle im Parlament sehen will. Die Zahl von 335 Abgeordneten reicht zwar nicht aus, um die Verfassung als Regierung allein zu verändern. Sie reicht aber aus, damit die Regierungspartei einen Verfassungsentwurf per Referendum durchsetzen kann, was sie bereits 2010 bei einer Verfassungsänderung erfolgreich demonstrierte. Doch selbst dieses Ziel ist in Gefahr, falls die HDP die Wahlhürde nimmt. Die Demokratische Partei der Völker spielt also auch in der wahltaktischen Kalkulation eine Schlüsselrolle bei der Parlamentswahl.
Umfragen sehen die HDP derzeit zwischen 9 und 12 %. Es steht also eine heiße Wahlkampfzeit an und das nicht nur in der Türkei. Denn auch in Europa können türkische StaatsbürgerInnen zwischen dem 8. und dem 31. Mai wählen, vorausgesetzt, sie haben schon bei der Präsidentschaftswahl aus dem Ausland teilgenommen oder sich rechtzeitig auf den WählerInnenlisten registrieren lassen. Erreicht die HDP in der Türkei lediglich 9,5 % der Stimmen, so können rund 250 000 weitere Stimmen aus dem Ausland ausreichen, um sie über die Hürde zu hieven. Also haben die WählerInnen in Europa, also diejenigen türkischen StaatsbürgerInnen, die gerade nicht in der Türkei leben, vielleicht einen besonders großen Einfluss darauf, in welche Richtung sich die Türkei nach der Wahl im Juni entwickelt.
Schwierigkeiten macht der AKP insbesondere, dass die HDP Anschluss bei so verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen findet. Dadurch läuft die 10%-Hürde Gefahr, ihren Sinn zu verlieren, nämlich die »Marginalen« aus dem Parlament und vom politischen Leben fernzuhalten. Die türkische Regierungspartei setzt deswegen derzeit alles daran, die HDP als »KurdInnenpartei« zu diffamieren, die den »Terror« und die »SeparatistInnen« decke. Gelingt ihr dies, so werden potentielle WählerInnen aus den nichtkurdischen Gebieten der HDP in letzter Sekunde doch den Rücken kehren, so das Kalkül. Und dass die AKP zur Verwirklichung dieses Ziels bereit ist, über Leichen zu gehen, zeigt die verstärkte Militäraktivität in den vergangenen Tagen und Wochen. Die Regierungspartei scheint daran interessiert, in einem Umfeld von bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Volksverteidigungskräften HPG und dem türkischen Militär in die Wahl zu gehen. Während die kurdische Freiheitsbewegung ihre bewaffneten Kräfte in der Türkei angewiesen hat, bis zur Wahl nach Möglichkeit jeder bewaffneten Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen, jagt von Seiten des türkischen Militärs derzeit eine Militäroperation die nächste. In Agirî (Ağrı) ist es am 11. April bereits zu den ersten Toten gekommen und wahrscheinlich hat nur ein Einschreiten der Zivilbevölkerung verhindert, dass die Zahl der Toten noch höher ausgefallen ist. Dass die AKP derzeit versucht, in einem Umfeld erneut aufflammender militärischer Konflikte die türkische Gesellschaft zu polarisieren, steht außer Frage. Wichtig ist, wie die Antwort der Bevölkerung der Türkei darauf aussehen wird.
Zum Schluss vielleicht noch einige Worte zu der Frage, wie es weitergehen wird, wenn die HDP am Ende, aus welchen Gründen auch immer, doch nicht die Wahlhürde schafft. Ihr Wahlkampf hat einen Prozess in Gang gebracht, der, egal ob es am Ende mehr oder weniger als 10 % werden, so nicht mehr umkehrbar ist. Er hat Menschen und Gruppen zusammengebracht, die bislang dachten, mit ihren gesellschaftlichen Sorgen auf sich allein gestellt zu sein. Und dieser Prozess wird ohne Zweifel eine Dynamik anschieben, die vielleicht auch im Parlament, aber mit absoluter Sicherheit außerparlamentarisch für viel Bewegung sorgen und gegen das Autoritätsstreben der AKP Widerstand leisten wird. Das Parlament ist ein Faktor in diesem Widerstand, die gesellschaftliche Organisierung außerhalb des Parlaments aber vermutlich der viel wichtigere Posten.