Wie das türkisch-irakische »Memorandum of Understanding« vom August 2024 von Völkerrecht redet und stillschweigend Kriegsverbrechen antizipiert
Kriegsverbrechen erhalten ein völkerrechtliches Feigenblatt indem die Türkei mit der irakischen Zentralregierung ein weitreichendes Militärabkommen vereinbart
Ein Beitrag von Elmar Millich, Mitglied der Redaktion
Die militärische Zusammenarbeit zwischen der Türkei und dem Irak hat sich in den letzten Monaten dramatisch intensiviert und spiegelt eine tiefergehende geopolitische Strategie wider, die weit über den Kampf gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hinausgeht. Am 15. August unterzeichneten die beiden Länder ein umfassendes Memorandum, das nicht nur den Rahmen für eine verstärkte sicherheitspolitische Kooperation absteckt, sondern auch den Grundstein für eine langfristige türkische Präsenz im Irak legt. Setzte die Regierung in Ankara im Nordirak bislang hauptsächlich auf die militärische Karte und die Kooperation mit der Demokratische Partei Kurdistans (PDK), versucht sie nun, ihren militärischen Aktivitäten durch Einbindung der irakischen Zentralregierung eine völkerrechtliche Legitimation zu verschaffen. An dem Treffen zur Unterzeichnung des Abkommens in Ankara nahmen die Außen- und Verteidigungsminister, die Leiter der Nachrichtendienste sowie der Innenminister der Kurdistan-Region des Irak (KRI), Rêber Ahmed, und der Chef der schiitischen Volksmobilisierungseinheiten AL-Haschd asch-Scha’bi, Falih al-Fayyad teil. Diese Entwicklung fügt sich in eine Serie von hochrangigen Treffen ein, bei denen Vertreter beider Staaten, darunter der türkische Außenminister Hakan Fidan, Verteidigungsminister Yaşar Güler und MIT-Chef Ibrahim Kalın, mehrfach nach Bagdad gereist waren. Auch die Reise des irakischen Premierministers Mohammed al-Sudani im April nach Ankara unterstreicht die wachsende Bedeutung dieser bilateralen Beziehungen.
Das neue Memorandum sieht in Artikel 4 die Einrichtung eines gemeinsamen Zentrums zur Koordination von Sicherheitsmaßnahmen in Bagdad vor, das den Grundstein für die Stationierung türkischer Truppen in der irakischen Hauptstadt legt. Diese Truppen sollen dann offiziell dem gemeinsamen Einsatzkommando unterstehen, werden de facto jedoch unter der Kontrolle des türkischen Außenministers Hakan Fidan bleiben. In Artikel 5 des Abkommens wurde die Einrichtung eines gemeinsamen Militärkomitees beschlossen und Artikel 6 regelt den Austausch nachrichtendienstlicher Informationen zwischen den Vertragsparteien. Mit diesen Artikeln wird versucht, die seit Jahren anhaltende militärische Stationierung der türkischen Armee in Südkurdistan, die Errichtung neuer Stützpunkte, die Vertreibung und Zerstörung von Dörfern und die wirtschaftliche Ausplünderung der Region mit dem Völkerrecht in Einklang zu bringen. Dabei hat die internationale Öffentlichkeit bislang ohnehin schon über über dokumentierte völkerrechtswidrige Einsätze von Chemiewaffen gegen Tunnelanlagen der Guerilla hinweggeschaut.
Vorgesehen ist mittels des neuen Memorandums die Umwandlung der seit 2015 von der Türkei besetzten Militärbasis in Başîqa nordöstlich von Mosul in ein gemeinsames Ausbildungs- und Kooperationszentrum, was die türkische Militärpräsenz im Irak formell legitimiert, indem es die Verantwortung für die Sicherheit des Stützpunkts an Bagdad überträgt. Diese Entwicklungen sind Teil einer breiter angelegten Strategie Ankaras, die darauf abzielt, den türkischen Einfluss im Nahen Osten auszubauen, indem strategische Allianzen geschmiedet und militärische Präsenz in Schlüsselregionen gefestigt werden.
Diese türkisch-irakische Kooperation beschränkt sich jedoch nicht nur auf den militärischen Bereich. Bereits im April wurden bei einem Besuch des türkischen Präsidenten Erdoğan umfangreiche Abkommen bezüglich einer »Entwicklungsstraße« zur engeren Verbindung zwischen der Türkei und dem Irak geschlossen. Diese Straße, die als eine moderne Seidenstraße konzipiert ist, soll nicht nur den Handel zwischen den beiden Ländern fördern, sondern auch die Kontrolle der Türkei über die Region festigen. Zusätzlich wird die »Bewirtschaftung« des Wassers von Euphrat und Tigris, das durch die Türkei mit einer Vielzahl von Staudämmen aufgestaut wird, zu einem weiteren geopolitischen Hebel Ankaras, um Druck auf Bagdad und die benachbarte Region auszuüben (s.a. »Das Iraq Development Road Project« in dieser Ausgabe)
Bereits vor dem aktuellen Abkommen ging die irakische Regierung auf Druck der Türkei auf juristischer Ebene gegen die Präsenz der PKK im Nordirak vor: Im März 2024 stimmte die Zentralregierung in Bagdad bei einem Besuch des türkischen Außenministers und Ex-Geheimdienstchefs Hakan Fidan einer Forderung Ankaras zu, die kurdische Befreiungsbewegung zu verbieten. Ende Juli 2024 wies der irakische Premierminister Mohammed Shia al-Sudani alle staatlichen Institutionen an, die PKK im gesamten offiziellen Schriftverkehr als »verbotene Organisation« zu bezeichnen. Aber auch bisher legale Parteien wurden mittlerweile wegen angeblicher PKK-Nähe verboten. Der Oberste Justizrat des Irak hatte am 5. August die Auflösung der ezidischen Partei PADÊ (Partiya Azadî û Demokrasiya Êzîdiya), der Bewegung für eine freie Gesellschaft in Kurdistan (Tevgera Azadî) und der Demokratischen Kampffront (Partîya Enîya Têkoşîna Demokrasiyê) angeordnet. Außerdem wurden Besitz und Eigentum der Organisationen beschlagnahmt. Zwar sehen sich alle drei Organisationen der Philosophie Abdullah Öcalans verpflichtet, aber eben nicht als Teil der PKK. Das Vorgehen trägt eindeutig die Handschrift des aktuellen türkischen Außenministers Hakan Fidan, der die diplomatische Isolation der PKK gleichberechtigt neben dem militärischen Vorgehen betreibt. Entsprechend wurde das Verbot auf der erwähnten Pressekonferenz in Ankara von ihm ausdrücklich begrüßt.
Die PDK wird gegenüber der irakischen Zentralregierung geschwächt
Die irakische Zentralregierung sieht in dieser neuen Partnerschaft mit der Türkei eine Chance, ihre eigene Position in der Region zu stärken. Bagdad hat lange die direkten Abkommen zwischen Ankara und der kurdischen Regionalregierung im Nordirak (KRI) kritisch betrachtet, insbesondere wenn es um den Export von Erdöl ging. Denn diese Abkommen untergruben die Autorität der Zentralregierung und förderten die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit der Kurden von der Türkei. Nun jedoch scheint Ankara bereit, Bagdad als wichtigen Partner anzuerkennen, was für die irakische Zentralregierung eine strategische Gelegenheit darstellt, die Machtbalance zugunsten der Zentralregierung zu verschieben. Dies könnte auch die Position der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), die in den letzten Jahren eng mit Ankara kooperierte, schwächen. Allerdings gilt dies vor allem für den diplomatischen Bereich. Bei ihren direkten Angriffen auf die PKK-Guerilla wird die türkische Armee weiter auf die Unterstützung der lokal vertrauten KDP-Peschmerga angewiesen bleiben und muss von daher auch der KDP Zugeständnisse machen. Dass sich größere Verbände der irakischen Armee an den türkischen Einsätzen beteiligen, bleibt unwahrscheinlich.
Der Kampf gegen die PKK bleibt für Ankara von zentraler Bedeutung. Seit 2021 führt die türkische Armee immer wieder grenzüberschreitende Militäroperationen gegen die PKK im Norden des Iraks durch. Diese Operationen wurden in der Vergangenheit von Bagdad kritisch betrachtet, doch mit den jüngsten Annäherungen hat sich die Haltung der irakischen Regierung geändert. Das neue Memorandum zur militärischen Zusammenarbeit und Terrorismusbekämpfung signalisiert nicht nur Zustimmung zu den türkischen Militäroperationen, sondern unterstützt diese aktiv. Dieser Wandel in der irakischen Außen- und Innenpolitik verdeutlicht die wachsende Abhängigkeit Bagdads von Ankara und könnte langfristig die Souveränität des Iraks untergraben.
Die türkisch-irakische Annäherung wird auch in Washington und anderen NATO-Hauptstädten mit Interesse verfolgt. Ein stärkerer türkischer Einfluss auf Bagdad könnte dazu beitragen, den iranischen Einfluss im Irak zu reduzieren, der seit dem Sturz Saddam Husseins erheblich zugenommen hat. Der Iran hat seinen Einfluss vor allem durch schiitische Milizen und politische Vertreter im Irak gefestigt, während die Türkei bislang hauptsächlich auf turkmenische Gruppen, die PDK und einige sunnitische Politiker gesetzt hat. Die NATO sieht in einer verstärkten türkischen Präsenz im Irak eine Chance, die iranische Vorherrschaft in der Region zu brechen und damit die iranische Einflusssphäre schrittweise auszutrocknen. Diese Strategie passt in das breitere geopolitische Konzept des Westens, den Einfluss des Iran im gesamten Nahen Osten einzudämmen.
Für die deutsche Bundesregierung bringt das Militärabkommen hauptsächlich innenpolitische Entlastung bei ihrer Rückendeckung für die Türkei bezüglich deren Militärinterventionen im Nordirak. Die Türkei rechtfertigt ihre Militäreinsätze in Nordsyrien und im Nordirak regelmäßig mit dem Recht auf Selbstverteidigung gegen terroristische Bedrohungen gemäß Artikel 51 der UN-Charta. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags hatte diese Argumentation aber in Gutachten aus den Jahren 2020 und 2022 bezüglich der türkischen Militäreinsätze im Nordirak in Zweifel gezogen und eine Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht hinterfragt.
Auf eine kleine parlamentarische Anfrage der LINKSPARTEI - Die Linke (Drucksache 20/11274) vom 3. Mai 2024 bezüglich des türkischen Armeeeinsatzes im Nordirak antwortete die Bundesregierung in gewohnter Weise, dass ihr keine über die Presseberichterstattung hinausgehenden Erkenntnisse zu den türkischen Angriffen auf die »Terrororganisation« Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) in Nordirak vorlägen. Sie weise aber die türkischen Partner in Gesprächen darauf hin, dass jegliche Maßnahmen der Türkei im Irak gegen die – auch in der EU als Terrororganisation gelistete - PKK mit dem Völkerrecht vereinbar sein müssten.
Zur konkreten Nachfrage bezüglich der Einschätzung des oben erwähnten wissenschaftlichen Gutachtens bezieht sich die Bundesregierung in ihrer Antwort aber bereits darauf, »dass die Türkei seit März 2024 eine engere Abstimmung mit der irakischen Regierung sucht, um Möglichkeiten eines gemeinsamen Vorgehens gegen die Terrororganisation PKK zu eruieren. In diesem Kontext teilte der irakische Nationale Sicherheitsrat am 14. März 2024 mit, dass die PKK zu einer verbotenen Organisation erklärt worden sei.« Mit dem neuen Abkommen vom August im Hintergrund wird die Bundesregierung zukünftig sehr wahrscheinlich die Militärinterventionen der Türkei als völkerrechtlich legitim bezeichnen, da sie in Übereinkunft mit der irakischen Zentralregierung unabhängig davon erfolgen, ob auch Artikel 51 der UN-Charta greift. Das wird auch (negative) Folgen für die Oppositionsarbeit in Deutschland sowohl in politischer als auch juristischer Hinsicht haben.
Eine dauerhafte Besatzung und Annexion der kontrollierten Gebiete in Nordsyrien und im Nordirak bleibt für die Türkei eine Option
Während sich die Türkei auf internationaler Ebene zunehmend Unterstützung für ihren Kampf gegen die PKK sichert, verfolgt sie eine noch weitreichendere Agenda. Präsident Erdoğan hat bei der UN-Generalversammlung deutlich gemacht, dass er langfristig eine 30 Kilometer tiefe »Sicherheitszone« entlang der türkischen Grenze in Nordsyrien und im Nordirak errichten will. Diese Zone, die von Ankara als notwendig für die nationale Sicherheit dargestellt wird, könnte langfristig unter türkische Kontrolle fallen und die territorialen Grenzen der Türkei faktisch erweitern. In den bereits von der Türkei besetzten Gebieten in Nordsyrien und im Nordirak zeigt sich deutlich, dass Ankara eine dauerhafte Besatzungspolitik verfolgt. Zudem wurde in den besetzten Gebieten in Nordsyrien bereits der Schulbetrieb auf die türkische Sprache umgestellt und die türkische Lira als Währung eingeführt. Die Errichtung von Militärstützpunkten, der Einsatz von schwerem militärischem Gerät und die dauerhafte Stationierung von Truppen in diesen Regionen sind klare Indizien dafür, dass die Türkei diese Gebiete dauerhaft kontrollieren möchte.
Die Demokratische Partei Kurdistans (PDK), die in der Autonomen Region Kurdistan eine dominierende Rolle spielt, hat sich durch ihre enge Zusammenarbeit mit Ankara in den letzten Jahren zunehmend von der Türkei abhängig gemacht. Diese Abhängigkeit hat dazu geführt, dass die PDK die türkischen Besatzungspläne in der Region unterstützt, was bei der kurdischen Bevölkerung auf wachsenden Widerstand stößt. Viele Kurd:innen sehen die PDK inzwischen als Verräter an den Interessen ihres Volkes, da sie bereitwillig die türkische Besatzung unterstützt und damit ihre eigene politische Zukunft aufs Spiel setzt. Vielen älteren Kurd:innen ist die Unterdrückung der kurdischen Kultur unter Saddam Hussein noch im Gedächtnis und sie erwarten berechtigter Weise in dieser Hinsicht von der Türkei nichts Gutes. Zudem sind sich auch Teile der Peschmerga bewusst, dass es gerade einmal zehn Jahre her ist, dass sie zusammen mit Kämpfern der PKK in Kirkuk und Mêxmur gegen den islamischen Staat gekämpft haben.
Ob es zu einem offenen Aufstand kommt, scheint aber fraglich. In einem ausführlichen Artikel in der Yeni Özgür Politica vom 18. August untersuchen die Autoren Meltem Octay und Ali Ammar das hauptsächlich an Erdölausfuhren gekoppelte Korruptionssystem des Barzanî-Clans und weisen darauf hin, dass die nordirakische Autonomieregierung bei einer Gesamtbevölkerung von sechs bis sieben Millionen Menschen 1,25 Millionen staatlich finanzierte Beamte beschäftigt. Das ganze Ausmaß dieser Subvention ergibt sich, wenn man bedenkt, dass an jedem dieser Gehälter noch mehrere Familienangehörige hängen. Da es im Nordirak kaum eine eigenständige Produktion gibt und tägliche Konsumgüter zumeist aus der Türkei importiert werden, schafft das eine zusätzliche Abhängigkeit und macht die Region zu einem im Wesentlichen durch Erdöl finanzierten Rentenstaat. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass große Teile der Gesellschaft bewusst keine Opposition gegen die PDK entwickeln, da sonst viele auf die fast einzige finanzielle Zuweisung aus Beamtengehältern verzichten müssten. Zudem gehen die Geheimdienste und Polizeibehörden rigoros gegen lokale Proteste der ländlichen Bevölkerung gegen die türkische Besatzung vor. Auch Journalist:innen, die sich kritisch mit dem Thema befassen, landen schnell im Gefängnis und werden von einer willfährigen Justiz zu hohen Haftstrafen verurteilt. Aber auch hier wird die Geduld der Bevölkerung nicht endlos sein, wenn die Türkei weiter ihre Besatzungsmentalität etwa durch Kontrolle von Ausweisdokumenten auf irakischem Boden offen zeigt, wie es aus dem irakischen Gouvernement Dohuk Ende Juni berichtet wurde, oder sich zivile Opfer durch die türkischen Bombardierungen häufen.
Gleichzeitig wächst auch in der irakischen Hauptstadt Bagdad die Unzufriedenheit mit der politischen Elite, die als zu nachgiebig gegenüber dem türkischen Einfluss angesehen wird. Viele Iraker sehen die zunehmende türkische Präsenz im Land als Bedrohung für die nationale Souveränität und sind besorgt über die langfristigen Folgen dieser Annäherung. Die Spannungen könnten sich in den kommenden Monaten weiter verschärfen, wenn die türkische Präsenz im Irak weiter zunimmt und die irakische Regierung nicht in der Lage ist, einen eigenständigen Kurs zu verfolgen.
Insgesamt zeigt sich, dass die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und dem Irak tiefgreifende Auswirkungen auf die geopolitische Landschaft des Nahen Ostens hat. Die verstärkte türkische Präsenz im Irak und die damit verbundenen wirtschaftlichen und militärischen Projekte könnten die Machtbalance in der Region nachhaltig verändern. Besonders für die kurdische Bevölkerung in Südkurdistan stellt diese Entwicklung eine existenzielle Bedrohung dar. Sollte es der Türkei gelingen, ihre Besatzungspläne erfolgreich umzusetzen, könnten die Errungenschaften der kurdischen Freiheitsbewegung um Jahre zurückgeworfen werden. Andererseits würde ein erfolgreicher Widerstand gegen die türkischen Expansionspläne ein entscheidender Meilenstein im Kampf um Selbstbestimmung und Autonomie in Kurdistan sein. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die Region in der Lage ist, sich gegen die türkische Dominanz zu behaupten, oder ob sie endgültig unter die Kontrolle Ankaras gerät. Für die kurdische und linke Opposition in Europa wird auf jeden Fall die diplomatische Eindämmung der türkischen Expansionsgelüste an ihren Außengrenzen deutlich schwerer werden.
Kurdistan Report 235 | Oktober-Dezember 2024