Resümee der Kommunalwahlen
Ein Wahlsieg für den Fortschritt in Nordkurdistan
Michael Knapp, Kurdistan-Solidaritätskomitee Berlin
Die Kommunalwahlen in der Türkei wurden von allen Seiten als besonders entscheidend gesehen. Von Seiten der kurdischen Freiheitsbewegung und der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) wurde sie wie ein Referendum über das Projekt der Demokratischen Autonomie und die Unterstützung der Position der kurdischen Freiheitsbewegung im stockenden Friedensprozess bewertet. Für die AKP ging es um die eigene Zukunft, einerseits um die BDP aus den kurdischen Gemeinden zu drängen und symbolträchtige Metropolen wie Wan (Van), Amed (Diyarbakır) oder Agirî (Ağrı) wiederzugewinnen. Andererseits war der Wahlkampf ebenfalls vom Konflikt mit der Gülen-Bewegung geprägt. Schon im Vorfeld tauchten immer wieder Leaks (Veröffentlichungen) auf, die auf Korruption, Kriegstreiberei und Waffenlieferungen an islamistische Banden hindeuteten. Vor diesem Hintergrund ging es der AKP und Erdoğan auch im Hinblick auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen um einen möglichst deutlichen Wahlsieg.
Mehr noch als bei vorherigen Wahlen kennzeichneten die Wahlen Unregelmäßigkeiten, Wahlbetrug, Gewalt im Vorfeld, während und infolge der Wahlen.
Grundsätzlich ist allerdings erst einmal der Umstand festzustellen, dass die Ausgangslage für die Parteien sehr unterschiedlich gewesen war. Zum einen befinden sich mehrere tausend BDP-FunktionärInnen und -AktivistInnen, darunter einige Dutzend gewählte Parlamentsabgeordnete und BürgermeisterInnen, zum Teil seit Jahren im Gefängnis, zum anderen bekam die BDP im Gegensatz zu ihren Konkurrentinnen, der AKP, CHP und MHP, keinerlei Finanzmittel für den Wahlkampf aus staatlichen Töpfen. Dies wurde damit begründet, dass die BDP bei den Wahlen zum Nationalparlament im Gegensatz zu den anderen drei Parteien unter der geltenden 10%-Hürde geblieben und nur durch ihre gut 30 direkt gewählten KandidatInnen ins Parlament gekommen sei.
Der Wahlkampf der AKP
Während des Wahlkampfes der AKP kam es zu massiven Übergriffen und Bestechungsversuchen. Aufgehetzte, oft mit Messern und Steinen bewaffnete Gruppen, der islamistischen Hüda Par (Hür Dava Partisi) begingen Übergriffe auf Büros und VertreterInnen der BDP und der türkeiweit angetretenen Demokratischen Partei der Völker (HDP), oft unter dem Schutz oder mit der Unterstützung der »Sicherheitskräfte«. In vielen Regionen wurden insgesamt 30 Büros bis hin zur Unbenutzbarkeit zerstört. In Êlih (Batman) wurde sogar ein Vertreter der BDP von mit Sturmgewehren bewaffneten Mitgliedern der Hüda Par ermordet. Besonders in der Region Êlih ist die Vorgängerorganisation bekannt. Die damalige türkische Hisbullah ermordete in den 90er Jahren als staatliche Konterguerilla Tausende und terrorisierte in den Straßen die Bevölkerung. Die Hisbullah wurde, nachdem sie außer Kontrolle geraten war, vom türkischen Staat zerschlagen und ihre Führungskader wurden inhaftiert. Erdoğan hat diese Kader wieder freigelassen und unterstützte damit den Aufbau neuer islamistischer Kontrabanden in Kurdistan.
Der Wahlkampf gegen die BDP und HDP in der kurdischen Region wurde vor allem auch von Bestechungsversuchen der Bevölkerung geprägt. So wird von unterschiedlichen Wahlbeobachtungsdelegationen, beispielsweise aus Xinûs (Hınıs/Bellitaş) berichtet, dass die AKP vor der Wahl Baumaterial verteilte oder Goldmünzen im Wert von 150 TL an Menschen ausgab, die schworen, die AKP zu wählen. Diese Praxis der AKP ist aus vielen Regionen bekannt und es ist kein Zufall, dass die Erdoğan-Regierung eine Woche vor den Wahlen tausende Tablets an den Schulen verteilen ließ. Eine Schülerin bemerkte dazu ironisch, das passe ja gut zusammen, auf der einen Seite verteilt Erdoğan Computer, während er gleichzeitig Twitter, Facebook und YouTube verbieten lässt.
Der Wahltag in den kurdischen Regionen
Der Wahltag in den kurdischen Regionen zeigte deutlich, dass demokratischen, freien Wahlen in der Türkei und insbesondere in den kurdischen Regionen schwere Hindernisse entgegenstehen. So meldeten die meisten Wahldelegationen aus Amed, Xinûs, Serê Kaniyê (Ceylanpınar), Nisêbîn (Nusaybin) und aus anderen Orten die Präsenz von bewaffneten »Sicherheitskräften« oft bis hinein zu den Wahlkabinen, was deutlich gegen türkisches Recht verstößt. Es liegen mehrere Berichte von Delegationen vor, die beschreiben, dass insbesondere ältere Menschen häufig daran gehindert worden sind zu wählen oder ihre Wahlzettel schon abgestempelt waren. Die Berichte, dass Wählerinnen und Wähler gezwungen wurden, ihre Stimmen offen abzugeben, häuften sich ebenfalls aus für die AKP besonders kritischen Regionen. Teil dieser Strategie waren auch etliche Scheinparteien, die auf den Wahlzetteln antraten, wie z. B. die Partei der Unabhängigen Türkei (BTP), die direkt neben der BDP platziert worden war, und auch in Orten auf dem Wahlzettel stand, an denen sie nicht einmal einen Kandidaten aufgestellt hatte, die dann aber trotzdem Stimmen bekam. Dies trifft vor allem auf die Region Colemêrg (Hakkari) zu. Der Wahlsieg der BDP zeichnete sich in vielen kurdischen Regionen schon recht früh ab. Als in Serê Kaniyê etwa 60 % der Stimmen ausgezählt waren und die BDP in Führung ging, fiel plötzlich der Strom aus. Danach befand sich laut Auszählung die AKP in Führung. Kurz darauf wurden 1 500 Wahlzettel mit BDP-Stimmen im Müll gefunden.
Die gleichen Stromausfälle fanden in über 40 Wahlkreisen mit ähnlichem Ergebnis statt. Viele sprechen von einem »Notfallplan« der AKP, um ihre Chancen bei der Wahl zu verbessern. Darauf weisen ebenso die verbrannten Wahlzettel hin, die u. a. im Ort Heskîf (Hasankeyf) mit Stimmen für die BDP am Straßenrand gefunden worden sind. In vielen Regionen, auch im Westen der Türkei, wurden für die AKP vorgestempelte Wahlzettel festgestellt.
Dennoch erreichte die BDP ein gutes Ergebnis und konnte mehrere Landkreise hinzugewinnen und teilweise ausbauen. Dennoch blieb die Strategie der AKP nicht ohne Folgen, die Kombination aus Bestechung, Erpressung und systematischem finanziellen Ausbluten der von der BDP regierten Stadtverwaltungen führte in verschiedenen Regionen, unter anderem der Hochburg Colemêrg, zu einem »nur« 60-prozentigen Wahlsieg der BDP und in anderen Orten wie in Amed ebenfalls zu einem leichten Stimmenrückgang.
Nach den Wahlen
Nach den Wahlen begannen die Proteste gegen die offiziellen Ergebnisse. Der Kandidat der BDP für Riha (Urfa) und ehemalige Bürgermeister von Amed, Osman Baydemir, bezeichnete die Wahlen als die »dunkelsten Wahlen aller Wahlperioden«. Diese Dunkelheit war nicht nur metaphorisch gemeint, da insbesondere auch in der entscheidenden Region Riha/Serê Kaniyê massive Stromausfälle auftraten, die der AKP auffällig viele Stimmen in der Auszählung brachten, während verbrannte Stimmzettel der BDP später aufgefunden wurden. Dies führte insbesondere in Serê Kaniyê zu massiven Protesten. Es kam zu heftigen Übergriffen der Polizei auf die Bevölkerung und der Ausnahmezustand wurde in der Stadt für 30 Tage ausgerufen. Die Stadt befindet sich für den Monat April im polizeilichen und militärischen Belagerungszustand, Personengruppen mit mehr als drei Personen werden aufgelöst. Insbesondere in Serê Kaniyê wurde jedoch nicht nur der Wahlbetrug von Seiten der AKP deutlich. Infolge des Wahltags zog der AKP-Kandidat begleitet von schwer bewaffneten Kämpfern der Al-Nusra-Front (offizieller Ableger der Al-Qaida in Syrien) durch die Geschäfte der Stadt und versuchte die Bevölkerung einzuschüchtern. Serê Kaniyê, türkisch Ceylanpınar, ist einer der Orte, von denen aus große Kontingente von Djihadisten mit Hilfe der AKP-Regierung und des MIT einerseits mit Waffen versorgt und andererseits auch mit Truppen und Fahrzeugen gegen die kurdische Selbstverwaltung in Rojava (Nordsyrien) über die Grenze geleitet worden sind.
Diese Wahl, die von Betrug und Betrugsversuchen geprägt wurde, ist vielerorts vor den Wahlbehörden beanstandet worden. Widersprüche der BDP wurden meist, wie auch in Serê Kaniyê, systematisch zurückgewiesen. Beanstandungen durch die AKP wurde oft auch in Serie stattgegeben. So ließ die AKP 15 Mal die Stimmen in Agirî neu auszählen, bis schließlich die BDP einen Antrag auf Annullierung der Wahl stellte. Dort soll nun am 1. Mai 2014 neu gewählt werden. Diese Annullierung auf Antrag der BDP hat einen ganz praktischen Hintergrund. Zumindest die Zahlen der Neuauszählungen weisen darauf hin, dass die Wahlkommissionen oft wie eine Unterstützungsagentur der AKP arbeiten. Dies können die Zahlen aus Ahlat verdeutlichen; in Ahlat siegte die BDP mit 104 Stimmen. Die AKP focht dieses Ergebnis vier Mal an. Bei jeder Neuauszählung wurden weitere Stimmen der BDP annulliert, so dass nach der vierten Auszählung die AKP mit 237 Stimmen gewann. Auch hier wurde die Bevölkerung massiv von der Jandarma angegriffen und mindesten 30 Personen wurden festgenommen. In Norşin gewann die BDP die Wahlen knapp, daraufhin hat die AKP die Wahl dreimal angefochten. Als die AKP immer noch nicht erfolgreich war, ließ sie die Wahlen annullieren. Sowohl in Norşin als auch in Agirî haben in der Zwischenzeit kommissarisch die von der Regierung eingesetzten Gouverneure das Amt übernommen.
So wie die Proteste weiteten sich auch die Übergriffe auf DemonstrantInnen auf die ganze Türkei und die kurdische Region aus. Vielerorts wurden AktivistInnen von der Polizei und dem Militär teilweise schwer verletzt. So wurden allein in Wan Dutzende verletzt, einem jungen Mann wurde von der Polizei in die Brust geschossen und ein 12-Jähriger wurde von einem Panzerfahrzeug überfahren und schwer verletzt. Hinzu kommen hunderte Verletzungen durch Gasgranaten, Plastikgeschosse und Schlagstockeinsätze durch Sicherheitskräfte.
Einschätzung der Wahlstrategien und Erfolge
Wenn wir die Kommunalwahlen der Türkei betrachten, dann müssen wir diese vor dem Hintergrund der Machtkonstellationen und ihrer jeweiligen Interessenssphären analysieren. Wie in der Einleitung beschrieben, sind die Wahlen stark vom Konflikt zwischen der Gülen-Bewegung und der AKP geprägt worden. Die Gülen-Bewegung schloss ein Bündnis mit den Kemalisten der CHP und den Ultranationalisten der MHP. Dieser Block sollte eine Alternative zur AKP-Regierung darstellen, tat sich aber im Wahlkampf weniger mit Inhalten als mit massiven Attacken auf die AKP hervor. Hier muss man sagen, dass das Kalkül dieser Parteien nur begrenzt aufging. Die in der alevitisch-kurdisch geprägten Region Dêrsim eigentlich starke CHP, die das Ziel verfolgte, die BDP-Stadtverwaltung zu übernehmen, erlitt, wie an vielen anderen Orten, eine entscheidende Niederlage. Das lag unter anderem auch daran, dass der Vorsitzende der CHP offen mit den faschistischen Grauen Wölfen sympathisierte und damit viele AlevitInnen vor den Kopf stieß. Andererseits konzentrierte sich der Wahlkampf der AKP sehr stark auf die Einschränkung des politischen Gegners durch Twitter- und YouTube-Verbot, Festnahmeoperationen und Drohungen. Die Wahlen zeigten in diesem Kontext, dass insbesondere in der Region Mittelanatolien die AKP eine derartig stabile religiös-konservative Basis besitzt, die über alle Rechtsverstöße der AKP hinwegzusehen bereit sind und an Erdoğan und seiner Partei festhalten. Dieser Konflikt beschränkte sich, wie in anderen Wahlkämpfen zuvor, auf den Westen der Türkei; in Kurdistan gingen die Machtblöcke gemeinsam gegen die kurdische Bewegung vor. Neben Angriffen auf die Büros der HDP im Westen kam es ebenfalls durch CHP-Anhänger zu Angriffen auf HDP- und BDP-VertreterInnen in Kurdistan – geschehen in Gurgum/Bazarcix (Maraş/Pazarcık).
Gegenüber diesem Machtkampf können wir beobachten, dass BDP und HDP trotz aller Einschränkungen einen politischen Wahlkampf entlang der Bedürfnisse der Menschen in den Regionen geführt haben. Dies schlug sich insbesondere im Neugewinn der Regionen Bedlis (Bitlis) und Têtwan (Tatvan) nieder. Im Vergleich zu den Kommunalwahlen von 2009 konnte die BDP 2014 27 weitere Stadtverwaltungen hinzugewinnen. Dennoch ist zu beachten, dass wichtige Ziele – wie die Region Riha zu gewinnen – nicht erreicht werden konnten. Das liegt sicherlich einerseits an der Konservativität der Region, aber vor allem daran, dass es Strategie der AKP gewesen zu sein scheint, eine Dominanz der BDP an der Grenze zu Rojava nicht zuzulassen. Dies gilt insbesondere für Serê Kaniyê. Serê Kaniyê, türk. Ceylanpınar, ist eine geteilte Stadt, deren Südhälfte in Rojava liegt und von der kurdischen Rätebewegung geführt wird. Einerseits ist die Region ein Zentrum der Bekämpfung der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava und Hinterland für islamistische Milizen, andererseits soll mit der AKP-Regierung in dem Gebiet eine engere Verbindung zur selbstverwalteten anderen Stadthälfte verhindert werden. Denn das Projekt, das die kurdische Bewegung in Rojava umsetzt, ist gleich dem Projekt der Demokratischen Autonomie in Nordkurdistan. Andere Regionen, in denen der Wahlbetrug besonders massiv war, sind symbolische Regionen mit verhältnismäßig starker AKP-Basis, das betrifft die Region Bedlis (z. B. Ahlat, Norşin), Têtwan, Teile von Wan, Çewlik (Bingöl), Kreise in Êlih (wie Heskîf) und Agirî. Hier sollte eine AKP-Mehrheit ebenfalls durch das Mittel des Wahlbetrugs gewonnen werden. In Regionen, in denen die AKP chancenlos war, wurde die Strategie gewechselt. Hier ging es ausschließlich um eine Reduktion des BDP-Stimmenanteils, was durch Unterstützung der zehntausenden Soldaten und massiven Bestechungskampagnen möglich war. So reduzierten sich die Wählerstimmen für die BDP u. a. in Amed und Colemêrg, der Wahlsieg der BDP ist aber immer noch deutlich.
Für die BDP stellen die Wahlen trotz allem einen Erfolg dar, der sich in der Umsetzung der Demokratischen Autonomie in der Region niederschlagen wird. Dabei soll es, ähnlich wie in Rojava, um den verstärkten Aufbau basisdemokratischer Strukturen und alternativer Ökonomien und einen geschlechterbefreiten Gesellschaftsentwurf gehen. Viel hängt jetzt jedoch daran, ob der Friedensprozess in der Türkei ein einseitiger, von kurdischer Seite, bleibt oder er in der Türkei endlich als Dialog auf eine rechtliche Basis gehoben wird. Abhängig davon wird sich die Lage in der Türkei, Kurdistan und dem ganzen Mittleren Osten verändern. Leider stellt das Verhalten der AKP und des Staates einen Schritt weg von Demokratisierung hin zu einer neuen Eskalation dar.
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