Die Situation der Frauen in Südkurdistan

Besatzung – vor allem eine Frage der Mentalität

Necibe Qeredaxî, Jineojî Europa Komitee

 

Wie alle Völker der Welt, ist sich das kurdische Volk der Bedeutung seines Landes und der Wurzeln seiner kulturellen Werte bewusst. Dieses Bewusstsein basiert auf einem historischen und sozialen Bewusstsein. Das kurdische Volk hat einen Widerstandsgeist entwickelt und sich gegen jede Art von Besatzung gewehrt. Um jedoch die heutige Realität in Südkurdistan zu verstehen, müssen die Auswirkungen der Besatzung auf Başûrê-Kurdistan1, insbesondere auf die Frauen, umfassend diskutiert werden. Darüber hinaus betrifft das Problem der Besatzung nicht nur die Menschen, sondern auch den Lebensraum, die Tiere und die gesamte Natur. Trotz vieler Leiden und Verluste wurde ein großer Kampf gegen die Besatzer und für die Vorreiterrolle der kurdischen Frau geführt. In diesem Zusammenhang muss jedoch die Frage gestellt werden, welches Ziel verfolgt wurde und inwieweit sich die entsprechende Praxis auf die Situation der Gesellschaft ausgewirkt hat. Denn der Verlauf der Ereignisse im letzten Jahrhundert, insbesondere in den letzten Jahrzehnten, ist anders als in anderen Teilen Kurdistans. Es ist unerlässlich, sowohl die Besatzung als auch die Methoden der Besatzer zu diskutieren und vor allem deren Auswirkungen auf die Frauen näher zu beleuchten. Ebenso müssen die theoretischen und praktischen Aktionen der Bewegungen und Gruppen gegen die Besatzung dargestellt werden. Die Kritik an diesen Bewegungen, vor allem an der PDK und die Überwindung ihrer Handlungs- und Denkweisen, ist eine unabdingbare Notwendigkeit für das Zusammenleben der Völker und der Gesellschaft in Başûrê-Kurdistan, insbesondere aber für die Frauen.

Besatzung ist ein Phänomen des Patriarchats

Aus diesem Grund hat die Beteiligung der Frauen am Freiheitskampf und an der Entwicklung des demokratischen, ökologischen und freiheitlichen Denkens sowie seines Ausdrucks und seiner Umsetzung in die Praxis auch in Südkurdistan eine große Bedetung für den Prozess der Befreiung von der Besatzung. Aber wenn wir die jetzige Situation in Başûr betrachten, sehen wir, dass die Frauen in allen Lebensbereichen unter dem Einfluss der Besatzung und der patriarchalen Mentalität stehen. Frauen nehmen nicht organisiert an der Politik teil und können daher keine radikalen Veränderungen herbeiführen. Die bruchstückhafte Beteiligung von Frauen in Organisationen basiert nicht auf dem Kampf um Freiheit, sondern auf Forderungen an das System und Dankbarkeit ihm gegenüber. Frauen sind keine Entscheidungsträgerinnen in der Politik – weder in den Parteien noch in der Verwaltung. Die Frauenquote in Regierungsinstitutionen ebnet den Weg für die Beteiligung von Frauen aus der gesellschaftlichen Elite, die der patriarchalen Herrschafts- und Machtmentalität nahestehen, individualisiert und von der Gesellschaft entfremdet sind. Frauen, die unter dem Einfluss der Regierungsparteien stehen, sprechen nicht von einem demokratischen und nationalen Standpunkt aus, sondern aus der Perspektive der Besatzer. Die Zersplitterung und Desorganisation der Frauen fördert die patriarchale Mentalität, alle Lebensbereiche zu kontrollieren. Ein solcher Bereich ist das Parlament. Die Frauenquote im Parlament war kein von den Parteien gewollter oder geplanter Schritt, sondern wurde nach jahrelangen Diskussionen unter dem Druck einiger Frauenorganisationen und dem Einfluss der kurdischen Freiheitsbewegung (zu der die PKK gehört) beschlossen.

Frauen im nationalen Befreiungskampf

Die Teilnahme der Frauen am Widerstand in den Bergen Südkurdistans, d.h. als Pêşmerga, basierte früher in erster Linie auf der Kontinuität des Familienlebens und weniger auf einem ausgeprägten Bewusstsein für die politischen Realitäten. Männer, die Pêşmerga wurden, nahmen häufig ihre Frauen oder Töchter, Schwestern und Mütter mit, wodurch die familiären Beziehungen aufrechterhalten wurden. Obgleich der Wunsch, sich der nationalen Sache anzuschließen, vorhanden war, kam es in der Regel nicht zum Geschlechterkampf. Auch wenn Frauen den Wunsch hatten, sich am Kampf zu beteiligen, taten sie dies nicht für die Anerkennung ihrer Existenz oder um sich von der Identifikation der Rolle als Schwester, Mutter oder Ehefrau zu befreien. Ebenso wenig ging es darum, sich von der Einflussnahme feudaler und familiärer Normen zu emanzipieren. Der Mann hatte den Status eines Stammesführers, Scheichs oder Imams inne. Die Unterdrückung des kurdischen Mannes durch die herrschenden Kräfte manifestierte sich auch in der Schattenidentität der Frau gegenüber dem Mann. Die Frau befand sich in einem Zustand mehrdimensionaler Gefangenschaft, wodurch sie nicht in der Lage war, die Familie, den Clan, die Verwandtschaft sowie den Status der Frau als Eigentum zu verändern. Diese Situation lässt sich nicht allein mit der Schwäche der Frauen erklären. Im feudal geprägten nationalen Kampf gab es keine Struktur, keine Grundlage, die einen gleichzeitig Geschlechterkampf ermöglicht hätten. Weder der Hintergrund der Gründung und des Handelns noch die ideologischen und methodischen Prinzipien dieser Bewegung basierten auf dem Prinzip der Frauenbefreiung. Die kurdische Bevölkerung wurde wiederholt dazu aufgerufen, sich gegen einen äußeren Feind zu vereinen. Dies geschah jedoch auf der Basis der Unterwerfung der Frauen.

In den 70er Jahren sahen wir an den Wänden kurdischer und einiger assyrischer Familien neben dem Bild von Şahmaran2 auch Bilder von Margret George und Leyla Qasim3. Auf diesen Bildern sahen wir ihre mutige, würdevolle und selbstbewusste Haltung. Viele Frauen wollten wie sie sein. Margret (1942-1969) war Assyrerin. Sie war die erste Frau, die 1960 in die Reihen der Pêşmerga der PDK aufgenommen wurde.

Doch weder Margrets achtjähriger Kampf in den Reihen der Pêşmerga, noch Leyla Qasims Botschaft auf der Richtbank wurden zu einem Manifest für die Lösung des Problems der Freiheit in politischen Parteien und Bewegungen, sondern zu einem bloßen Propagandaversprechen. Die Geschichten von Hunderten von Frauen in den Gefängnissen, von Frauen, die für die Pêşmerga logistische und Kurierarbeit leisteten, von Aktivistinnen, die in der Stadt im Untergrund arbeiteten, wurden ignoriert, als seien sie nichts.

Die Familie als älteste ideologische Institution

Um die Situation der Besatzung in Başûrê-Kurdistan adäquat zu erfassen, ist eine Betrachtung der Familie sowie aller Faktoren, welche die Familie zum Reproduktionsort der Besatzung in den Körpern, Gefühlen und Gedanken der Frauen werden lassen, erforderlich. Denn sowohl die Besatzung als auch die männliche Herrschaft manifestieren sich in dieser Region und reproduzieren sich dort fortwährend. Diese Erkenntnis ist freilich nicht neu. Die Familie als älteste ideologische Institution der Geschichte hat mit ihrer Ideologie der Dynastie und der Familie weite Möglichkeiten für interne und externe Besetzung eröffnet. In Başûrê-Kurdistan manifestiert sich die Familie als zentrale Institution in einer Weise, die durch eine Allianz von Sexismus, Besatzung und Religion geprägt ist. Die Zerstörung der Familie und ihre Transformation in einen Ort sorglosen, egoistischen und materialistischen Verhaltens, das von der Befriedigung sexueller Wünsche geprägt ist, ist allerdings ein global bestehendes Problem.

Einerseits bindet die Familie unter diesem Einfluss die Mädchen und Jungen mit Sätzen wie »Ich werde dir den Kopf binden«4 oder »Ich werde dich fesseln« tatsächlich an die Familienstruktur und hält sie vom Kampf um Freiheit und Selbsterkenntnis fern. Dieser Prozess wird durch religiöse Institutionen und religiöse Bewegungen gefördert. Der Einfluss des Salafismus auf die Gesellschaft erfolgt durch Phänomene, die der gesellschaftlichen Kultur völlig fremd sind und Beispiele einer kulturellen Invasion darstellen, wie z.B. die massenhaften Zeremonien des Kopftuch- bzw. Hijabtragens, die sowohl vom radikalen als auch vom liberalen politischen Islam zu einem Spektakel gemacht wurden. Die gleichzeitige Entwicklung dieser Welle in allen Teilen Kurdistans ist kein spontanes Phänomen; sie entwickelt sich als Gegenrevolution gegen die Frauenrevolution. Sie ist ein geplanter Versuch, das Bild des unterworfenen, abhängigen Individuums und der klassischen Familie zu reproduzieren und in einen Kontext zu stellen, der dem Status der Besatzung nicht widerspricht.

Diese Situation manifestiert sich auch auf politischer Ebene. Es ist kein zufälliger sprachlicher Fehler, wenn der Führer der Ikhwani Sunni (Sunnitische Bruderschaft), einer islamischen politischen Partei in Başûrê-Kurdistan, sagt: »Wir benutzen das Wort Besatzer nicht, und wir sehen keinen Staat als Besatzer an«. Diese Äußerung soll zeigen, dass die kurdische Frage keine politische, nationale Frage sei, keine Frage des Geschlechts und der Klasse, d.h. keine Frage der Freiheit.

Im Rahmen des Antibesatzungsdiskurses ist die Haltung Öcalans bei einem Besuch in einem Dorf in Kurdistan in den 1970er Jahren von bedeutendem Wert. Dort sah er einen alten Mann und eine junge Frau in einem Haus, wobei er die junge Frau irrtümlich für die Enkelin des alten Mannes hielt. Später stellte er jedoch fest, dass sie mit dem Mann verheiratet war. Diese Erfahrung, die die Realität Kurdistans und der Kurd:innen offenbart, bildet die Grundlage für seine Beharrlichkeit und Entschlossenheit, die Befreiung Kurdistans mit der Befreiung der Frauen zu verbinden. Die Verknüpfung der Befreiung des Landes mit der Befreiung der Frauen ist die Voraussetzung für die Freiheit in der Welt. Im Lauf des vergangenen Jahrhunderts ist es den nationalen Befreiungsbewegungen nicht gelungen, die Revolution in der Revolution zu verwirklichen. Diesbezüglich sei darauf verwiesen, dass die Frage der Befreiung der Frauen von der Besatzung von den jeweiligen Bewegungen auf die Zeit nach der Revolution (bzw. nach der Machtübernahme) verschoben wurde. Dies führte nicht zur Emanzipation der Frauen und der Gesellschaft, sondern zur Reproduktion der Besatzung durch die Frauen in der Familie und in allen anderen herrschenden Institutionen. Im Gegensatz zu den Pêşmerga hat die kurdische Freiheitsbewegung den Frauen in der Guerilla eine zentrale Rolle eingeräumt, weshalb die Beteiligung der Frauen an der Befreiungsbewegung in Başûrê-Kurdistan seit den 1990er Jahren von den Prinzipien geprägt war, die sich in den Sätzen »Kurdistan ist eine Kolonie« und »Die Gesellschaft kann nicht frei sein, wenn die Frauen nicht frei sind« widerspiegeln. Darüber hinaus war ihre erste Begegnung mit Begriffen wie »Patriotismus« ein wichtiger Ausgangspunkt für den Kampf gegen die Besatzung.

Das größte Problem und ein wesentliches Hindernis für die Entwicklung alternativer Perspektiven in Başûrê-Kurdistan ist die mangelnde Bereitschaft, bestehende Denkweisen, feudale und patriarchale Mentalitäten in Frage zu stellen und sich von den Zwängen des Systems zu lösen. Die bewusste Betonung von Religion und Tradition durch die Besatzungsmacht erschwert die Situation zusätzlich und führt dazu, dass die Grenzen zwischen Recht und Unrecht nicht erkannt werden.

Eine weitere von den Besatzern seit jeher in der kurdischen Persönlichkeit kultivierte Krankheit ist der Selbsthass und fehlendes Selbstbewusstsein. Dies manifestiert sich in dem Ausspruch: »Die Kurden lieben sich nicht, sie können sich nicht vereinigen, sie können nicht zusammenarbeiten«. Seit fünfzig Jahren hat die Freiheitsbewegung dieses Verständnis durch ihre gemeinsame Arbeit und ihre Ideen innerhalb der kurdischen Gesellschaft widerlegt.

Das Beispiel Başûrê-Kurdistan zeigt, dass die Besatzung vor allem eine Frage der Mentalität ist. Deshalb ist es wichtig, dass alle Menschen, Parteien und Medienorganisationen die Besatzung weiterhin mit dem notwendigen Gewicht thematisieren und in die gesellschaftliche Diskussion einbringen. Anfang 2016 hatten wir die Gelegenheit, an einer wichtigen Konferenz in Silêmanî (Sulaymaniyah) zu diesem Thema teilzunehmen. Die Konferenz hat eine Reihe wertvoller Dokumente hervorgebracht. Darin werden die wirtschaftlichen, politischen und bildungspolitischen Aspekte der Besatzung diskutiert und Vorschläge für den Kampf gegen die Besatzung in Başûrê-Kurdistan gemacht.

In Anbetracht des aktuellen Besatzungszustandes lässt sich die These aufstellen, dass die einfachste Form des Freiheitskampfes und die Freiheitsdefinition Öcalans – »Freiheit ist die Kraft der Gesellschaft, sich selbst zu erschaffen« – auch für Başûrê-Kurdistan Gültigkeit besitzt. Eine falsche Definition von Freiheit führt demnach zum Zerfall der Gesellschaft. Der Konflikt zwischen der Imitation westlicher Kultur, die durch zivilgesellschaftliche Institutionen, Theater, Film, Musik und Medien geprägt ist, und einer dogmatischen traditionellen Kultur, die die Gesellschaft in einem geistigen, moralischen und ideologischen Vakuumdschihadistischem, salafistischem Islam und Tradition zurücklässt, betrifft insbesondere Frauen, die in diesem Konflikt aufgerieben werden.

Daher ist es die grundlegendste Aufgabe der Revolution, eine Kultur der Hoffnung und des Widerstandes anstelle der von der nationalistischen, klassischen Linken und dem politischen sunnitischen Islam geschaffenen Kultur der Kapitulation und der Flucht vor der Verantwortung zu schaffen, und eine Kultur der Einheit und des Kollektivismus anstelle des vom Neoliberalismus geschaffenen Individualismus und Regionalismus zu etablieren. Nach vierunddreißig Jahren Erfahrung, in denen Macht und Besatzungsmentalität untrennbar miteinander verbunden waren, ist diese Aufgabe nicht nur historisch, sondern auch moralisch von Bedeutung und bedarf einer gewissenhaften Praxis. Die Schreie der Frauen, die sich selbst verbrannten, die Aufrufe der Lehrer:innen zu Boykott und Demonstrationen, der Kinder, der Bäuer:innen und der ehemaligen Pêşmerga, der Ruf aller angesichts dieser nicht mehr tolerierten Situation ist der Ruf nach Revolution.

 

 Fußnoten

1 Südkurdistan, auf Kurdisch Başûrê Kurdistanê oder kurz Başûr

2 siehe https://kurdistan-report.de/index.php/archiv/2022/96-kr-221-mai-juni-2022/1300-bis-sie-ihre-weisheit-zurueckgewonnen-haben

3 Leyla Qasim war eine Vorkämpferin für die Rechte der Kurd:innen und wurde 1974 wegen ihres politischen Engagements durch das Baath-Regime hingerichtet.

4 Der Satz hat zweierlei Bedeutung: 1) »Ich werde dir den Schleier / das Kopftuch anlegen« oder 2) die Ankündigung, jemanden zu verloben bzw. zu verheiraten.


 Kurdistan Report 235 | Oktober-Dezember 2024