Editorial
Lieber Leserinnen und Leser,
das diesjährige Newroz-Fest und damit auch der erste Jahrestag der historischen Erklärung Abdullah Öcalans nähern sich. Eine Zwischenbilanz des sogenannten Lösungsprozesses aus diesem Anlass dürfte wohl eher nüchtern ausfallen. Das spürte auch die BDP-Delegation bei ihrem Besuch auf Imralı Mitte Februar. »Das 16. Gespräch mit ihm war ganz anders als die 15 Gespräche zuvor«, erklärte die BDP-Fraktionsvorsitzende Pervin Buldan nach dem Besuch bei Öcalan. Er habe dabei die AKP mit deutlichen Worten gemahnt, den Prozess ernsthaft anzugehen, und gleichzeitig praktische Vorschläge gemacht, um den derzeitigen Stillstand zu überwinden. Eine Reaktion der Regierung blieb bislang aus.
In der Zwischenzeit wird die politische Tagesordnung in der Türkei von einem anderen Thema, dem Machtkampf zwischen Fethullah Gülen und Recep Tayyip Erdoğan, bestimmt. Der Lösungsprozess ist in den Hintergrund gerückt. Auf Anfragen erklären türkische Regierungsverantwortliche, jetzt stünden außerdem erst einmal die Wahlen an. Danach könne man weitersehen.
Besagte Kommunalwahlen finden am 30. März in der Türkei und Nordkurdistan statt. Der Wahlkampf in Nordkurdistan ist schon in vollem Gange und Umfragen zeigen, dass die Zustimmung für die BDP dort deutlich anwachsen dürfte. Eine aus den Kommunalwahlen gestärkt hervorgehende BDP wird den Druck auf die AKP im Lösungsprozess weiter erhöhen können. Vielleicht auch deshalb erklärte die BDP-Kovorsitzende und Bürgermeisterkandidatin für Amed (Diyarbakır), Gültan Kışanak, die Wahlen zu einem Referendum über die Demokratische Autonomie.
Diese hat in Rojava indessen bereits klarere Konturen gewonnen. Mit einem Anfang des Jahres von einem Übergangsrat verabschiedeten Gesellschaftsvertrag wurde Rojava in drei Kantone (Cizîre, Efrîn und Kobanê) aufgeteilt, die mittlerweile über eine eigene »demokratisch-autonome Verwaltung« verfügen und in denen die Vorbereitungen für allgemeine Wahlen bereits begonnen haben. Während in der Schweiz die Verhandlungen auf der Syrien-Friedenskonferenz, zu der die KurdInnen erst gar nicht eingeladen worden waren, ergebnislos blieben, hat in Rojava die kurdische Bevölkerung gemeinsam mit den dort lebenden AraberInnen und christlichen Gruppen ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und den Grundstein für eine demokratische Zukunft gelegt.
Gelingt es, die Revolution in Rojava (»Westen«) zu verteidigen, wird dies zwangsläufig auch positiv auf den Prozess in Nordkurdistan ausstrahlen. Auch für die Verantwortlichen in Teheran wird es sich in Zukunft dadurch deutlich schwerer gestalten, ihre Unterdrückungspolitik gegenüber den KurdInnen in Rojhilat (»Osten«) aufrechtzuerhalten. Und selbst in Südkurdistan fürchten allen voran Barzanî und die PDK die Revolution in Rojava. Denn auch sie wissen, dass ein demokratisches und fortschrittliches Projekt die Posten der kurdischen Oligarchie ins Wanken bringen wird. Doch während sich die Herrschenden in der Region vor dieser Revolution fürchten, ist sie für die Völker des Mittleren Ostens derzeit vielleicht der größte Hoffnungsschimmer.
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