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brussel 210. EUTCC-Konferenz, EU-Parlament Brüssel, 4.–5. Dezember 2013

Die Türkei, die KurdInnen und der Imralı-Friedensprozess: eine historische Chance

Redebeitrag von Prof. David L. Phillips

Prof. David L. Phillips ist Direktor des Studiengangs „Peace-building und Recht“ am Institut für Menschenrechtsstudien der Columbia University New York. Er hat u. a. als leitender Berater des Büros für Europäische Angelegenheiten sowie als außenpolitischer Berater für das Nahostpolitik-Büro im US-Außenministerium gearbeitet.

 

Die PKK hat am 23. März 2013 einen Waffenstillstand und den Rückzug ihrer Einheiten vom türkischen Staatsgebiet erklärt. Diese Erklärung bietet eine historische Chance, den kurdischen Konflikt in der Türkei zu lösen, in dessen Rahmen seit 1984 mehr als 30000 Menschen gestorben sind. Darauf folgend ist der Friedensprozess eher stagniert. Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan betrachtete den Waffenstillstand eher als Ziel, anstatt ihn als Teil eines Prozesses zu begreifen, durch den die Ursachen des Konflikts behoben werden können. Am 5.12.2013 setzte die PKK folglich den Rückzug ihrer Einheiten aus.

DAS DEMOKRATIEPAKET

Erdoğan hatte am 30.9.2013 ein Demokratiepaket vorgestellt. Er schlug vor, einige Rechte der kurdischen Bevölkerung zu stärken – kurdischsprachiges Fernsehen zu erlauben, Kurdischunterricht an privaten Schulen zu ermöglichen und Kurdisch als Sprache in den Schulen zu legalisieren und als Wahlfach anzubieten. Außerdem schlug er vor, die Verbannung von Kopftüchern im öffentlichen Dienst aufzuheben.

Diese Reformen sind ein Fortschritt, aber ihnen mangelt es an folgenden notwendigen Garantien für die kurdische Identität sowie kulturelle und politische Rechte in der Verfassung.

Notwendige Schritte wären:

– Die Überwindung von Rasse, Ethnie, Sprache oder Religion als Grundlage der StaatsbürgerInnenschaft in der Verfassung.

– Die Veränderung oder Aufhebung von Art. 8 des „Anti-Terror-Gesetzes“, der eine zu weitgehende Definition von Terrorismus ermöglicht, von Art. 301 des Strafgesetzbuches, der die „Verunglimpfung des Türkentums“ unter Strafe stellt, sowie der Art. 215, 216, 217 und 220, die genutzt werden, um die Meinungsfreiheit einzuschränken.

– Die Freilassung der Mitglieder der KCK. Tausende von ihnen wurden zwischen 2009 und 2011 aufgrund prokurdischer Aktivitäten inhaftiert und sind mit Prozessen wegen vermeintlicher „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ konfrontiert.

– Einen Plan zu entwickeln, um die Entwaffnung, Truppenauflösung und Reintegration der PKK zu ermöglichen – darin inbegriffen müsste eine Amnestieregelung sein.

VERFASSUNGSÄNDERUNGEN

Die Türkei kann aus den Erfahrungen in Staaten, die eine verfassungsgemäße Gewalten- und Machtteilung als Mittel der Konfliktregulierung nutzen, lernen und davon profitieren.

Einheitsstaat

Ein Einheitsstaat wird von einer Einheit, der Zentralregierung, regiert, die als letztendliche Autorität wirkt. Weitere innerstaatliche/regionale Einheiten können in solchen einheitlichen Staaten existieren – sie haben allerdings lediglich Befugnisse, die an die Zentralregierung gekoppelt sind. In einem Einheitsstaat werden diese innerstaatlichen/regionalen Einheiten sowie deren Befugnisse von der zentralstaatlichen Einheit genehmigt, eingerichtet und abgeschafft.

Übertragung administrativer Unabhängigkeit

Ein Einheitsstaat kann lokalen Regierungen Machtbefugnisse zuteilen – wobei der Zentralregierung vorbehalten bleibt, diese Befugnisse zu ändern oder abzuschaffen. Die Erteilung kann dabei symmetrisch oder asymmetrisch stattfinden. Symmetrisch bedeutet die Gewährung der gleichen Machtbefugnisse für sämtliche innerstaatlichen/regionalen Einheiten – asymmetrisch bedeutet, dass den Regionen unterschiedlich weit gehende Befugnisse erteilt werden.

Föderalismus

Föderalismus trägt Unterschieden zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen Rechnung, die sich in eine gemeinsame demokratische politische Ordnung begeben. Die Zentralregierung hat eine durch die Verfassung garantierte vorrangige Autorität. Sie hat üblicherweise Macht über Belange der Verteidigung und der Außenpolitik und die Finanzen. In föderalen Staaten wird die Souveränität zwischen der Zentralregierung und den innerstaatlichen/subnationalen Einheiten aufgeteilt. Föderale Einheiten/Länder, die eine Föderation bilden, haben ein eigenes Existenzrecht und Funktionen, die nicht einseitig von der Zentralregierung geändert werden können. Symmetrischer Föderalismus beinhaltet die gleichen Rechte für jede subnationale Einheit. Asymmetrische Arrangements berücksichtigen dagegen die einzigartigen Voraussetzungen und Bedürfnisse der subnationalen Einheiten und verteilen die Machtkompetenzen dementsprechend unterschiedlich.

Autonomie

In den letzten fünfzig Jahren haben sich ausgeweitete Standards bezüglich der Minderheitenrechte entwickelt. Die zwei herausragenden Rechte sind

a.) Gleichheit und Diskriminierungsverbot und

b.) Schutz und Beförderung der einzigartigen Identität von Minderheiten.

Regionale und kulturelle Autonomie werden ebenfalls weiträumig genutzt, um Minderheiten- und Gruppenrechte zu schützen und zu befördern. Autonomievereinbarungen verbessern die Souveränität durch Gewährung der Autorität in Fragen der Selbstverwaltung/Regierung, Wirtschaft und Kultur:

– Selbstverwaltung/Regierung: Schützt die Rechte der BürgerInnen und erzeugt ein Umfeld der kulturellen Entfaltung. Die Institutionen der subnationalen Selbstverwaltung geben durch ihre Repräsentanz und die Wahrung regionaler Interessen regionalen Belangen eine Stimme. Subnationale Einheiten können eine regionale Exekutive, Legislative, Judikative und Justizverwaltung samt Polizeiapparat entwickeln, die in der Kommune verwurzelt sind, der sie dienen.

– Wirtschaft: Ungleichheit und ökonomische Unterschiede sind oft der Ursprung von Konflikten. Wirtschaftliche Machtbeteiligung beinhaltet Entscheidungen, die die Entwicklungen in Bezug auf Ressourcen, Steuern und Einkommen, Handel, Beschäftigung, Einstellungspraxis und Landbesitz betreffen.

– Kultur: Mit einer gemeinsamen Kultur als Grundlage einer Gruppenidentität umfasst kulturelle Autonomie typischerweise:

> Bildung (z. B. Lehrplanentwicklung, LehrerInnenausbildung, Supervision und den Aufbau von Schulen).

> Minderheitensprache (z. B. das Nutzen von Minderheitensprachen in Schulen, Kenntnisse der Minderheitensprachen von SchülerInnen und LehrerInnen, Kenntnisse von Regionalsprachen in regionalen Regierungsstellen und Verwaltungen, das Nutzen regionaler Sprachen in offiziellen Dokumenten, juristischen Verfahren, juristischen Dokumenten und in lokalen Print- und elektronischen Medien).

> Kulturelle Symbole (z. B. das Nutzen von Fahnen, Stempeln, Emblemen und das Durchführen von regionalen Feiertagen, Ferien und Festen).

Autonomie wird die Türkei grundsätzlich verändern und das Land repräsentativer und demokratischer machen. Der Prozess der Umsetzung kann mit der Umsetzung und Einhaltung der Charta des Europarates für die Autonomierechte lokaler Regierungen beginnen. Wenn die Türkei auf eine landesweite Umsetzung dieser Rechte nicht vorbereitet ist, kann Erdoğan mit einem asymmetrischen Ansatz beginnen, die Rechte der Selbstverwaltung im Südosten zu ermöglichen.

DIE WURZELN DES KONFLIKTS

Eine in der Verfassung geregelte Machtteilung kann den Sumpf der Unterstützung für die PKK austrocknen. Trotzdem bedarf es weiterer friedensbildender Maßnahmen einschließlich der Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration (DDR – Disarmament, Demobilization and Reintegration) der ehemaligen KombattantInnen, Amnestie- und Asylregelungen wie auch Gerechtigkeit, Wahrheitsfindung und Versöhnung.

Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration

DDR trägt dazu bei, Sicherheit und Stabilität in der Nachkonflikterholungsphase dadurch herzustellen, dass die KombattantInnen entwaffnet werden. Diese Maßnahmen holen sie aus den militärischen Strukturen heraus und helfen ihnen, sich in das soziale und wirtschaftliche Leben zu integrieren und sich eine Existenz aufzubauen.

Den UN zufolge gilt Folgendes:

– Entwaffnung bedeutet die umfassende Sammlung, Dokumentation, Kontrolle und Abgabe kleiner Waffen, von Munition, Sprengstoffen und leichten und schweren Waffen von ehemaligen KombattantInnen und der Zivilbevölkerung.

– Demobilisierung bedeutet die formale und kontrollierte „Entlassung“ der aktiven KombattantInnen aus bewaffneten Armeen oder Gruppen. Der erste Schritt beinhaltet ihre Unterbringung in vorübergehenden Zentren oder ihren Aufenthalt in bestimmten Arealen.

– Reintegration ist der Prozess, in dem die ehemaligen KombattantInnen einen zivilen Status und eine tragfähige Beschäftigung mit entsprechendem Einkommen in der Nachkonfliktphase erhalten. Reintegration steht im Zusammenhang mit sozialen und ökonomischen Fragen und ermöglicht KombattantInnen, AkteurInnen des Friedens zu werden.

DDR wird normalerweise im Rahmen eines Waffenstillstands- oder Friedensabkommens definiert, das den legalen Rahmen von DDR bildet. Seit den späten 1980er Jahren wurde DDR zur Standardmaßnahme in Friedensabkommen und Nachkonflikts-„Peacebuilding“- Prozessen. 34 DDR-Programme wurden zwischen 1994 und 2005 umgesetzt. 2007 beteiligten sich mehr als eine Million ehemaliger KombattantInnen in 19 Ländern an DDR-Programmen. Die Gesamtkosten dieser Programme werden auf mehr als 1,6 Milliarden US-Dollar geschätzt. Das sind durchschnittlich 1434 Dollar pro demobilisierte Person.

Die Durchführung derartiger Programme durch regionale Kräfte ist wichtig. DDR schlägt oft fehl, wenn die Maßnahmen als Top-down-Initiative, ohne Beteiligung und Koordination durch regionale Offizielle und direkt beteiligte Kommunen durchgeführt werden. „Kommunenzentrierte“ DDR verbindet die Bedürfnisse der ehemaligen KombattantInnen und Opfer mit denen der gesamten Kommunen.

Amnestie und Asyl

Oft sind Amnestien Inhalt von Friedensabkommen, um eine Umsetzung von DDR zu ermöglichen. Amnestien helfen, Frieden und Versöhnung zu ermöglichen, weil sie KombattantInnen aus den Rebellenbewegungen locken, im Exil Lebende dazu ermutigen zurückzukehren, die Reintegration von vertriebenen ZivilistInnen unterstützen und ehemalige KämpferInnen und StaatsdienerInnen vor Verfolgung schützen.

Amnestieregelungen beinhalten typischerweise:

– Kategorien: Straftaten, die politisch oder konfliktbedingt sind, gewöhnliche Straftaten inbegriffen, internationale Straftaten oder Wirtschaftskriminalität. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit können in Betracht gezogen werden.

– Eignungskriterien: Zugehörigkeit, Rang und die Umstände der Beteiligung sind zu bestimmende Eignungskriterien. Amnestien können staatliche AkteurInnen (z. B. Armee-, Polizei- und Geheimdienstangehörige), parastaatliche AkteurInnen (z. B. Milizen, Paramilitärs und Selbstverteidigungsgruppen) oder nichtstaatliche AkteurInnen (z. B. Rebellengruppen, private Unternehmen oder religiöse Institutionen) betreffen.

– Rechtliche Konsequenzen: Amnestien verpflichten typischerweise die AntragstellerInnen dazu, umfassende und vollständige Auskunft über die begangenen Straftaten zu geben. Auch Auskunft über oder die Preisgabe von Wissen und Beweisen über Straftaten anderer können verlangt werden. Eine Bedingung für die Gewährung einer Amnestie kann eine öffentliche Entschuldigung für die Rechtsverletzungen sein.

Es besteht ein Spannungsfeld zwischen der Rolle von Amnestien im Rahmen von DDR-Maßnahmen und dem Ziel der Strafverfolgung durch die Justiz in gesellschaftlichen Transformationsprozessen bzw. Übergangsphasen. Amnestien ermutigen ehemalige KombattantInnen, sich zu entwaffnen und zu demobilisieren, um das Friedensziel in einer möglichst kurzen Zeitspanne zu erreichen, während gleichzeitig der Übergangsjustiz/Übergangsrechtsprechung möglichst wenig Schaden in Bezug auf die Werte Wahrheit, Gerechtigkeit, Entschädigung und Reform zugefügt werden soll, um einen nachhaltigen und dauerhaften Frieden zu ermöglichen.

Einige AkteurInnen betrachten Amnestien allerdings als Quelle der Straflosigkeit, die durch die Aufhebung der Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung im Rahmen der „Übergangsjustiz/Übergangsrechtsprechung“ bedingt ist. Amnestien, die auch die schwersten Verbrechen umfassen, können auch die Rechte der Opfer aushöhlen. In solchen Fällen können Amnestien das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat erschüttern.

Bis jetzt war Abdullah Öcalan in der Lage, die Beteiligung der PKK zu koordinieren. Aber einige führende KommandantInnen könnten sich Öcalans Führungsrolle widersetzen, wenn der Friedensprozess in ihrer Inhaftierung gipfeln würde. „StörerInnen“ könnten den Friedensprozess untergraben, wenn sie justizielle Verfolgung befürchten. Warum sollten kampfgestählte FeldkommandantInnen untergebenen RekrutInnen erlauben, die Organisation zu verlassen, wenn sie dann Anklagen gegen sich befürchten müssten?

In Bezug auf die Türkei könnte ein effektives Mittel sein, zwischen neuen RekrutInnen und verantwortlichen KommandantInnen zu unterscheiden. Amnestietauglichkeit könnte neuen und niederrangigen PKK-Mitgliedern gewährt werden, die keine Befehlsgewalt innehatten. Viele Teejungen der Basis haben niemals eine Waffe abgefeuert. Eine größere Herausforderung sind leitende KommandantInnen, die von Interpol gesucht werden. Für sie könnte Asyl in den Ländern, in denen sie momentan leben, eine bessere Option sein.

Gerechtigkeit, Wahrheitsfindung und Versöhnung

In der Folgezeit gewalttätiger Konflikte haben viele Staaten Wahrheitsfindungsprozesse oder institutionalisierte Wahrheitsfindung und Versöhnung durch die Einrichtung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen (TRC) durchgeführt. Die Wahrheitsfindung hilft Staaten beim Übergang von Krieg zu Frieden oder von autoritären Gesellschaftsformen zur Demokratie. Im Gegensatz zu straforientierter Justiz kann dadurch Vertrauen aufgebaut, der Kreis der Gewalt aufgebrochen und der Rechtsstaat verwurzelt werden.

TRC sind im Wesentlichen opferzentriert. Typischerweise berücksichtigen sie Verstöße in einem bestimmten Zeitrahmen, im Gegensatz zu einem bestimmten Vorfall. Als ein Ziel des Mandats veröffentlicht die Kommission eine Darstellung der historischen Periode. Das beinhaltet auch die Gründe und Konsequenzen von Gewalt und Straftaten. TRC können direkt in Strafverfolgung münden (wie z. B. in Argentinien und Chile) oder eine Alternative zur Strafverfolgung sein (wie z. B. in Südafrika).

Das Design der Wahrheitsfindungsprozesse hängt vom Umfang der politischen Intention, strategischen und technischen Erwägungen ab.

– Grundsätze/Ziele: Die TRC versucht, Fakten zu ergründen und zu interpretieren, indem sie die Erfahrungen der Opfer aller Seiten des Konflikts betrachtet. Die Aktivitäten können ZeugInnenbefragungen, die Sichtung von Aufzeichnungen/Berichten/Akten, Ortsbesichtigungen und die Durchführung forensischer Untersuchungen sein.

– Kompetenz: Die TRC berücksichtigen spezifische Verbrechen in einer bestimmten Zeit, auf einem bestimmten Territorium (z. B. Marokko 1956–99, Südafrika 1960–94) und bestimmte Zielgruppen (z. B. Staatsbedienstete und SicherheitsbeamtInnen oder nichtstaatliche Gruppen). Die TRC können Informationen in Bezug auf die Region, den Hintergrund der Opfer, die Art der Ausübung oder das Muster des Verbrechens in Betracht ziehen.

– Autoritäten: Die TRC können durch ein präsidiales Dekret eingesetzt werden (z. B. in Argentinien, Peru, Chile und Honduras), durch die Gesetzgebung (z. B. in Südafrika, Liberia, Kenia), durch die Exekutive und Legislative (z. B. in Nigeria, Demokratische Republik Kongo), durch die Justiz (z. B. in Kanada, Kolumbien), durch die UN (z. B. in Ost-Timor) oder als Teil eines Friedensabkommens (z. B. in El Salvador).

– Zusammensetzung: TRC-Mitglieder sollten Persönlichkeiten sein, die in dem Ruf stehen, hohe moralische Werte zu vertreten. Sie können direkt vom Präsidenten benannt werden (z. B. in Panama), von der Legislative (z. B. in Deutschland) oder der Exekutive und Legislative (z. B. in Sierra Leone und Südafrika). Mitglieder können nur aus der betroffenen Nation stammen (z. B. in Uganda) oder nur Fremde sein (z. B. in El Salvador). Die Kommission kann von den UN beraten werden (z. B. in Sierra Leone) oder von internationalen ExpertInnen (z. B. in Ost-Timor).

– Finanzierung: Die Kosten der TRC können von der Regierung getragen werden (z. B. in Argentinien), von internationalen SpenderInnen (z. B. in El Salvador), nationalen und internationalen TrägerInnen (z. B. in Peru) oder privaten SpenderInnen (z. B. in Nigeria).

– Befugnisse: Die TRC können gemeinschaftlich arbeiten und ZeugInnen Schutz oder Rechtshilfe gewähren (z. B. Immunität, Gnade oder Amnestie). Sie sollten auch die Befugnis zur Zwangsvorführung haben.

– Transparenz: Die Arbeit der Kommissionen sollte transparent sein. Die Öffentlichkeit und die Autoritäten sollten über Anhörungen und weitreichende Aktivitäten informiert werden.

Wahrheit wird auf zwei unterschiedliche Weisen zum Ausdruck gebracht – durch Stimme und durch Beweise. Stimme beinhaltet die persönliche Darstellung der Opfer, von ZeugInnen, Familienmitgliedern und Überlebenden, die ihre Geschichte in ihren eigenen Worten berichten. Ihnen wird ein Forum gegeben, durch das sie gehört werden. Dadurch wird die größtmögliche Reichweite und Heilungskraft erreicht. Wahrheit wird auch durch Bezeugen zum Ausdruck gebracht. Das beinhaltet Ansammeln von Beweisen in diesen Verfahren, wodurch eine Ordnung entsteht, die Verantwortungsbewusstsein befördert.

Auch NGOs oder inoffizielle Wahrheitsprojekte produzieren Erinnerungsarbeit (z. B. Theater-, Kunst-, Video- und Literaturprojekte, die sich auf die Vergangenheit beziehen, wie auch Gedenkstätten, Museen und Wanderausstellungen).

FORMAT

Der Imralı-Friedensprozess könnte durch eine Änderung der Rhetorik/des Tons und des Formats vorangebracht werden. Die KurdInnen nehmen Erdoğan seine Einseitigkeit und seinen Mangel an Transparenz übel. Die Verhandlungen könnten durch eine Erweiterung der TeilnehmerInnen auf beiden Seiten und durch ein Monitoring-System der internationalen Gemeinschaft erfolgreich gestaltet werden. Die Gespräche würden von einem Ortswechsel profitieren. Von der Teilnahme einer dritten „Partei“ könnten positive Impulse ausgehen.

Masud Barzanî, Präsident der kurdischen Autonomieregion im Nordirak, könnte eine Rolle spielen. Er hat enge Kontakte zu PKK-Kreisen. Zusätzlich sind die Türkei und die Autonome Region Kurdistan strategische Partner geworden. Türkische Unternehmen haben im Jahr 2012 Waren im Wert von 13 Milliarden Dollar an KundInnen im irakischen Kurdistan verkauft. Türkische Bauunternehmen haben Verträge mit einem Volumen von mehr als 30 Milliarden Dollar unterzeichnet. Die Kooperation im Bereich der Energiepolitik expandiert zunehmend. Erdoğan hat jüngst Barzanî nach Diyarbakır [kurd.: Amed] eingeladen. Die beiden standen Seite an Seite und sprachen über „Kurdistan“.

Ankara hat Schritte unternommen, um seine harsche Rhetorik gegenüber der PKK zu mäßigen. Die europäischen Regierungen und die USA sollten die PKK, in Anbetracht des Waffenstillstands der PKK, von ihren Terrorlisten streichen, um den Friedensprozess wiederzubeleben.

GESAMTSITUATION

Negative regionale und innerstaatliche Entwicklungen haben eine ungünstige Gesamtsituation für Verhandlungen geschaffen. Die türkische Außenpolitik der „zero problems with neighbours“ ist ein Fiasko. Die Türkei befindet sich im Konflikt mit allen Nachbarn außer dem irakischen Kurdistan.

Erdoğan ist ein Akteur, der sich für eine militärische Intervention in Syrien starkmacht. Aber die türkischen BürgerInnen sind davon nicht überzeugt. Einer Erhebung des German Marshall Fund of the United States zufolge sind 72 % der TürkInnen der Ansicht, dass sich die türkische Regierung komplett aus dem Konflikt in Syrien heraushalten sollte. Die Menschen ärgern sich über die Unterstützung der syrischen Flüchtlinge und die verbreitete grenzüberschreitende Gewalt.

Die Türkei unterstützt vorgeblich die Al-Nusra-Front und andere Dschihad-Gruppen. Diese ausländischen KämpferInnen stehen im militärischen Konflikt mit der syrischen Armee und den syrischen KurdInnen. Die Türkei will die KurdInnen davon abhalten, eine autonome Region in Syrien zu errichten, die sie „Rojava“ nennen.

An der Seite sunnitischer ExtremistInnen befindet sich die Türkei mit Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten im Bündnis gegen das Assad-Regime. Erdoğan hat zudem Verbindungen zur Moslembruderschaft in Tunesien und Ägypten – und ist ein offener Unterstützer der Hamas.

An der Heimatfront ist Erdoğans Demokratienachweis durch die gewaltsame Unterdrückung der friedlichen Protestbewegung im Gezi-Park am 28. Mai 2013 beschädigt. Die Proteste weiteten sich, angeheizt durch Polizeibrutalität und die systematische Inhaftierung von Protestierenden, auf 70 Städte aus. Die Türkei verlor ihre Bewerbung um die Austragung der Olympischen Spiele 2020 u. a. als Konsequenz der Gewalt im Gezi-Park.

Die türkische Bevölkerung verübelt der Regierung ebenfalls den Einbruch in ihre Privatsphäre. Die Meinungsfreiheit wird durch Prozesse gegen politische GegnerInnen angegriffen. Seit 2007 wurden mehr als 500 JournalistInnen und Militärs inhaftiert, da sie beschuldigt werden, Komplotte gegen Erdoğans Regierung geschmiedet zu haben. Das Komitee zum Schutz der JournalistInnen berichtet, dass die Türkei in Bezug auf die Medienfreiheit auf dem 154. Platz von 179 Staaten gelistet ist.

Die neuesten Entwicklungen in der Türkei lassen Zweifel aufkommen, ob dieser Staat noch ein vertrauenswürdiger Friedenspartner ist. In Anbetracht seiner Arroganz, seines autoritären Vorgehens und seiner polarisierenden Persönlichkeit ist fraglich, ob Erdoğan über die notwendigen Fähigkeiten verfügt, um mit der PKK einen nachhaltigen Frieden zu verhandeln.

Erdoğan wird immer in seinem eigenen politischen Interesse handeln. Er benötigt den Friedensprozess, wenn er seine Zeugnisse national und international aufpolieren möchte. Wenn er sich vom Friedensprozess verabschiedet, muss er das seinen WählerInnen erklären und die Verantwortung tragen.

Da in der Türkei in einem Zweijahresrhythmus gewählt wird, steht Erdoğan an einer Weggabelung. Er könnte seinen Konfrontationskurs ausweiten, um nationalistische WählerInnen zu bedienen. Alternativ könnte er staatsmännisch handeln und Großmut und Flexibilität beweisen. Die internationale Gemeinschaft könnte ihn durch eine Neuverpflichtung zum türkischen EU-Beitrittsprozess und die Unterstützung der Interessen der Türkei in der Region ermutigen.

Öcalans Part könnte sein, den Waffenstillstand weiterzuentwickeln, um die Hardliner, die seinen Ansatz als zu versöhnlich bewerten, abzuwehren. Wenn die PKK ihre Beteiligung am Friedensprozess aufhebt, könnte sie das Wiedererwachen des Konflikts auslösen. Beide Seiten haben realisiert, dass eine Rückkehr zu den Waffen nicht wünschenswert ist.

Der „Reifheitstheorie“ entsprechend erreicht jeder Konflikt einen Punkt, an dem die Konfliktparteien der Konfrontation müde sind und zu der Schlussfolgerung kommen, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, Frieden zu ermöglichen. Der Konflikt der Türkei mit der PKK ist reif für eine Lösung. Durch praktische Schritte, prinzipientreue Führungspersönlichkeiten und die Ermutigung seitens der internationalen Gemeinschaft kann der Friedensprozess noch immer eine Win-win-Situation für beide Seiten bedeuten.


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