Kriegsverbrechen gegen Selbstbestimmung: Permanent Peoples’ Tribunal Rojava vs. Turkey
April 7, 2025
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Holger Deilke, Aktivist Am 5. und 6. Februar hielt das «Permanent Peoples’ Tribunal on Rojava vs. Turkey1» (im Folgenden PPT) seine Sitzung zur Untersuchung der Kriegsverbrechen des türkischen
Holger Deilke, Aktivist
Am 5. und 6. Februar hielt das «Permanent Peoples’ Tribunal on Rojava vs. Turkey1» (im Folgenden PPT) seine Sitzung zur Untersuchung der Kriegsverbrechen des türkischen Staates gegen die Bevölkerung seit der Besetzung Efrîns im Jahr 2018 ab. Diese Sitzung des PPT wurde auf Anfrage von neun Organisationen eingerichtet2. Das Permanent Peoples’ Tribunal ist eine Nachfolgestruktur des Russel-Tribunals.
Der Eingang des Gebäudes Q der Vrije Universiteit Brussel (VUB – Freie Universität Brüssel), in dem die 54. Sitzung des Permanent Peoples’ Tribunal über Rojava vs. Türkei tagte, wirkte eher unscheinbar – zwei auf die Sitzung hinweisende Plakate, einige rauchende und sich unterhaltende Menschen, nichts, was auf die Bedeutung und die Schwere der Anschuldigungen hinwies, die in dem Saal verhandelt wurden. Der Saal der Freien Universität Brüssel war gefüllt mit Interessierten aus verschiedenen europäischen Ländern sowie dem Mittleren Osten – zusammen etwa 250 Personen, die der Einladung gefolgt waren.
Dem PPT ging es um nichts weniger als die Untersuchung »über die Verantwortung hochrangiger türkischer Beamter für mutmaßliche Verbrechen der Aggression, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Rojava, Nordost-Syrien, von 2018 bis heute.« Dafür wollte sich das Tribunal berichten lassen und Zeug:innenaussagen anhören, um zu einer Beurteilung zu kommen. Selbstverständlich wurden die Angeschuldigten (verantwortliche Politiker und Militärs3) eingeladen um sich vor dem Tribunal zu verteidigen. Nicht minder selbstverständlich hat sich keiner der Eingeladenen zur Verteidigung eingefunden.
Was das Tribunal sich für die zwei Tage vorgenommen hatte, mutet vielleicht sehr nüchtern und ein wenig juristisch an. Ist doch allgemein bekannt, dass die Türkei völkerrechtswidrig Gebiete in Nord- und Ost-Syrien besetzt hält und Kriegsverbrechen begeht, und auch, welcher Art diese Kriegsverbrechen sind. Alles bekannt. Aber es ist doch noch einmal etwas anderes, darüber zu wissen, als sich Berichte und Zeugnisse von Betroffenen anzuhören und auch anzuschauen. Einige der Berichte waren derart erschütternd, dass mir die Verfassung eines Berichtes über diese Sitzung des PPT wirklich schwer fällt.
Das erste Russell-Tribunal, auch unter der Bezeichnung Vietnam War Crimes Tribunal (englisch für »Vietnam-Kriegsverbrechen-Tribunal«) bekannt, wurde 1966 von dem britischen Mathematiker, Philosophen und Literaturnobelpreisträger Bertrand Russell sowie Ken Coates und weiteren Beteiligten, unter dem Dach der Bertrand Russell Peace Foundation (Bertrand-Russell-Friedens-Stiftung) ins Leben gerufen. Ziel des Tribunals war die Untersuchung und Dokumentation US-amerikanischer Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg nach 1954. Dieses 1. Russel-Tribunal war mit internationalen Persönlichkeiten besetzt. Darauf folgten weitere Tribunale (unter anderem das »3. Russell-Tribunal über die Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland in Frankfurt-Harheim (28. März bis 4. April 1978) und Köln-Mülheim (3. bis 8. Januar 1979)«). Auf Initiative von Lelio Basso – Mitglied des 1. Russel-Tribunals – wurde 1979 ein Permanentes Völkertribunal zu Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen der Rechte von Völkern eingerichtet, das jährlich zu unterschiedlichen Themengebieten tätig ist. 2025 zum Komplex Rojava vs. Türkei.
Programm und Struktur der Tagung
Das Tribunal bestand aus sieben Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verschiedener Regionen der Welt (Westeuropa, Philippinen, Süd-Afrika) und führte die Sitzung vom Podium aus. Ebenfalls auf dem Podium saßen die Hauptankläger:innen und nahe bei ihnen die weiteren Ankläger:innen, die die Anklagen für die einzelnen Kriegsverbrechen vortrugen.
Verschiedene Kriegsverbrechen
Die Tagung des PPT war in 6 Sitzungen gegliedert:
Zwangsumsiedlungen und die demografische Umgestaltung durch Vertreibung der Bevölkerung; Massaker, Bombardierungen und Folter an geflüchteten Zivilist:innen in Tel Rifat; Folter, Verschleppung und geheime Gefängnisse in Efrîn;
Zeugenaussage von Ibrahim Şexo in Efrîn; die Lage in Serêkaniyê und Girê Sipî (demografische Umgestaltung, Vertreibung der Bevölkerung und der Gebrauch verbotener Waffen);
Angriffe auf die Strom- und Wasserversorgung; Angriffe auf die medizinische Infrastruktur, auf ein Krankenhaus in Kobanê etc.; Umweltzerstörung;
Femizide gegen bekannte Frauen um die Bedeutung der Geschlechtergerechtigkeit des demokratischen Konföderalismus zu untergraben; Drohnenangriffe gegen die Zivilbevölkerung als Mittel, um indirekt die Vertreibung von Menschen, insbesondere von Frauen und Kindern, zu erreichen;
Geheime Gefängnisse: Willkürliche Inhaftierung, Folter, Verschwindenlassen und sexuelle Gewalt; kulturelle und historische Auslöschung;
Bombardierung der Şemenko-Schule; Bombardierung der Sîmav-Druckerei.
Das war ein sehr umfangreiches Programm für die zwei Tage, und es blieb der Eindruck zurück, dass mit jeder Sitzung auch ein ganzes Wochenende hätte gefüllt werden können. So erfolgten die Schilderungen und Berichte über Kriegsverbrechen dicht auf dicht, was in dieser Eindrücklichkeit Spuren bei sicherlich allen Anwesenden dieses Tribunals hinterlassen hat.
Am 18.8.2022 verübte die Türkei neben anderen auch einen Drohnenangriff auf eine Schule, die Şemenko-Schule für Mädchen und junge Frauen, während die Schule geöffnet war. Der Bericht der überlebenden Schülerinnen, wie sie – nachdem die Detonation verebbt war und keine Splitter mehr umherflogen – versuchten sich wieder zu orientieren und nach ihren Mitschülerinnen zu schauen, hat die Zuschauenden teilweise fassungslos hinterlassen. Ihre Aussagen waren gefilmt und in den Sitzungssaal übertragen worden. Sie berichteten unter anderem, wie ihre Mitschülerinnen, nachdem sie zuvor noch miteinander getanzt und sich unterhalten hatten, nun unter Schmerzen auf dem Boden lagen und in den Armen der nunmehrigen Zeuginnen starben.
Wie kann jemand eine Drohne steuern, die so etwas anrichtet?! Eine Schule bombardieren! Und das war nicht die einzige bombardierte Schule. Oder Krankenhäuser, wofür es auch Beispiele gab. Oder eine Druckerei mitsamt der dort Arbeitenden.
Vergewaltigung als Waffe
In einem per Video übertragenen Interview berichtete eine Frau aus Efrîn, die ohne Anklage in ein geheimes Gefängnis verschleppt worden war. (Wie etwa 350 weitere Frauen – und das sind nur die Fälle, die dokumentiert werden konnten). Sie berichtete, wie sie von Dschihadisten entführt und dann ca. zwei Jahre lang nahezu täglich von türkischen Geheimdienstlern vergewaltigt und gefoltert worden war; und am Ende war es eine Verbesserung ihrer Situation, den Dschihadisten – der Hamza-Division – übergeben worden zu sein, weil dann wenigstens die Vergewaltigungen nicht fortgesetzt wurden. Irgendwann ist sie einfach entlassen worden. Sie konnte nach Hause zu ihrer Familie gehen und hat sich entschieden, nicht über das Erlebte zu schweigen.
Eine Frauenrechtsaktivistin in Nord- und Ost-Syrien berichtete, dass vor allem junge Frauen verschleppt werden, zum großen Teil wie beschrieben drangsaliert werden und nach Zahlung eines Lösegeldes wieder entlassen werden. Das ist alles sehr organisiert und erhöht den Druck auf die Bevölkerung, diese Region zu verlassen, trägt also zur Vertreibung bei. Dazu kommt noch, dass die Besatzer die kurdischen Familien dazu auffordern, ihre Töchter den Milizen zu geben. So werden dann – wegen der männlichen Erbfolge – zunehmend »türkische« Kinder geboren, und die demografische Umgestaltung der Region schreitet voran. Schon für Alexander dem sogenannt »Großen« – der beim Durchmarsch seines Heeres tausende Zwangs›heiraten‹ organisierte – waren (etwa 300 vor unserer Zeitrechnung) Vergewaltigungen ein probates Mittel, die Dominanz der Besatzer sicherzustellen. Das Land wird über den Angriff auf die Frauen erobert.
Die gnadenlose Selbstverständlichkeit der Gewalt
Sehr bezeichnend für die Selbstverständlichkeit, mit der die Türkei und ihre Handlanger ihr eigenes Tun als legitim empfinden ist auch, dass sie einen Teil ihrer Greuel selbst filmen und veröffentlichen. Da sind zum Beispiel die Drohnenangriffe auf eine Druckerei, deren gefilmte Zerstörung anschließend auf türkischen Internetseiten gepostet wurden.
Oder, sehr aktuell, eine Bombardierung auf den Tişrîn-Staudamm. Da ist aus Drohnensicht zu sehen, wie mehrere Gruppen Menschen sich auf dem Terrain des Staudammes befinden und dort tanzen und ihr Zusammensein feiern. Und dann werden die Bomben abgeworfen, genau in die Tanzenden hinein. Und kurz darauf die nächsten Bomben: auf diejenigen, die den Verletzten zu Hilfe eilen. Bildmaterial der Täter, das später als Riesenerfolg im Internet geteilt wird.
Es sind überwiegend staatliche Institutionen, die solches Bildmaterial veröffentlichen. In den offiziellen Verlautbarungen zu diesen Angriffen ist selbstverständlich immer von »ausgeschalteten Terroristen« die Rede.
Menschenverachtende Konsequenz
Es führt zu weit, an dieser Stelle über alle Sitzungen des PPT zu berichten4. Dem Auditorium wurde im Verlauf der Tagung sehr deutlich, dass 1. die Verbrechen von Männern geplant und durchgeführt werden, und 2. Frauen, ihr Leben und ihre Organisierung das vorranginge Ziel der Angriffe sind. Auch deshalb kann es nur Hochachtung und Bewunderung für den Mut dieser Frauen geben, sich in die Öffentlichkeit zu stellen und zu berichten, wozu die Aggressoren fähig sind. Ihre Berichte machen es uns allen zur Aufgabe, Strategien zu entwickeln, dieser Brutalität besser entgegenzutreten. Auch um die Fassungslosigkeit zu überwinden, die diese konsequente Menschenverachtung, mit der diese Verbrechen geplant und durchgeführt werden, immer wieder hervorruft.
Vorläufige Stellungnahme des PPT
Das PPT beendete seine Sitzung mit einer vorläufigen Stellungnahme5, in der es unter anderem heißt: »Die Muster der Angriffe, Bombardierungen, Beschießungen, Drohnenangriffe und Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung, die Zwangsumsiedlungen und die demografische Umgestaltung durch Vertreibung der Bevölkerung, die Zerstörung der Strom- und Wasserversorgung, die Umweltschäden, die Zerstörung des kulturellen Erbes und der Bildungseinrichtungen, die Vergewaltigungen, Folter und die geheime Inhaftierung – all dies verstößt gegen das Völkerrecht, stellt Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen dar und ist ein Hinweis auf Völkermord.« Das Urteil soll am 26. März 2025 in den Räumen des Europäischen Parlaments gesprochen werden.
Mit folgenden Worten wird die internationale Gemeinschaft an ihre Verpflichtungen erinnert6:
»Die internationale Gemeinschaft ist sich des anhaltenden Leidens des kurdischen Volkes und der Verbrechen der Angeklagten bewusst, hat aber keine bedeutsamen Maßnahmen ergriffen. Es gibt keine Anerkennung der DAANES durch die Staaten der Weltgemeinschaft und keine Möglichkeit der nationalen oder internationalen Wiedergutmachung. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Erfahrungen der Kurd:innen in Nord- und Ostsyrien und die gegen sie verübten Verbrechen ordnungsgemäß anerkannt werden, dass die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden, dass die DAANES international als authentisch repräsentative und demokratische Selbstverwaltungsbehörde anerkannt wird und dass die internationale Gemeinschaft unverzüglich dafür sorgt, dass die direkten und indirekten Angriffe der Türkei auf das kurdische Volk von Rojava eingestellt werden, um einen regelrechten Völkermord zu verhindern.«