»Wenn Frauen an Entscheidungen in ihrer Gesellschaft nicht beteiligt sind, dann kann dies kein Ort der Demokratie sein.«

Die Verteidigung der eigenen Identität und Stärke

Interview mit Rihan Loqo, Sprecherin der Frauenbewegung Kongra Star über die anstehenden Gemeindewahlen in Nord- und Ostsyrien und die autonomen Wahlen der Kandidatinnen der Frauenbewegung

 

Nach mehreren verschobenen Terminen finden in der Demokratischen Selbstverwaltung der Region Nord- und Ostsyrien nun voraussichtlich im August Regionalwahlen statt, in denen Gemeinderäte und Ko-Bürgermeister:innen gewählt werden. Welche Bedeutung haben diese Wahlen für die Bevölkerung von Nord- und Ostsyrien?

Wenn wir uns aktuell den Mittleren Osten anschauen und insbesondere die neuere Geschichte, dann sehen wir, dass in den bestehenden Systemen vorrangig eine religiös-fundamentalistische Denkweise, Nationalismus, Sexismus und damit verbunden ein einseitiges, monopolistisches Denken vorherrscht. Das hat dazu beigetragen, dass die Gesellschaft nicht auf demokratische, friedliche und gleichberechtigte Weise eigene Vertreter:innen wählen konnte.

Der Staat hat seine Vertreter:innen selbst gewählt und diese als Repräsentant:innen der Bevölkerung eingesetzt. Mit oder ohne Zustimmung der Bevölkerung wurde eine Person zur Leitung der Regionalverwaltung erklärt. Dies war ein zentralistisches System.

Das konföderale System auf Basis der demokratischen Nation, welches Abdullah Öcalan der Welt und allen Völkern vorgeschlagen hat, ist im Gegensatz dazu ein pluralistisches System. Innerhalb dessen ist die Gemeinde die regionale Struktur, mit der die Bevölkerung ihre grundlegenden Bedürfnisse selbst leiten und verwalten kann. Alle hier lebenden Menschen, egal welcher gesellschaftlichen Zugehörigkeit, haben das Recht den Rat und den Ko-Vorsitz der Gemeinde zu wählen und dafür Kandidat:innen vorzuschlagen.

Diese Wahl ist für uns als Bevölkerung von Nord- und Ostsyrien sehr wichtig. Über viele Jahre lebten wir, die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen und die Frauen, unter der Herrschaft des Regimes der Baath-Partei. In dieser Zeit hat es in Syrien keine demokratisch durchgeführten Wahlen gegeben. Ich kann mich persönlich nicht daran erinnern, dass es je ein Gefühl von demokratischen Wahlen in diesem Land gegeben hätte. Denn es war im Vorfeld immer klar, dass diejenige Person, die vom Regime aufgestellt wurde, auch die Wahlen gewinnt.

Aus diesem starren System heraus wird nun ein demokratisches System aufgebaut. Das ist sehr aufregend. Das sind Umbrüche, die wir auch als Momente der Freiheit beschreiben können.

Früher wurden wir nicht als eine Bevölkerungsgruppe anerkannt, unsere Stimme hatte keinen Wert. Aber jetzt merken wir, dass unsere Stimme wichtig ist und das bewegt uns seelisch und emotional. Deshalb ist diese Wahl für uns so wichtig. Sie hat eine historische Bedeutung für die Menschen in Nord- und Ostsyrien.

Im Dezember 2023 wurde in der Region Nord- und Ostsyrien ein neuer Gesellschaftsvertrag verabschiedet. Die Wahlen finden auf dessen Basis statt. Wie funktioniert diese Wahl und wie steht sie im Verhältnis zum basisdemokratischen System der Kommunen und Räte?

Die mehrjährigen Vorbereitungen und die Ratifizierung des Gesellschaftsvertrages im Dezember 2023 war für die Bevölkerung in Nord- und Ostsyrien einer der vielen historischen Meilensteine in der Revolution. Der Gesellschaftsvertrag ist heute genauso zu bewerten, wie wir einst unsere Verteidigungsstrukturen und unser Selbstverwaltungssystem aufgebaut, unsere Vertreter:innen selbst bestimmt und diese Errungenschaften verteidigt haben.

Es ist eine verfassungsähnliche Übereinkunft, die wir als Bevölkerung eigenständig entwickelt haben. Sie bildet die Basis dafür, dass Entscheidungen im Einklang mit den Prinzipien der Gesellschaft getroffen werden und soll die Werte sowie die Kultur aller gesellschaftlichen Gruppen schützen. Eng damit verknüpft ist auch das System der Gemeinden.

Der Gesellschaftsvertrag basiert auf 134 Artikeln. Festgeschrieben ist darin u.a., dass die Gemeinden die Bedürfnisse ihrer Gesellschaft autonom organisieren. Bisher war es so, dass die Bedürfnisse der Gesellschaft von der Bevölkerung in die Kommune, von der Kommune in den Gemeinderat, von dort in den Hohen Gemeinderat des Kantons und dann in den Rat von Nord- und Ostsyrien eingebracht, dort diskutiert und darüber entschieden wurde. Das hat zu einer komplizierten Bürokratie geführt und die Menschen haben ihren Unmut darüber ausgedrückt. Die Gemeinden waren so aufgestellt, dass Anfragen und Wünsche durch viele Hände gehen mussten, bevor eine Antwort zurückgekommen ist. Wir haben verstanden, dass die Gemeinden auf diese Weise nicht den Bedürfnissen der Gesellschaft in ihrem Viertel bzw. in ihrer Stadt in nötigem Umfang gerecht werden können.

Deshalb wurde im Gesellschaftsvertrag mit Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen festgelegt, dass die Gemeinden, als Gemeinden des Volkes ihre Entscheidungen für ihre Stadt, ihr Viertel und die Kommunen selbst treffen können und darin eigenständig sind. Das war ein zentraler Punkt im Gesellschaftsvertrag. Damit verbunden war, dass nach der Ratifizierung des Gesellschaftsvertrages und der Ausarbeitung des Artikels zum Wahlrecht, die Wahlkommission mitgeteilt hat, dass Gemeindewahlen in der Region Nord- und Ostsyrien stattfinden werden.

Wann waren die ersten Wahlen in Nord- und Ostsyrien und was ist der Unterschied zu den diesjährigen Wahlen? Welche Bedeutung haben diese Wahlen für die Frauen und welchen Beitrag leistet die Frauenbewegung Kongra Star hierbei?

Es wurden bereits 2015 Wahlen der Gemeinden und 2017 auch Wahlen der Kommunen und Räte in Nord- und Ostsyrien durchgeführt. Es war das erste Mal nach der Befreiung vom IS. Es war eine chaotische Phase inmitten eines erbitterten Krieges. In dieser Zeit gab es einerseits viele Luftangriffe durch die Türkei, andererseits gab es weiterhin Bodenangriffe durch den Islamischen Staat. Zusätzlich gab es die andauernden Angriffe der patriarchalen und rassistischen Mentalität gegen die Frauen und die Gesellschaft, die ihre Werte im Namen von Kultur und Tradition durchsetzen wollen. In dieser Phase wurden damals die Wahlen durchgeführt. In der Praxis hatten wir kaum Erfahrung. Wir hatten noch nie selbstbestimmt Wahlen abgehalten, da uns das System davon ausgeschlossen hatte. Damals wurden in allen Städten in den Vierteln Zelte aufgebaut und in diesen Zelten die Wahlurnen bereitgestellt. Die Bevölkerung hat in ihrem Stadtviertel ihre Stimme abgegeben und den Gemeinderat gewählt. Aus dem Gemeinderat wurden wiederum die Ko-Bürgermeister:innen gewählt. Als Frauen wurden wir im Rahmen dieser allgemeinen Wahlen gewählt.

Mit dem Voranschreiten der Revolution und der Weiterentwicklung unserer Kämpfe haben wir erkannt, dass wir mit unserer Identität als Frauen in der Revolution sichtbarer werden und unsere Erfolge noch besser schützen müssen. Die Revolution ist als Frauenrevolution bekannt, doch häufig werden die Errungenschaften der Kämpfe der Frauen vereinnahmt. Das ist eine Erkenntnis aus den historischen Revolutionen weltweit. Ständig hören wir als Frauen z.B. »Die Gesetze gelten für alle und auch Frauen sind darin vertreten, Frauen sind Teil der Gesellschaft« oder »Frauen kommen im Gesellschaftsvertrag vor, es ist nicht notwendig, dass sie sich autonom organisieren«. Stets werden Frauen im Namen der Allgemeinheit übergangen und ihre Identität, ihr Wille und ihre Perspektive unsichtbar gemacht.

Als Frauenbewegung haben wir uns mit aller Kraft dafür eingesetzt, den Kampf von Frauen für ihre Freiheit zu stärken und uns mit unserer Identität als Frauen und unserem Willen zu verteidigen. All diese Ebenen konnten wir in den neuen Gesellschaftsvertrag mit einbringen und mit dieser Perspektive beteiligen wir uns als Frauenbewegung Kongra Star an den Wahlen. Das ist in den diesjährigen Wahlen besonders.

Kongra Star ist als Frauenbewegung keine Partei und doch gemeinsam mit der PYD und 22 weiteren Parteien und Organisationen auf der Liste «Hevbendiya Gelan û Jinan ji bo Azadiyê« (Allianz der Völker und Frauen für Freiheit) für die Regionalwahlen. Wie kam es zu dieser Entscheidung und wie hat sich Kongra Star auf die Wahlen vorbereitet?

Nachdem die Wahlen angekündigt wurden, haben wir uns als Frauenbewegung Kongra Star mit der Partei der demokratischen Union (PYD) zusammengesetzt, eine Wahlvereinbarung getroffen und diese unseren Mitgliedern und der Öffentlichkeit im April 2024 vorgestellt. Unser Ziel war es, mit dieser Zusammensetzung sowohl als Frauenbewegung als auch als politische Partei die Bevölkerung und unsere Mitglieder zur Wahl aufzurufen.

Es interessiert viele, warum wir als Frauenbewegung gemeinsam mit politischen Parteien in einem Bündnis zur Wahl antreten. Wir haben von den Wahlen 2017 gesprochen und dass wir als Frauen dort als Teil der politischen Parteien teilgenommen haben. Auf Basis unserer Erfahrungen im Kampf für die Freiheit der Frauen finden wir es notwendig, mit unserem eigenen Namen Kongra Star an den Wahlen teilzunehmen. Durchaus sind wir dabei mit Skepsis und Unverständnis konfrontiert. Aber weil unsere Eigenständigkeit, unsere Kämpfe und unsere Erfolge in gemeinsamen Strukturen stets unsichtbar gemacht werden, war und ist es uns als kämpfende Frauenbewegung in dieser Frauenrevolution wichtig, unsere eigene Identität und Stärke zu verteidigen – und das muss auch in unserem Wahlprogramm sichtbar werden.

Ein Schlüssel dieser Revolution ist der Kampf der Frauen. Wir setzen eine Revolution innerhalb der Revolution um. Wir haben gegen alle Widerstände unser autonomes System als Frauen aufgebaut, angefangen von den Kommunen bis hin zum Frauenrat von Nord- und Ostsyrien. Um dieses System zu schützen, nehmen wir erstmalig als Frauenbewegung und -organisation an den Wahlen teil. Entsprechend unserer Recherchen ist es weltweit das erste Mal, dass eine Frauenbewegung zu offiziellen Wahlen antritt. Und es ist das erste Mal in der internationalen Geschichte der Frauen, dass Frauen von Frauen gewählt werden und als Kandidatinnen für den Gemeinderat und für den Ko-Vorsitz aufgestellt werden. Das ist auch eine neue Errungenschaft innerhalb der Frauenrevolution und ein Modell für die Weiterentwicklung der Gesellschaft.

Als Frauen eigene Wahlen durchzuführen, um im Bündnis mit politischen Parteien mit dem eigenen Namen zur Wahl anzutreten, hat bei vielen Frauen sowohl starkes Interesse als auch tiefe Zuneigung geweckt. Viele haben uns mit großer Neugier gefragt, wie wir eigene Frauenwahlen durchführen wollen. Wir können sie als eine Art »Vorwahlen« beschreiben. Wir haben sie so genannt und mit dem Ziel umgesetzt, unsere Vertreterinnen innerhalb unserer Strukturen und Organisierung autonom und demokratisch zu bestimmen.

Wie haben die Vorwahlen der Frauen genau stattgefunden und welchen Einfluss haben sie auf die allgemeinen Wahlen?

Kongra Star vereint Tausende von Frauen in ihren Reihen. Sie umfasst zahlreiche Bereiche, in denen viele Frauen verantwortungsvolle Aufgaben und Positionen innehaben. Damit die Aufstellung der Kandidatinnen demokratisch und aus der Basis heraus stattfinden kann, wurden in den Kommunen und Räten Versammlungen abgehalten. Aus den Bezirken und Städten sind auf diese Weise verschiedenste Vorschläge zusammengekommen.

Begonnen haben wir mit den Vorwahlen im April dieses Jahres in Hesekê. Die Wahl sollte dort zuerst als ein Modell für die gesamte Region stattfinden und wurde in 3 Bezirken durchgeführt. Alle Mitglieder von Kongra Star aus dieser Region konnten an den Vorwahlen teilnehmen. Die Kandidatin mit den meisten Stimmen wurde anschließend zu den allgemeinen Wahlen aufgestellt.

Bei den Wahlen in Hesekê waren Vertreterinnen aus den anderen Städten, aus Sheba, Kobanê und den befreiten Regionen anwesend. Sie konnten die Wahlen dort verfolgen und mit dieser Erfahrung in ihre Regionen zurückkehren, um auch dort die Vorwahlen durchzuführen. So wurden diese Vorwahlen von Kongra Star Schritt für Schritt in allen Regionen umgesetzt.

Nachdem die Vorwahlen der Frauen abgeschlossen waren, wurden die Wahlen der Kandidat:innen der PYD insgesamt durchgeführt. Dabei standen die von den Frauen gewählten Kandidat:innen auf der gemeinsamen Liste und wurden automatisch mit den meisten Stimmen für die Kandidatur zum Ko-Vorsitz bestätigt.

Nachdem wir unsere gemeinsamen Kandidat:innen aufgestellt hatten, sind wir mit dem Vorschlag unseres Wahlbündnisses auf alle anderen Parteien und Frauenorganisationen in Nord- und Ostsyrien zugegangen. Wir haben uns zusammengesetzt, das Wahlbündnis vorgestellt und alle eingeladen daran teilzunehmen. Entstanden ist daraus ein gemeinsames Bündnis von 24 Parteien und Frauenorganisationen.

Wir haben die anderen Gruppen und Parteien in diesem Bündnis dazu eingeladen, ihre Kandidat:innen demokratisch aufzustellen. Viele Gruppen haben dafür ihre eigenen Vorwahlen durchgeführt. Somit wurden wir zu Vorbildern, auch für die interne Demokratie. Wir haben uns auf zahlreiche gemeinsame Themen und auf den Namen »Allianz der Völker und Frauen für Freiheit« geeinigt.

Am Wahlbündnis beteiligen sich auch weitere Frauenorganisationen wie der Frauenverband Zenûbiya. Wie arbeiten die Frauen der verschiedenen Parteien und Organisationen im Wahlbündnis zusammen?

Kongra Star hat das Wahlbündnis mit der PYD begonnen. Wir haben uns jedoch mit vielen weiteren Frauenorganisationen und Institutionen in der Region Nord- und Ostsyrien zusammengesetzt und uns mit ihnen ausgetauscht. Mit kurdischen und arabischen Frauen, dem Frauenverband Zenûbiya, mit armenischen Frauen, ezîdischen Frauen, assyrischen und tscherkessischen Frauen – wir haben uns mit allen hier lebenden Bevölkerungsgruppen getroffen und uns über gemeinsame Ziele ausgetauscht. In Städten, in denen besonders viele dieser Bevölkerungsgruppen leben, wie z.B. in der Stadt Til Temir, wo viele assyrische Menschen leben, wurde als eine Kandidatin für den Ko-Vorsitz eine assyrische Frau gewählt. In den befreiten Gebieten, in Raqqa, Tabqa und Minbic sind es vor allem arabische Frauen. In den mehrheitlich von Kurd:innen bevölkerten Städten sind es Kurdinnen. Ebenso gibt es andere Parteien, die auch Frauen zur Wahl stellen.

Als Frauen verstehen wir unseren Kampf als gemeinsamen Kampf und stehen nicht in Konkurrenz zueinander. Wir haben uns bewusst dafür eingesetzt, dass alle Bevölkerungsgruppen unter den Kandidatinnen vertreten sind. Das stärkt den Ko-Vorsitz und das demokratische System.

Kongra Star hat am 25. Mai die in den Vorwahlen bestimmten Kandidatinnen für die Ko-Bürgermeisterinnen und die Ratsmitglieder vorgestellt. Warum und wie vertreten die Frauenorganisationen die Autonomie der Frauen mit diesen Wahlen?

Als Frauen wollen wir die Kultur und den Geist der Revolution, d.h. die Frauenrevolution innerhalb der Allianz sichtbar machen. Frauen sind ein Teil dieser Gesellschaft, aber sie sind auch Vorreiterinnen der Gemeinden und der Revolution. Deshalb heißt unser Bündnis auch die »Allianz der Völker und Frauen für Freiheit«.

Wir werden immer wieder danach gefragt, warum es so wichtig ist, Frauen zu benennen. Es ist wichtig, um ihre Identität und ihre Errungenschaften zu verteidigen. Unser Ziel ist der Aufbau ökologischer und demokratischer Gemeinden, die unter Leitung von Frauen umfassende Dienste zur Erfüllung der Bedürfnisse der Gesellschaft leisten können. Dafür wollen wir eigene Themen und Vorschläge auf die Tagesordnung setzen. Gemeinsam mit dem Frauenverband Zenûbiya haben wir diese im Mai in einer Deklaration veröffentlicht. Wir sind der Meinung, dass es für den Zusammenhalt der Frauen notwendig ist, einen Frauenverband innerhalb der Gemeinde aufzubauen. Wir wollen für Straßenkinder Bildungsprojekte entwickeln. Für Frauen die Gewalt erleben und mit dem Tod bedroht sind, wollen wir Schutzräume schaffen und ausbauen. Um das Bewusstsein und die Identität von Frauen zu stärken und zu verteidigen, wollen wir Orte zur Förderung von Wissen für Frauen schaffen und beispielsweise Schulungen zu Sprachen sowie zu geistiger und beruflicher Bildung anbieten. Wir wollen ökologische Gärten von und für Frauen aufbauen.

Insgesamt ist es dringend notwendig, dass wir uns als Frauen, die in dieser Revolution eine führende Rolle einnehmen, innerhalb der Gemeinden für Ökologie einsetzen. Ökologie ist Teil unseres Paradigmas. Der Krieg, der derzeit gegen uns, unsere Errungenschaften, die Berge, die Erde, das Wasser und die Natur geführt wird, ist auch ein ökologischer Krieg – ein Ökozid. In Efrîn und anderen besetzten Gebieten werden zum Beispiel Wälder abgeholzt, Bäume und Felder verbrannt und der Bevölkerung das Wasser entzogen. Es sind wir Frauen, die auch den Kampf gegen diesen Ökozid und im Sinne einer ökologischen Gesellschaft führen müssen.

Wir müssen uns als Frauen für Gerechtigkeit einsetzen und dafür sorgen, dass Städte aus der Perspektive von Frauen gestaltet werden. Wenn wir von einer Frauenrevolution sprechen, ist es entscheidend, dass diese auch in unseren Städten sichtbar wird.

Besonders wichtig ist, dass Kongra Star sich führend und nachdrücklich für das Ko-Vorsitz-System einsetzt. Das Ko-Vorsitz-System ist ein demokratisches System, in dem Frauen Vorreiterinnen sind, in dem sich die Gesellschaft mit der Sichtweise, dem Bewusstsein und dem Wissen von Frauen selbst organisieren kann. Es ist ein System, das zur Gerechtigkeit und Gleichberechtigung innerhalb der Gesellschaft beiträgt.

Viele Frauen in der Position der Ko-Vorsitzenden berichten von Schwierigkeiten bei der Ausübung ihrer Aufgabe. Die männlichen Ko-Vorsitzenden fühlen sich oft allein verantwortlich und denken beispielsweise, dass sie die Frauen nicht brauchen und diese offizielle Dokumente nicht zusätzlich unterzeichnen müssen. Das eigentliche Problem liegt nicht bei der Unterschrift, sondern in der dahinterliegenden Mentalität, die Männer als alleinige Entscheidungsträger sieht und Frauen ausgrenzt.

Du sprichst von Demokratie, aber alles wird allein von einem Mann geleitet. Wie passt das zusammen? Du erkennst weder die Sichtweise und Stimme der Frauen, ihre Seele, ihre Bedürfnisse und ihre Probleme, ihre Geschichten, ihre Schmerzen, ihre Kämpfe. Wie kannst du Entscheidungen über einen großen Teil der Gesellschaft treffen, ohne diesen anzuerkennen? Dieser Zustand kann nicht als Demokratie bezeichnet werden. Wenn Frauen an Entscheidungen in ihrer Gesellschaft nicht beteiligt sind, dann kann dies kein Ort der Demokratie sein. Es bleiben immer Orte, die mit einer Herrschaftsmentalität geführt werden.

Deshalb setzen wir uns als Kongra Star für das System des Ko-Vorsitz ein. Wir haben in den Kommunen begonnen. Von den Räten, den Institutionen und den Ausschüssen bis auf die oberste Ebene von Nord- und Ostsyrien haben wir den Ko-Vorsitz als grundlegendes Prinzip im System der Autonomen Selbstverwaltung durchgesetzt. Mit der Beteiligung an der Wahl wollen wir dieses System effektiver verteidigen.

Die Wahlen sind für August angesetzt. Die Türkei droht mit Angriffen sollten diese stattfinden. Als Regionalwahlen der Gemeinderäte und der Ko-Bürgermeister:innen sind sie eigentlich eine innere Angelegenheit der Demokratischen Selbstverwaltung. Welche Bedeutung haben die Wahlen aber dennoch außenpolitisch? Und ist die Bevölkerung auf den Versuch, die Wahlen zu behindern, vorbereitet?

Weltweit werden revolutionäre Bewegungen und demokratische Organisationen durch hegemoniale Kräfte, die herrschenden Staaten der kapitalistischen Moderne, im Namen eines religiösen Fundamentalismus und Nationalismus angegriffen. Das erleben wir hier in Nord- und Ostsyrien immer wieder. Skrupellose Kräfte, wie der Islamische Staat, Ahrar al-Scham, verbrecherische Gruppen und der Besatzungsstaat Türkei, greifen fortwährend das demokratische System an. Weil dieses System auch ein Beispiel und Vorbild für die ganze Welt geworden ist. Viele Menschen wollen es kennenlernen und verstehen, wie die Bevölkerung dieser Region sich selbst organisiert, verwaltet und sich selbst verteidigt. Wie haben sie ihr eigenes System aufgebaut und wie schützen sie ihre Erfolge? Wie entwickeln sie ihr Bewusstsein, ihr Wissen und ihre Erfahrungen weiter? Wie bilden sie sich weiter? Das weckt das Interesse vieler, und daher kommen auch viele Menschen hierher. Unsere Türen stehen dafür stets offen. Wir freuen uns, wenn Menschen zu uns kommen, um es mit eigenen Augen zu erleben.

Die hegemonialen Kräfte wollen das nicht. So hat z.B. der türkische Staat am 29.05. erklärt, dass die Gemeindewahlen in Nord- und Ostsyrien seine innere Sicherheit gefährden. Welche Gefahr geht von unseren Gemeindewahlen gegenüber dem türkischen Staat aus? Sie sind eine innere Angelegenheit. Es ist der Wille, der hier lebenden Menschen, auf demokratischem Wege ihren Vertreter:innen die Verantwortung zu übertragen, wichtige Dienstleistungen besser und verantwortungsvoll zu organisieren. Es ist normal und demokratisch, dass die Bevölkerung diese Entscheidungen für sich selbst trifft und umsetzt.

Bei den bevorstehenden Wahlen wird die Bevölkerung erneut die demokratische Selbstverwaltung als ihr System bestätigen. Dadurch erlangt der Status von Rojava und der Region Nord- und Ostsyrien Schritt für Schritt mehr Anerkennung. Die anhaltenden Angriffe und Drohungen gegen die Wahlen sollen dies verhindern, die Bevölkerung einschüchtern und langfristig das System und die Idee von Rojava zerstören. Wir wissen, dass Angriffe vorbereitet werden, um den Erfolg der Wahlen zu verhindern. Insbesondere die herrschenden Staaten und der Besatzungsstaat Türkei, zusammen mit den von ihnen unterstützten Gruppierungen, arbeiten aktiv dagegen.

Seit den ersten Funken der Revolution am 19. Juli und im Widerstand von Kobanê haben viele heldenhafte Anführerinnen der Revolution ihr Leben gelassen, so wie Arîn Mîrkan, Şehîd Barin, Şehîd Avesta, Hevrîn Xelef und Zehra Berkel. Sie wurden zu Vorbildern in der Verteidigung ihrer Städte, ihres Systems und ihrer Errungenschaften. Trotz schwieriger Bedingungen und begrenzten Möglichkeiten konnten sie mit ihrem Einsatz und ihrer Opferbereitschaft die Pläne des Feindes vereiteln. Seit 12 Jahren leistet die Bevölkerung der Region erfolgreich Widerstand gegen alle Formen von Angriffen. Im Geist dieses Widerstands und Kampfes, und im Geist der Frauen, die die ersten Schritte dazu unternommen haben, wird die Bevölkerung ihre Selbstverwaltung schützen und verteidigen. In dieser Region gibt es eine große Willenskraft – und wenn wir als Gesellschaft entschieden haben, Gemeindewahlen durchzuführen, dann sind wir überzeugt, dass sie erfolgreich sein werden.

Als Initiative »Women Defend Rojava« bedanken wir uns für das Interview. Wir hoffen auf störungsfreie Wahlen und wünschen allen Kandidatinnen von Kongra Star viel Erfolg.


   Kurdistan Report 235 | Oktober-Dezember 2024