Inmitten des Bürgerkriegs blüht in Syrien also doch die Hoffnung auf eine demokratische Zukunft
Aus der Kraft der eigenen Bevölkerung – Die Revolution in Rojava schreitet voran
Mako Qoçgirî
»H ey, ihr Kurden. Heute ist der Tag, um für eure Würde einzustehen. Erhebt euch und geht alle auf die Straßen. Lasst uns unsere Freiheit erringen!« Angestachelt durch Worte wie diese begann in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012 ein Volksaufstand in Kobanî, der den Grundstein für die Revolution in Rojava legte. Die Bevölkerung besetzte zunächst die Felder, die ihnen das Regime vor Jahren aus der Hand gerissen hatte. Als die Militärkräfte des Regimes ausrücken wollten, um den Aufstand zu zerschlagen, merkten sie, dass ihr Vorhaben hoffnungslos war. Denn die Bevölkerung hatte sie bereits umstellt und weitere Verwaltungsgebäude des Staates eingenommen. So beschlossen die Männer des Regimes, die Stadt zu verlassen oder ihren Posten niederzulegen und als Zivilisten in der Stadt ihr Leben fortzuführen.
Damals waren viele unsicher, ob sich die Revolution gegen die Übermacht des Baath-Regimes und gegen eine vom Westen unterstützte bewaffnete Opposition in Syrien behaupten kann. Denn auch wenn beide Seiten sich einen erbitterten Krieg lieferten, waren sie sich doch über die Zukunft Syriens insoweit einig, als dass sie die dort lebenden Kurdinnen und Kurden auch in Zukunft nicht anerkennen wollen. Und auch die von der Türkei und den arabischen Staaten unterstützten Dschihadisten und Al-Qaida-Kämpfer, die sich später auch in den Syrienkrieg einmischten, sollten diesbezüglich keine andere Haltung einnehmen.
Doch heute, fast zwei Jahre nach dem ersten Aufbegehren der Bevölkerung in Kobanî, lebt die Revolution in Rojava weiter. Und nicht nur das, sie hat mit der Aufteilung der Region in drei Kantone und der Ausrufung der »demokratisch-autonomen Verwaltung« in diesen Kantonen deutlichere Konturen gewonnen. In Cizîre, Afrîn und Kobanî, so die Namen der drei Kantone, wurden 101-köpfige Übergangsräte einberufen, Ministerien ins Leben gerufen und mit der Vorbereitung von Wahlen begonnen. Und das mitten im andauernden Bürgerkrieg, während die Angriffe islamistischer Kämpfer auf Rojava anhalten und die internationalen Mächte in der Schweiz mit dem Regime und der Opposition, aber ohne die Beteiligung der KurdInnen, über die Zukunft des Landes verhandeln.
Ein demokratisches Syrien mit der Bevölkerung Syriens erschaffen
Die KurdInnen hatten sich vor den sogenannten Genf-II-Verhandlungen über die Zukunft Syriens intensiv darum bemüht, mit einer eigenen Delegation ebenfalls an dem Verhandlungstisch sitzen zu können. Ihnen ging es darum, die kurdische Frage mit auf die Tagesordnung bei den Friedensverhandlungen zu setzen und auf eine Anerkennung der Errungenschaften der Rojava-Revolution hinzuwirken. Doch allen voran die Türkei stellte sich quer und mit Unterstützung der USA gelang es ihr, eine kurdische Vertretung am Verhandlungstisch zu unterbinden. »Wenn die Kurden an den Tisch wollen, so sollen sie sich gefälligst in die Reihen der syrischen Opposition begeben«, lautete die Losung. Gleichzeitig beharrte die Opposition auf der Nichtanerkennung der KurdInnen in Syrien, was die Sinnfreiheit solch eines Vorschlags vor Augen führt. Dennoch nahmen einzelne kurdische Vertreter aus dem Kurdischen Nationalrat (ENKS) – ein mittlerweile bröckelnder Zusammenschluss kurdischer Parteien, die unter dem Einfluss der südkurdischen PDK stehen – in den Reihen der syrischen Opposition an der Delegation teil. Sie setzten weiterhin auf die Hoffnung, dass, wenn Assad doch gestürzt und sich auf eine Übergangsregierung geeinigt werden sollte, sie auch einen Stück vom Kuchen ergattern könnten.
Verhandlungen in der Schweiz ohne handfeste Ergebnisse
Die VertreterInnen der Partei der Demokratischen Union (PYD) erklärten, dass diese kurdischen Vertreter in den Reihen der syrischen Opposition nicht die Stimme Rojavas repräsentieren könnten. Ohnehin seien Verhandlungen über die Zukunft Syriens ohne die Einbeziehung aller relevanten politischen Kräfte und Teile der Bevölkerung dieses Landes zum Scheitern verurteilt, erklärte der PYD-Kovorsitzende Salih Muslim. Denn nicht nur die KurdInnen wurden nicht an den Verhandlungstisch eingeladen, sondern auch die VertreterInnen der ChristInnen in Syrien, aber auch die sogenannte »innere Opposition«, die Koalition für einen Demokratischen Wandel, war anscheinend nicht gewünscht. Die internationalen Mächte suchten sich also für die Konferenz die ihnen genehme Opposition aus und übergingen alle anderen. Das Ergebnis scheint das gewesen zu sein, was Muslim vorhergesagt hat. In beiden Runden der Friedensgespräche im schweizerischen Montreux und Genf kam nichts Handfestes raus; die Kämpfe gehen weiter.
Auch wenn eine eigenständige kurdische Beteiligung bei den Verhandlungen in der Schweiz zu einem strategischen Fortschritt für die Rojava-Revolution hätte führen können, betonten die PolitikerInnen aus Rojava immer wieder, dass keine Beteiligung auch kein Beinbruch wäre. Aldar Xelîl, Mitglied der Volksräte Westkurdistans, ist fest davon überzeugt, dass die Unterstützung durch die Bevölkerung den einzigen Garanten für den Erfolg der Revolution darstellt. »Das Regime, die Opposition, aber auch die internationalen Mächte können, wenn es heute in ihrem Interesse ist, dir ihre Unterstützung zusagen und morgen, wenn sich das Mächteverhältnis ändert, wieder ihre Ansichten widerrufen. Wir bauen deshalb allein auf die Unterstützung der Bevölkerung. Gemeinsam mit ihr und ihrer Kraft wollen wir unsere Zukunft selbst gestalten«, so Xelîl. Und die Unterstützung der Bevölkerung für die Rojava-Revolution ist groß. Auch wenn die kurdische Freiheitsbewegung in Syrien Vorreiterin dieser Revolution ist, so wurde der Aufbau der demokratisch-autonomen Selbstverwaltung gemeinsam mit allen Volks- und Religionsgruppen aus Rojava entwickelt und ausgerufen. Der am 6. Januar 2014 in der westkurdischen Stadt Amudê verabschiedete Gesellschaftsvertrag soll die in Rojava lebenden KurdInnen, AraberInnen, AssyrerInnen, ChaldäerInnen, AramäerInnen, ArmenierInnen, TurkmenInnen und TschetschenInnen vereinen. Ein pluralistisches und demokratisches System soll in den drei Kantonen Cizîre, Afrîn und Kobanî aufgebaut werden.
Hoffnung auf demokratische Zukunft
»Die demokratisch-autonome Verwaltung ist Teil eines nicht zentralistisch organisierten zukünftigen Syriens und dessen Vorbild. Ein föderales System ist das passendste Modell für Syrien und das Verhältnis zwischen der autonomen Verwaltung und der Zentralregierung Syriens wird auf dieser Grundlage strukturiert«, heißt es in Artikel 12 des Gesellschaftsvertrages. Daraus wird deutlich, dass dieser Schritt keineswegs, wie böse Zungen gern behaupten, einer Aufspaltung Syriens den Weg bereiten soll. Ganz im Gegenteil, in Rojava wird ein Gesellschaftsmodell geschaffen, welches die Hoffnungen dafür nährt, dass ein demokratischer Wandel für Syrien doch möglich ist. Dass die Demokratische Autonomie nicht allein auf die mehrheitlich kurdischen Regionen in Rojava beschränkt sein soll, wird in Artikel 7 des Gesellschaftsvertrags erklärt. Darin heißt es: »Alle Städte und Regionen in Syrien, die den Gesellschaftsvertrag akzeptieren, haben das Recht, Teil der demokratisch-autonomen Verwaltungen zu sein.«
Inmitten des Bürgerkriegs blüht in Syrien also doch die Hoffnung auf eine demokratische Zukunft. Und diese Hoffnung wird nicht durch die von den internationalen Mächten bestimmte »Syrien-Friedenskonferenz« in der Schweiz genährt, sondern von den Menschen aus Syrien selbst. Dass genau diese Region, die derzeit einzige demokratische Insel in Syrien, nicht die internationale Anerkennung der Regional- und Weltmächte bekommt, offenbart, was alle eigentlich schon wissen: Den Mächten, die ihre Finger im syrischen Bürgerkrieg haben, geht es nicht um die Demokratisierung des Landes, sondern lediglich darum, wie sie ein zukünftiges Syrien erschaffen können, dass bestmöglich ihren eigenen Interessen dient. Während all diese Mächte also ihren eigenen Kampf in Syrien führen, muss die Bevölkerung ebenfalls ihren eigenen Kampf, den Kampf um Demokratie, führen. Die Ausrufung der demokratisch-autonomen Verwaltung in Rojava und der Gesellschaftsvertag stellen für diesen Kampf wichtige Errungenschaften dar. Deshalb schließe ich mit der Übersetzung eines Ausschnitts aus der Präambel des Gesellschaftsvertrags:
»Gegen die Ungleichbehandlung der Religionen, Sprachen, des Glaubens und der Geschlechter; für den Aufbau der Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie in einer gerechten und ökologischen Gesellschaft; für das Erlangen eines pluralistischen, eigenständigen und gemeinsamen Lebens mit allen Teilen einer demokratischen Gesellschaft und ihrem politisch-moralischen Selbstverständnis; für den Respekt gegenüber den Frauenrechten und die Verwurzelung von Kinderrechten; für die Selbstverteidigung; für die Freiheit und den Respekt des Glaubens, erkennen wir als Kurden, Araber, Suryoyos (Assyrer, Chaldäer und Aramäer), Turkmenen und Tschetschenen diesen Vertrag an.
Die Regionen der demokratisch-autonomen Verwaltung akzeptieren weder das nationalstaatliche, militaristische und religiöse Staatsverständnis, noch akzeptieren sie die Zentralverwaltung oder Zentralmacht.
Die Regionen der demokratisch-autonomen Verwaltung sind offen für die Beteiligung aller ethnischen, gesellschaftlichen, kulturellen und nationalen Gruppen mittels ihrer Vereinigungen, sowie der darauf aufbauenden Verständigung, der Demokratie und des Pluralismus. Die Regionen der demokratisch-autonomen Verwaltung respektieren den nationalen und internationalen Frieden, die Menschenrechte. Sie erkennen die Grenzen Syriens an. [...]«
Mako Qoçgirî ist Mitarbeiter von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e. V.
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