Aufarbeitung der Vergangenheit und Kolonialismus:
Ein dekolonialer Blick auf die kurdische Frage
Özgür Sevgi Göral, Zentrum für Wahrheit, Gerechtigkeit, Erinnerung
I. Marc Nichanian schreibt, dass der Genozid nicht von überlebenden Zeug*innen erzählt werden könne, da Genozid nicht nur die Menschen auslöscht, sondern zugleich ihre Zeug*innenschaft und ihre Sprache.1 Folgt man Nichanian, so besteht die Katastrophe, die aus dem Genozid an den Armenier*innen resultiert, auch in der Vernichtung von Sprache und der Beseitigung von Zeug*innenschaft. Die Katastrophe ist (folgender Begriff wäre in einem Atemzug zu lesen:) »das Ereignis-ohne-Zeug*innen«. Zweifelsohne meint Genozid in vielerlei Hinsicht eine einzigartige Form der Gewalt, doch hinsichtlich der zerstörerischen Auswirkungen der Gewalt auf Zeug*innenschaft lassen sich sehr wohl Vergleiche anstellen. So gelangt auch der von Nichanian selbst zitierte Sozialwissenschaftler Idelber Avelar ausgehend von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Folterpraktiken in Lateinamerika zu einem ähnlichen Ergebnis.
Staatliche Gewaltakte dieser Art richten sich immer auch auf eine Beseitigung von Zeug*innenschaft, und Folter ist keine Erfahrung, die sich innerhalb der Grenzen der Sprache beschreiben ließe. Folter bedeutet eben auch eine Zersplitterung der Sprache.2
Da systematische staatliche Gewaltpraktiken zugleich die Zeug*in oder eine potentielle Zeug*innenschaft zerstören, handelt es sich um Praktiken, über die zu sprechen beinahe aussichtslos und die wiedergutzumachen schlechthin unmöglich scheint.
Außergewöhnlich klar schlägt uns dieser Umstand bei der ersten Generation von Zeug*innen des 2. Weltkrieges entgegen. Die Opfer von nationalsozialistischer Gewalt und Überlebenden des Holocaust – unter denen in der Türkei Primo Levi der bekannteste ist – fassen die Gewalt und Zerstörung, die sie erlebten, als »Zeug*innen« in Worte, die sich vielleicht als »melancholisches Erinnern« bezeichnen ließen. Damit verweisen diese Autor*innen, die überwiegend ihr Leben durch den Freitod beendeten, auf zwei Aspekte: erstens auf die notwendigerweise fragmentarische Art, das Erlebte in Worte zu fassen, zweitens darauf, dass keine Form des Schreibens dem vom Erlebten hervorgerufenen Horror je gerecht werden könnte.3 Die erlebte Gewalt ist von einer solchen Beschaffenheit, dass sie nicht nur nicht wiedergutgemacht, sondern nicht einmal hinreichend in Worte gefasst werden kann.
In welcher Form und auf welcher Grundlage kann man sich mit dieser kaum in Sprache zu fassenden Masse an Erfahrungen überhaupt auseinandersetzen? Ein wichtiger Teil der Antwort findet sich in Nichanians eingangs zitiertem Text. Eine Wiedergutmachung in dem Sinne, dass die Individuen, die solch intensiver Gewalt und Zerstörung ausgesetzt gewesen sind, wiedererlangen, was sie verloren haben, oder ein strenger, unmittelbarer Ausgleich für das in der Vergangenheit Geschehene erzielt wird, ist unmöglich. Sehr wohl möglich aber ist ein politischer Friede. Politischer Friede ist, bei aller Gefahr, zu einem »Theater der Zeug*innenschaft« auszuarten, den Geschädigten ihre Trauer zu rauben oder zu manipulieren, und bei aller Tendenz, neue Formen von Herrschaft hervorzubringen, dennoch eine Möglichkeit, die nicht in Bausch und Bogen verdammt werden sollte.4
Der Begriff des politischen Friedens bildet auch die Grundlage der sogenannten Transitional Justice – eines Konzeptes, das seit geraumer Zeit als eine Methode zur Aufarbeitung der Vergangenheit mittels bestimmter Mechanismen entwickelt wird. Transitional Justice besteht aus der Einrichtung von Mechanismen zur Bewältigung einer Reihe von Aufgaben: Umsetzung bestimmter Forderungen nach Rechten und Gerechtigkeit auf politischer Ebene; gezielte Transformation staatlicher Strukturen; Verurteilung und Rechenschaft von Täter*innen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben; offizielle Anerkennung, dass und in welchem Ausmaße staatliche Gewalt stattgefunden hat, und in Verbindung damit eine Erneuerung des gesellschaftlichen Erinnerns, das nun auch neue Narrative aufzunehmen hat. Es handelt sich bei diesen Mechanismen um eine umfassende Reihe von Vorschlägen, die von Wahrheitskommissionen bis zur Strafverfolgung, von institutionellen Reformen bis zu Orten des Erinnerns reichen und sowohl Wege und Methoden zur Auseinandersetzung mit staatlichen Gewaltpraktiken und systematischen, schweren Menschenrechtsverletzungen aufzeigen als auch konkrete Forderungen nach Rechten erfüllen sollen.5 Die Vorschläge sollen einen Fahrplan für Länder darstellen, die in ihrer Vergangenheit Völkermord, Militärputsch, bewaffnete Konflikte oder autoritäre Regime erlebt haben und sich nun mit diesen Erfahrungen auseinandersetzen. Die Auseinandersetzung mit schweren und systematischen Rechtsverletzungen und ausufernder staatlicher Gewalt kann nur mithilfe von speziellen Vorkehrungen und Mechanismen gelingen. Inwiefern sie überhaupt gelingen kann und die solcher Gewalt ausgesetzten Individuen zufriedenzustellen vermag, bzw. in welchem Maße die Mechanismen der Transitional Justice die gestellten Forderungen nach Gerechtigkeit erfüllen, ist Gegenstand einer nicht endenden Debatte und kritischen Hinterfragens.
II. Der ethno-politische Konflikt, der in der Türkei als »Kurd*innenproblem« bezeichnet wird, hat über die letzten 40 Jahre auf prägnante Weise die verschiedenen staatlichen Institutionen sowie die Gesamtheit des politischen und gesellschaftlichen Raumes determiniert und geformt. Am 15. August 1984 machten die bewaffneten Kräfte der Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiter*innenpartei Kurdistans – PKK) durch bewaffnete Aktionen in Dihê (Eruh) und Şemzînan (Şemdinli) von sich reden. Die PKK-Bewegung wurde zunächst von den staatlichen Institutionen als »Handvoll Räuber*innen« (çapulcu) bezeichnet, konnte jedoch von Anfang der 80er bis Ende der 90er Jahre in Kurdistan ihre politische Massenbasis verbreitern und gleichzeitig mit ihren militärischen, politischen und kulturschaffenden Einheiten im türkischen Kurdistan zum militantesten und einem der bedeutendsten politischen Akteure werden.6 Die PKK unterschied sich von den bisherigen kurdischen Aufständen und markierte in zweierlei Hinsicht eine Zäsur: Erstens differenzierte sie sich radikal vom romantischen Gestus der vorhergegangenen Periode, der die Unterjochung der Nation beklagt oder sich militant für Verfassungsreformen eingesetzt hatte. Zweitens verschrieb sich die PKK einer Widerstandskultur im Sinne Fanons und einer antikolonialen Gewaltstrategie, die behauptete, die kurdische Gesellschaft sei auch selbst verantwortlich für den Zustand der Sklaverei, in der sie lebte, und könne sich nur befreien, wenn die antikoloniale Gewalt eine Dimension enthalte, die sich gegen sich selbst richtete.[7] Ein solcher Aufruf zur antikolonialen Gewalt fand zunächst insbesondere unter den kurdischen Jugendlichen ein großes Echo; im Laufe der 90er Jahre errichtete die PKK-Bewegung eine Reihe verschiedener Institutionen, etablierte und behauptete sich als ein wichtiger Akteur im Kampf um das Schicksal der Kurd*innen und Kurdistans. Als politischer Akteur wurde die PKK durch den Staat mit harten und gewaltvollen Mitteln bekämpft. Seit die Bewegung sich geformt hatte, wurde sie mit einer zutiefst militaristischen Antwort in die Mangel genommen, und die türkischen Streitkräfte bekämpften die PKK mit all ihrer soldatischen Macht. Zwar lassen sich zwischen den verschiedenen staatlichen Akteuren manche Unterschiede aufzeigen, doch im Diskurs des Staates kam die PKK über die 90er Jahre hinweg nur als Räuber*innen und Terrorist*innen vor. Insbesondere die massenhafte Unterstützung aus der Bevölkerung versuchte dieser Diskurs zu ignorieren. Das Phänomen sollte in der offiziellen Sprachregelung in den Bereich der Sicherheitsproblematik eingehegt werden.[8] Trotz dieses Diskurses wurde aber seit Mitte der 80er Jahre auch immer wieder darüber verhandelt, wie mit der Massenbasis umzugehen sei, über die die PKK und die kurdische Bewegung verfügten. Es ging um die Unterscheidung in dem Staat gegenüber »loyale« Bürger*innen und »illoyale« Elemente, und diese Unterscheidung wurde nicht zuletzt im Dorfschützer*innensystem getroffen, das kurdische Bürger*innen als stehende Milizen im Kampf gegen die PKK bewaffnete. Mit diesem System sollten loyale Subjekte geschaffen werden und gleichzeitig sollte offen sichtbar gemacht werden, was Loyalität bedeute.[9]
Parallel zum Anwachsen der Basis und politischen Unterstützung der PKK in den 90er Jahren baute der Staat seine verschiedenen Gewalt- und Repressionsorgane aus und vertiefte deren Praxis. Staatliche Gewalt in den 90er Jahren verfügte über ein Repertoire von großer Breite und Vielfältigkeit. Ein wichtiges Charakteristikum war der gleichzeitige Einsatz verschiedener Gewaltformen. Die Mitarbeiter*innen, Führungskräfte und – wie im Beispiel Mehmet Sincars – Abgeordneten kurdischer politischer Parteien wie der Arbeitspartei des Volkes (HEP) und der Demokratiepartei (DEP) wurden ermordet, Siedlungsgebiete wurden zwangsevakuiert und Millionen von Menschen zur Migration gezwungen. Durch paramilitärische Verbände wie die Anti-Terror-Einheiten des Gendarmerie-Aufklärungsdienstes, die islamistische Hizbullah und andere wurden Tausende von Menschen, die der kurdischen Bewegung nahestanden, außergerichtlich hingerichtet, und weitere Tausende, denen Miliztätigkeit für die PKK vorgeworfen wurde, verschwanden spurlos und für immer. Insbesondere die erzwungene Flucht, die illegalen und willkürlichen Hinrichtungen und das Verschwindenlassen stehen als drei schwerwiegende staatliche Gewaltpraktiken, die die 90er Jahre prägten.10
Über die 80er, 90er und 2000er Jahre hinweg wurden die Körper, Lebensräume, die Sprache, der Besitz, die Sozialbeziehungen und die Würde der kurdischen Gesellschaft auf verschiedene Weisen angegriffen, manipuliert, stigmatisiert und vernichtet. Die Post-Junta-Gewaltpraktiken der 80er Jahre, die physischen Vernichtungspraktiken der 90er Jahre und die legalistische und bürokratische Repression der 2000er Jahre akkumulierten und potenzierten sich und ließen jeweils Raum für weitere, kontinuierliche Gewaltpraktiken.[11] Vor allen Dingen wurden all diese Gewaltpraktiken von allen gesellschaftlichen Gruppen der Türkei außer den Kurd*innen bestenfalls durch Schweigen quittiert, schlimmstenfalls aber gutgeheißen und unterstützt. Die Zeitgeschichte verlief in Kurdistan anders als in den anderen Gebieten der Türkei.
III. Seit fast zwei Jahren herrscht Waffenruhe. Schon der Name ist kontrovers: Ist es ein Friedensprozess, ein Lösungsprozess oder ein Verhandlungsprozess? Fest steht: Erst einmal schweigen die Waffen. Zum ersten Mal hört die türkische Gesellschaft in so offenen Worten, dass mit dem PKK-Führer Abdullah Öcalan Gespräche auf offizieller Ebene stattfinden. Sie wissen jetzt, dass er ein Verhandlungspartner ist. Ein potentieller »politischer Friede« könnte das Ergebnis dieser Verhandlungen sein. Ich behaupte, dass ein solcher Friede erst Wurzeln schlagen kann, wenn Mechanismen der Transitional Justice in Bewegung gesetzt werden und einen teilweise dekolonisierenden Effekt ausüben können. Damit der »Friedensprozess« eine wirkliche transformatorische Kraft entfalten kann, müssen bestimmte Forderungen nach Rechten und Gerechtigkeit anerkannt und ihre Erfüllung garantiert werden. Gleichzeitig muss die auf der Überlegenheit des Türk*innentums aufbauende politische Mechanik zerbrochen und eine partielle Dekolonisation durchgeführt werden.
Johan Galtung unterteilt Gewalt in kulturelle, strukturelle und unmittelbare Gewalt.12 Da unmittelbare Gewalt und Formen der kulturellen Gewalt, d.h. außerrechtliche gewaltvolle Handlungsroutinen und offene Gewaltpraktiken sowie diskriminierende, rassistische und assimilatorische kulturelle Gewaltpraktiken, einander ergänzten, hat sich im Kontext der kurdischen Frage ein sehr starkes Geflecht struktureller Gewalt gebildet. Diese systematische Komplementarität von Staatsgewalt und institutionalisierten rassistischen Praktiken fordert uns dazu auf, die Politiken und Begriffe des Kolonialismus und Postkolonialismus im Kontext Kurdistans zu denken. Bis dato haben sehr viele kurdische politische Bewegungen – einschließlich der PKK – Kurdistan begrifflich als eine Kolonie gefasst und die Notwendigkeit, zu antikolonialer Gewalt zu greifen, aus dieser Analyse abgeleitet. Seit den wegweisenden Arbeiten von İsmail Beşikçi haben insbesondere seit den 90er Jahren viele Intellektuelle die kurdische Frage innerhalb des begrifflichen Rahmens von Kolonialität und Postkolonialismus abgehandelt.13
Die Terminologie der postcolonial studies ist nach den 1980er Jahren in den Sozialwissenschaften international sehr einflussreich geworden. Unter Verweis auf Foucaults Argumente zur »Gouvernementalität« schlagen sie einen neuen Rahmen vor, der über die starren Grenzen der klassischen Kolonialismustheorien hinausweist. Nicht nur wird der kolonisierende Effekt des neuen Gouvernementalitätsverständnisses selbst thematisiert, das auf Praktiken fußt, mit denen der moderne Staat seine Einflussbereiche erweitert und Bürger*innen produziert.14 Postkoloniale Theorie zeigte auf, dass Kolonialität nicht nur dort zu suchen ist, wo in Überseekolonien Rohstoffe beschlagnahmt werden und mittels weißer Siedler*innen ein juristisches Apartheidsystem errichtet wird. Vielmehr liegt ein kolonialer Kontext auch dort vor, wo der indigenen Bevölkerung eines kolonisierten Gebietes zunächst offen oder verdeckt rassische Überlegenheitsvorstellungen verinnerlicht werden und ihr Wissen abgeschöpft wird; dann der eigene Einfluss unter dieser Bevölkerung mit verschiedenen Techniken verbreitet wird; ihre Körper, Glaubensvorstellungen, Werte, Sprachen, Rituale und geistigen Welten entwertet und zerstört und die besetzten Gebiete mithilfe eines anderen, »kolonialen« Rechts verwaltet werden.15 In der Tat scheint es mehr als angebracht, dass Kurdistan im Kontext von Kolonialität begriffen wurde, wenn man bedenkt, dass hier nicht nur systemische und strukturelle Staatsgewalt herrschte, sondern während des bewaffneten Konfliktes mit der PKK mit verschiedensten Mitteln versucht wurde, Personen gezielt zu Kollaborateur*innen, Informant*innen, Kronzeug*innen etc. zu machen; dass Menschen in ihrer Würde zerstört wurden oder spurlos verschwanden, auf der Straße hingerichtet und diversen Straftechniken unterworfen wurden, während auf verfassungsrechtlicher und gesetzlicher Ebene die bloße Existenz von Kurd*innen abgestritten wurde und sowohl in den Institutionen als auch im Alltag mannigfaltige rassistische Praktiken verbreitet waren und sind. Erst der koloniale Kontext vermag zu erklären, warum diese offene staatliche Gewalt in den anderen Teilen der Türkei so weitgehend als normal oder legitim empfunden wurde.
Kehren wir also wieder zu den gegenwärtigen Friedensgesprächen zurück. Diese öffnen Raum für zwei Dinge: erstens die Anwendung von Mechanismen zur Aufarbeitung der Vergangenheit, die auch andernorts auf der Welt angewandt wurden, um Forderungen nach kollektiven Rechten und Gerechtigkeit umzusetzen, und zweitens die Beendigung der Praktiken von institutionellem Rassismus mit dem Ziel, die politische Mechanik der Überlegenheit des Türk*innentums zu brechen, auf der die Republik Türkei gründet, und dadurch eine Dekolonisation zu befördern. Mit Blick auf die anderen internationalen Beispiele für Post-Konflikt-Erfahrungen können wir feststellen, dass der relative Erfolg eines »politischen Friedens« oder einer »Transition« daran hängt, inwieweit konkrete Forderungen umgesetzt werden und den von staatlicher Gewalt und strukturellem Rassismus betroffenen Menschen Gerechtigkeit widerfährt, indem die Täter*innen verurteilt werden, die für schuldig Befundenen ihrer Posten und Ämter enthoben werden, institutioneller Rassismus und andere Formen struktureller Gewalt verbannt werden etc. Je stärker jedoch diese konkreten Forderungen mit schwammiger Rhetorik von Versöhnung, Friedensschluss, Amnestie und dem Leid, das alle Seiten im Konflikt erfahren hätten, überdeckt werden, so schwach wird die Transitionsphase ausfallen. Die Truth and Reconciliation Commission in Südafrika beispielsweise wird zwar in der Türkei immer als positives Beispiel angeführt, ist aber aufgrund der Tatsache, dass die Täter*innen im Gegenzug für ihre Aussagen vor der Kommission seriell begnadigt werden, sehr stark in die Kritik geraten. Die Transitionsphase in Südafrika hat die strukturelle Gewalt, die sich für schwarze Menschen und die unteren Klassen auch in Form einer klaren ökonomischen Unterdrückung bemerkbar macht, außen vor gelassen und damit bei vielen Menschen zu Enttäuschungen geführt.16 Letztlich zeigen sich alle Staaten, die vergleichbare Prozesse durchmachen, als äußerst unwillig, konkrete Forderungen nach Rechten und Gerechtigkeit um- und Mechanismen struktureller Gewalt außer Kraft zu setzen. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass wesentlich die Befreiungsbewegungen, Menschenrechtsverteidiger*innen, Grassroots-Organisationen, Gewerkschaften und radikalen Gruppierungen diesbezügliche Entwicklungen einfordern müssen. In der Türkei hingegen beschäftigen sich die meisten genau dieser sozialen Gruppen vor allem damit, die Mängel der Verhandlungen aufzuzeigen, statt politische und gesellschaftliche Mechanismen, Beziehungsgeflechte, Organisationsformen und Methoden zu entwickeln, um den stattfindenden Prozess zu vertiefen. Dabei müssen wir uns in Erinnerung rufen: Verhandlungen sind überall auf der Welt voller Mängel, waren immer unvollständig und werden es auch in zukünftigen Fällen bleiben, da genau dies im Interesse der verhandelnden Staaten liegt. Nirgendwo auf der Welt gibt es Präzedenzfälle von linear voranschreitenden Friedens- oder Verhandlungsprozessen mit idealen Ergebnissen. Überall auf der Welt aber gibt es Staaten, die reagieren müssen angesichts der großen Anstrengungen von Menschen, die dafür kämpfen, dass die Täter*innen zur Rechenschaft gezogen und konkrete Rechteforderungen umgesetzt werden – und damit die kleinen Freiräume vergrößern, die durch politischen Frieden, Transitions- oder Verhandlungsprozesse eröffnet werden. Sie sind es, die staatliche Akteure dazu zwingen, einen Teil dieser Forderungen umzusetzen. Somit hängt der weitere Verlauf der Prozesse, die hinsichtlich des »Kurd*innenkonfliktes« in Gang gekommen sind, nicht zuletzt von der Performanz der revolutionären Demokratiekräfte im weitesten Sinne ab.
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass bezüglich der Dekolonisation ein vergleichbarer Prozess bereits in Gang ist. Als eines der Ergebnisse des Kampfes, den die kurdische Bewegung in der Türkei seit langer Zeit mit größter Anstrengung und im Angesicht heftigster Gewalt geführt hat, sind bereits Beispiele für das geschaffen worden, was ich eine teilweise Dekolonisation nenne. Zum Beispiel ist das Kurdische infolge langer Kämpfe zu einer Sprache geworden, die im öffentlichen Raum benutzt wird, in der Kommunalpolitik und kommunale Dienste an der Bürger*in ausgeführt werden und politische Reden gehalten werden. Das Kurdische wird anerkannt als eine alte Sprache mit eigenem Prestige. Da der koloniale Stolz in der Türkei sehr ausgeprägt ist und alles, was wie ein Fortschritt aussieht, durchaus im Laufe der Zeit zu Katastrophen führen kann, die die Gesellschaft mit einem Sprung um Meilen zurückwerfen, fällt es mir noch schwer, von einem Dekolonisationsprozess im vollen Sinne zu sprechen. Aber die kurdische Bewegung macht bereits heute Schritte hin auf eine Dekolonisation und schafft mit großer Sorgfalt ein Repertoire an Erfahrungen von den Diskussionen über Demokratische Autonomie bis zur Betonung der Kapazität zur Selbstregierung, vom Aufbau einer starken Frauenbewegung bis hin zum Aufruf, das Verhältnis zwischen Mensch und Natur neu zu gestalten, vom Anspruch, eine neue, »moralisch-politische Gesellschaft« zu errichten, bis zu den Bemühungen, neue Beziehungsformen in Solidarität, Widerstand und Alltagsleben zu erproben, von der Entstehung eines erweiterten Repertoires an politischer Sprache und Aktionsformen bis hin zu Handlungsformen, die große Teile der Bevölkerung einbeziehen und in Bewegung setzen. Wie auch immer wir es nennen wollen, die Friedens- oder Lösungsinitiative provoziert und fördert solcherlei Bemühungen und eröffnet eine neue Vielfalt ziviler Kämpfe. Diese wiederum können die Qualität und Wirksamkeit der Friedensverhandlungen verbessern. Da genau dies zur Verwirklichung der politischen Forderungen derjenigen führt, die von staatlicher Gewalt betroffen sind, können die Mechanismen der Dekolonisation auch bis zu einem gewissen Grade als die Forderungen der Transitionsphase gesehen werden. Im Rahmen der Dokumentationsarbeit des »Zentrums für Wahrheit, Gerechtigkeit und Erinnern« haben wir in Şirnex (Şırnak) Gespräche mit Angehörigen von Menschen geführt, die spurlos verschwunden sind. Von diesen Menschen hörten wir mit der gleichen Vehemenz wie die Forderung, dass die Täter*innen gefunden und vor Gericht gestellt werden müssen, eben auch die Forderung, dass sie im öffentlichen Raum in ihrer Muttersprache, dem Kurdischen, sprechen können.17 Wir brauchen gerade vor dem Hintergrund der Verhandlungsprozesse eine genauere, präsentere Diskussion um Erfahrungen mit Dekolonisation. Wir müssen die bereits geöffneten Widerstandsräume erweitern und neue Räume öffnen.
Beatriz Sarlo, die über die Erinnerungskultur und die Mechanismen zur Aufarbeitung von Vergangenheit in Argentinien arbeitet, verweist darauf, dass »verstehen« ebenso notwendig sei wie »erinnern«, und fügt an: Wessen wir uns wie erinnern, und ob wir uns ihrer romantisierend erinnern oder verstehend und mit dem Ziel, konkrete Forderungen zu verfolgen, bedeutet gleichzeitig, bestimmte politische Antworten zu geben. Und ob die derzeitigen Verhandlungen sich in Richtung einer schwammigen Verschwisterungsrhetorik entwickeln oder in Richtung Gerechtigkeitsforderungen, wird sich im Zusammenhang mit den politischen Antworten herausstellen, die wir geben werden. Wichtiger denn je ist es, ebenso sehr, wie zu erinnern, auch zu denken und zu verstehen, die politischen Forderungen derer im Gedächtnis zu tragen, an die wir uns erinnern, und dementsprechende Antworten hervorzubringen – das Erinnern mit konkreten Forderungen nach Rechten zu verknüpfen. Im Zusammenhang mit der Problematik des Gedenkens erinnert uns Beatriz Sarlo an ein Unrecht, das tragische Dimensionen annehmen kann: »Es ist Unrecht, eine von Gedanken erfüllte Revolutionsutopie ausschließlich oder vorwiegend als ein postmodernes Drama zu betrachten, das aus Emotionen entstanden ist.«18 Ich bin mir sicher, dass die dekolonialen Erfahrungen und Möglichkeiten der Dekolonisation im Zusammenhang mit der kurdischen Frage uns eine Menge erzählen, wenn wir dieses tragische Unrecht verhindern wollen.
Fußnoten:
1) Marc Nichanian, »Edebiyat ve Felaket« (Literatur und Katastrophe), İletişim Yayınları, İstanbul, 2011, S. 27.
2)Idelber Avelar, »The Letter of Violence. Essays on Narrative, Ethics, and Politics«, Palgrave McMillan, New York, 2004, S. 47.
3) Özgür Sevgi Göral, »Geçiş Dönemi Adaletinde Hatırlamanın Önemi« (Die Bedeutung des Erinnerns in der Transitional Justice), in: »Kürt Meselesinin Çözümüne İlişkin Algılar, Aktörler ve Süreç« (Wahrnehmungen, Akteure und Prozesse der Lösung der kurdischen Frage), Heinrich Böll Sitftung/Diyarbakır Siyasal ve Sosyal Araştırmalar Enstitüsü (DİSA) Yayınları, 2013, S.40.
4) Marc Nichanian, a.a. O., S. 210.
5) Murat Çelikkan, »Hakikat, Adalet, Hafıza ve Barış Süreci« (Wahrheit, Gerechtigkeit, Erinnerung und der Friedensprozess), http://www.hakikatadalethafiza.org/duyuru.aspx?NewsId=210&LngId=1, aufgerufen am: 22.04.2014.
6) Mesut Yeğen, »Son Kürt İsyanı« (Der letzte kurdische Aufstand), İletişim Yayınları, İstanbul, 2011, S. 36–37.
7) Hamit Bozarslan, »Einleitung«, »Türkiye’de Siyasal Şiddetin Boyutları« (Die Dimensionen politischer Gewalt in der Türkei), İletişim Yayınları, İstanbul, 2014, S. 25.
8) Mesut Yeğen, »Devlet Söyleminde Kürt Sorunu«, İletişim Yayınları, İstanbul.
9) Evren Balta Paker, »Dış Tehditten İç Tehdide: Türkiye’de Doksanlarda Ulusal Güvenliğin Yeniden İnşası«(Von der äußeren Bedrohung zur inneren Bedrohung: Die Rekonstruktion der nationalen Sicherheit in der Türkei der 90er Jahre), in: Paker, E. Balta und İsmet Akça (Hrsg.), »Türkiye’de Ordu, Devlet, ve Güvenlik Siyaseti«, İstanbul Bilgi Üniversitesi Yayınları, İstanbul, 2010, S. 416.
10) Özgür Sevgi Göral, Ayhan Işık, Özlem Kaya, »Konuşulmayan Gerçek: Zorla Kaybetmeler« (Die unausgesprochene Wahrheit: Gewaltsames Verschwindenlassen), Hakikat Adalet Hafıza Merkezi Yayınları, İstanbul, 2013, S. 16–18.
11) Nicole F. Watts, »Sandıkla Meydan Okumak-Türkiye’de Kürtlerin Siyasi Yolculuğu« (Herausforderung durch die Urne – der politische Weg der Kurd*innen in der Türkei), İletişim Yayınları, İstanbul, 2014, S. 144–166.
12) Johan Galtung, »Violence, Peace and Peace Research«, Journal of Peace and Research, Vol. 6, No. 3, S. 167–191, 1969. Johan Galtung, »Cultural Violence«, Journal of Peace Research, Vol. 27, No. 3, S. 291–305, 1990.
13) Für diese Debatten mögen als Primärliteratur z. B. gelten: İsmail Beşikçi, »Devletlerarası Sömürge Kürdistan«, Yurt Kitap Yayın, Ankara, 1991 (Internationale Kolonie Kurdistan); Fikret Başkaya, »Paradigmanın İflası: Resmi İdeolojinin Eleştirisine Giriş«, Doz Yayınları, İstanbul, 1991 (Bankrott eines Paradigmas: Einführung in die Kritik der Staatsideologie); Joost Jongerden, »The Settlement Issue in Turkey and the Kurds, An Analysis of Spatial Policies, Modernity and War”, Brill, Leiden Boston, 2007; Hamit Bozarslan, »Türkiye’de Kürt Sol Hareketi«(Die kurdische Linke in der Türkei), in: Murat Gültekingil (Hrsg.), »Modern Türkiye’de Siyasi Düşünce«, Band 8 Sol, İletişim, İstanbul, 2. Auflage, 2008, S. 1169–1207; Zülal Nazan Üstündağ, »Pornografik Devlet – Erotik Direniş: Kürt Erkek Bedenlerinin Genel Ekonomisi«(Pornographischer Staat – erotischer Widerstand: Die allgemeine Ökonomie des kurdischen Männerkörpers), in: Nurseli Yeşim Sünbüloğlu (Hrsg.), »Erkek Millet Asker Millet – Türkiye’de Militarizm, Milliyetçilik, Erkek(lik)ler«, İletişim Yayınları, İstanbul, 2013; Bülent Küçük, »Beşikçi ve Kürdistan’ın Gerçekliği« (Beşikçi und die Realität Kurdistans), Jadaliyya, 20 Aralık 2013, http://www.jadaliyya.com/pages/index/15651/besikci-ve-kurdistan’in-gercekligi, aufgerufen am: 30.04.2014; Barış Ünlü, »Kürdistan/Türkiye ve Cezayir/Fransa: Sömürge Yöntemleri, Şiddet ve Entelektüeller«(Kurdistan/Türkei und Algerien/Frankreich: Kolonisierungsmethoden, Gewalt und die Intellektuellen), in: Güney Çeğin und İbrahim Şirin (Hrsg.), »Türkiye’de Siyasal Şiddetin Boyutları«, İletişim Yayınları, İstanbul, 2014.
14) Michel Foucault, »Governmentality«, in: Graham Burchell, Colin Gordon und Peter Miller (Hrsg.), »The Foucault effect: Studies in Governmentality«, Harvester-Wheatsheaf, London, 1991.
15) Achille Mbembe, »The Banality of Power and the Aesthetics of Vulgarity in the Postcolony«, in: Aradhana Sharma und Akhil Gupta (Hrsg.), »Anthropology of the State«, S. 381–401.
16) Paul Van Zyl, »Hakikat ve Uzlaşma Komisyonu›nun Apartheid Sonrası Güney Afrikasında Adaletin Tesisine Katkısı: Tamamlanmamış Bir İş« (Der Beitrag der Truth And Reconciliation Commission zum Aufbau von Gerechtigkeit im Post-Apartheid-Südafrika: Eine unabgeschlossene Aufgabe), http://www.hakikatadalethafiza.org/Cust/UserFiles/Documents/Editor/Zyl_ZAF_HUKTamamlanmamışİş_2002.pdf, aufgerufen am: 20.04.2014.
17) Da die Angehörigen der Verschwundenen die einzigen öffentlichen Akteur*innen waren, die Kurdisch sprachen, wandten sich die meisten von ihnen auf der Suche nach den Vermissten zunächst direkt an die Dorfschützer*innen. Siehe Özgür Sevgi Göral, Ayhan Işık, Özlem Kaya, a.a.O., S. 48–49.
18) Beatriz Sarlo, «Geçmiş Zaman – Bellek Kültürü ve Özneye Dönüş Üzerine Bir Tartışma”, Metis Yayınları, İstanbul, 2007, S. 60.