Zehn Jahre nach dem Genozid

Şengal – ein Pulverfass voller Hoffnungsschimmer

Emilya Schulz, Feministische Organisierung »Gemeinsam Kämpfen für Selbstbestimmung und Demokratische Autonomie«

 

Zehn Jahre nach dem Genozid an den Êzîd:innen im Şengal hat die dortige Bevölkerung viel gesellschaftliche Aufbauarbeit geleistet und Selbstverteidigungsstrukturen geschaffen. Zahlreiche Interessen regionaler Kräfte gefährden diese Errungenschaften, die die êzîdische Gesellschaft kämpferisch verteidigt.

»Nie wieder Völkermord und Sklaverei – Autonomie und Freiheit jetzt!« Unter dieser Parole ging die êzîdische Bevölkerung im Şengal am 3. August 2024 auf die Straßen. Zehn Jahre ist es her, dass der sogenannte Islamische Staat (kurz IS) einen Völkermord an der êzîdischen Gemeinschaft im Şengal verübte. In der ersten Reihe des Protestzugs laufen schwarz verschleierte Frauen. Sie tragen die Kleidung, die ihnen vom IS aufgezwungen wurde, in ihren Händen Preisschilder mit niedrigen Dollar-Beträgen. Sie erinnern an die Grausamkeiten, denen die über 7000 verschleppten Kinder und Frauen in IS-Gefangenschaft ausgesetzt waren. Verkauft als Sklavinnen für weniger Geld als eine Zigarettenschachtel, geschlagen, vergewaltigt und zum Teil bis in den Selbstmord getrieben. Bis heute werden 2700 von ihnen vermisst. Der Genozid und Feminizid, der am 3. August 2014 begann, ist eine offene Wunde im Herzen der Gesellschaft im Şengal. In wenigen Tagen wurden tausende Êzîd:innen ermordet und in über 90 Massengräber verscharrt, 7000 Kinder und Frauen entführt, 400.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und Dutzende heilige Orte und Tempel zerstört. Es waren Wochen, in denen auch die Menschen und Medien in Europa von den Ereignissen in der kleinen Bergregion im Westen des Irak zutiefst betroffen waren. Demonstrationen, Spendenaufrufe, tägliche Sendezeit in der Tagesschau und anderen Nachrichtensendungen – es gab keinen Zweifel daran, dass so etwas nie wieder passieren darf und die êzîdische Gemeinschaft im Şengal geschützt werden muss.

Zehn Jahre sind seitdem vergangen. Zehn Jahre voller Wandel und Ereignisse. Die Angriffe auf die Gesellschaft im Şengal haben sich verändert, geendet haben sie nicht. Wie vielschichtig sie sind, kann beispielhaft an den zahlreichen Ereignissen in nur einem Monat gezeigt werden. Eine Chronik: Am 8. Juli 2024 bombardierten türkische Drohnen bereits zum vierten Mal in diesem Jahr Şengal. Der Journalist Murat Mîrza wurde dabei ermordet, drei weitere Journalist:innen verletzt. Der Angriff fiel in eine Zeit der Vorbereitung auf den 10. Jahrestag des Genozids und Feminizids von 2014. Zwei Wochen später fand in Bagdad eine landesweite Frauenkonferenz statt. Unter dem Motto »Gegen Feminizid – Seid die Stimme der Selbstverteidigung« kamen 150 Frauen aus dem gesamten irakischen Staatsgebiet zusammen, um der Grausamkeiten von 2014 zu gedenken und gemeinsame Schritte in Richtung einer demokratischen Gesellschaft im Irak zu diskutieren. Einige Tage später beschritt die Gesellschaft des Şengal als Protestzug in den Bergen gemeinsam die Wege der Flucht aber auch jene der Befreiung von 2014. Es ist diese Verbindung von Gedenken, Schmerz, Erinnerung und Widerstand, die heute bis nach Europa ausstrahlt. Junge Menschen aus Europa nahmen den zehnten Jahrestag 2024 deswegen zum Anlass, sich selbst auf den Weg nach Şengal zu machen. Am 30. Juli wurde ihnen an einem Checkpoint kurz vor ihrem Ziel die Weiterreise durch das irakische Militär verboten. Nur einen Tag später wurde eine weitere Delegation aus Deutschland an ihrer Reise nach Şengal gehindert, allerdings nicht im Irak, sondern bereits am Flughafen in München. Die Bundespolizei verhängte eine 30-tägige Ausreisesperre gegen sie. Der Grund: Die Delegation gefährde die außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Dass all diese Angriffe die Entschlossenheit, die Wut und auch die Trauer der êzîdischen Gesellschaft im Şengal nicht brechen können, zeigte sich am 3. August. Der oben beschriebene Demonstrationszug war ein Symbol dafür. Auch an zahlreichen Orten außerhalb Şengals gingen Menschen an diesem Tag in Solidarität mit ihnen auf die Straßen, schickten Videos und Grußbotschaften. Zahlreiche Staatsvertreter:innen erinnerten an diesem Tag an die Menschen im Şengal. So schrieb beispielsweise Annalena Baerbock, die als Außenministerin verantwortlich für die außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik ist, am 3. August 2024 auf ihrem Instagramkanal: »Letztes Jahr hat der Bundestag dieses Menschheitsverbrechen beim Namen genannt […]. Aus diesem Beschluss ergibt sich ein Auftrag, die Erinnerung an diese Verbrechen wachzuhalten. So wie heute, zehn Jahre nach dem Völkermord. […] Die Terroristen wollten das Leben der jesidischen Gemeinschaft auslöschen. Das haben sie nicht geschafft. Weil die Jesidinnen und Jesiden stärker sind als Terror und Hass.« Am 6. August 2024 wurde die êzîdische Partei PADÊ1 durch den irakischen Staat als Unterorganisation der PKK verboten. Im Dezember 2023 hatte der êzîdische Kandidat Qasim Keşko durch die gemeinsamen Stimmen von Êzîd:innen und Araber:innen einen Sitz für die PADÊ im Provinzrat von Ninive gewonnen. Schon damals wurde unter Druck Bagdads, Hewlêrs (arab. Erbil) und Ankaras die Wahl rückwirkend ungültig gemacht. Mit dem Verbot der Partei wurden nicht nur Besitz und Eigentum beschlagnahmt, sondern der Bevölkerung im Şengal auch das politisch-parlamentarische Sprachrohr genommen. Fast genau einen Monat nach dem tödlichen Drohnenangriff auf Murat Mîrza machten islamistische Prediger rund um den 9. August 2024 deutlich, dass sich in den (geo-)politischen Entwicklungen eine Kontinuität in den vergangenen Jahrhunderten kaum geändert hat: Die Gefahr, die von islamistischen Gruppen für Êzîd:innen ausgeht. Nachdem Qasim Şeşo, ein zentraler êzîdischer Verbündeter der PDK im Şengal, zum zehnten Jahrestag des Genozids von 2014 allgemein die Religion des Islam und ihren Propheten Mohammed als Feind der Êzîd:innen bezeichnete, riefen islamistische Prediger und Social-Media-Posts in der von der PDK geführten Autonomen Region Kurdistan (kurz KRG) zur Hetze gegen Êzîd:innen auf. Hunderte Familien, die seit 2014 vor allem in Duhok und Zaxo in Camps gelebt hatten, flohen daraufhin panisch nach Şengal.

Die Angriffe sind vielschichtig: Bombardierungen, Mord, Isolation, diplomatischer Ausschluss, Hetze – sei es durch islamistische Prediger, den irakischen Zentralstaat, die Türkei oder die internationale Staatengemeinschaft. Doch auch Protest, Solidarität und Entschlossenheit sind in den vergangenen zehn Jahren gewachsen. Die Situation im Şengal gleicht einem Pulverfass, einem Chaosintervall, das jeden Moment neue Kräfte ermöglichen und andere versiegen lassen kann.

Die Kontrolle über Şengal ist von verschiedenen lokalen, nationalen und internationalen Akteuren umkämpft. Der irakische Zentralstaat, die PDK2, die unter der Führung Barzanîs die Regierung der Autonomen Region Kurdistans (KRG) stellt, die mit dem Iran verbündeten Hashd al-Shaabi3, Türkei, Iran und die USA - sie alle buhlen um Macht und Einfluss, während die lokalen Selbstverwaltungsstrukturen der Gesellschaft um Anerkennung kämpfen. Der Verfolgung von Interessen in der Region durch eine so hohe Zahl an unterschiedlichen Akteuren wurde unter anderem auch dadurch Vorschub geleistet, dass der Status und die Zugehörigkeit Şengals seit Jahrhunderten und besonders seit 2003 umstritten ist. Bis zum Einmarsch der US-Truppen im Irak 2003 bildete die 1991 eingerichtete Flugverbotszone über dem Nordirak die Grenzen der KRG. Im Zuge des Irakkriegs 2003 konnten die Peşmerga der PDK jedoch weiter in den Süden vorrücken und einen Streifen von Şengal über Mexmûr bis nach Kerkûk (Kirkuk) und Xaneqîn an der iranischen Grenze einnehmen, die sogenannten umstrittenen Gebiete. Durch die enormen Ölvorkommen in Kerkûk, wurde die multiethnische Stadt schnell zum Fokus der Auseinandersetzungen und machte eine Einigung zwischen der Regierung der KRG in Hewlêr (Erbil) und der neu eingesetzten Regierung in Bagdad schwer. Als Konsequenz wurde der Status der umstrittenen Gebiete offen gelassen und eine Lösung mit Artikel 140 der neuen irakischen Verfassung in eine unbestimmte Zukunft verlegt. Artikel 140 legt fest, dass der Status »Kirkuks und anderer umstrittener Gebiete«, darunter auch Teile der Provinz Ninive inklusive Şengal, durch den Willen der dort beheimateten Bevölkerung in Referenden entschieden werden soll. Ein solches Referendum hat bis heute nicht stattgefunden.

Die militärische Kontrolle über Ninive hatte seit 2003 die PDK inne. Durch den Boykott sunnitischer Araber:innen bei den ersten Wahlen in der KRG 2005 konnte sich die PDK dort auch eine Mehrheit im Provinzrat sichern. Dennoch war der Status der Region keinesfalls klar. Während in anderen umstrittenen Gebieten der Status quo teils eher eingefroren ­wurde, nahmen in Ninive die ethnischen Spannungen zu. Durch die Versprechen der PDK, Şengal vor den zunehmenden islamistischen Bedrohungen zu schützen, hatten die Peşmerga dort einen stabilen Rückhalt in der Bevölkerung. Als 2009 die sunnitisch-arabisch geführte al Habdaa-Partei die Provinzwahlen gewann, riefen lokale Repräsentanten im Şengal zum Boykott der neuen Administration auf und forderten eine Eingliederung in die KRG. Das Vertrauen führte sogar so weit, dass Êzîd:innen kurz vor dem Genozid und Feminizid 2014 ihre Waffen an die Peşmerga abgaben.

Als der IS am Abend des 3. August 2014 die ersten Dörfer im Şengal angriff, waren dort 12.000 Peşmerga der PDK und 6.000 irakische Polizisten stationiert. Die Bilder ihres Abzugs und ihr damit einhergehender Verrat an der êzîdischen Bevölkerung sind vielen bekannt. Die einzigen Kugeln, die durch die Peşmerga während ihres Abzugs verschossen wurden, richteten sich gegen drei êzîdische Jugendliche, die die Soldaten aufforderten, wenigstens ihre Waffen zu übergeben und dadurch eine Selbstverteidigung der Êzîd:innen zu ermöglichen. Cemîl Reşo Îlyas, Xusif Xelef Îlyas und Elî Îlyas Yusif wurden daraufhin am Checkpoint Zorava bei Sinûnê ermordet. Durch den plötzlichen Abzug der Peşmerga war die êzîdische Gesellschaft dem IS schutzlos ausgeliefert. Er machte ein solches Massaker überhaupt erst möglich.

Stattdessen waren es die Kämpfer:innen der HPG und YJA-Star4 sowie der YPG und YPJ5, die den Menschen im Şengal zu Hilfe eilten und einen Fluchtkorridor freikämpften. Die anschließende Befreiung Şengals passierte in zwei Phasen. Ein Teil des Gebiets, inklusive Şengal-Stadt und den nördlich gelegenen Bergen wurde durch HPG und YJA-Star, sowie den neu gegründeten YBŞ und YJŞ6 befreit; dabei ließen sehr viele der Kämpfer:innen ihr Leben. Allein die Befreiung des Markts in Şengal-Stadt dauerte elf Monate. Bis heute liegt er in Schutt und Asche, auf dem Boden noch immer die Patronenhülsen der Kämpfe von 2015. Im Rahmen der damaligen Befreiungsoperationen konnten auch die PDK-Peşmerga wieder Truppen in Şengal stationieren. Eine zweite Phase der Befreiung Şengals fand 2017 statt; sie ging vor allem von den iran-nahen Hashd-al-Shaabi aus, die seitdem den Osten Şengals kontrollieren. Nicht nur Şengal, sondern die gesamte Provinz Ninive zeichnet sich seitdem durch die Anwesenheit einer hohen Anzahl unterschiedlichster Akteure aus. Die offizielle Kontrolle der Provinz wurde 2016 Bagdad zugeteilt. Mit dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum der KRG im Oktober 2017 nahmen die Spannungen zwischen Bagdad und Hewlêr erneut enorm zu und führten zu einem kompletten Abzug der Peşmerga aus der Region. Trotz mehrerer Versuche ist es der PDK seitdem nicht mehr gelungen, in Şengal Fuß zu fassen. Sie scheiterte am Widerstand der Bevölkerung vor Ort.

Nach der vollständigen Befreiung Şengals fingen die Menschen in Şengal-Stadt und den nördlich gelegenen Gebieten an, sich nach den Ideen Abdullah Öcalans zu organisieren und Strukturen der Selbstverwaltung aufzubauen. Vor allem die Frauen und Mütter gewannen durch ihre Organisierung in der Freiheitsbewegung êzîdischer Frauen (kurz TAJÊ) eine neue Stärke. In den von Hashd-al-Shaabi kontrollierten Gebieten wurde ohne Zustimmung Bagdads ein Vertreter bestimmt. 2018 verließ die PKK freiwillig und ohne Kampfhandlungen Şengal und übergab die militärische Kontrolle an die mittlerweile gestärkten YBŞ und YJŞ, sowie an die Kräfte der inneren Sicherheit Asayîşa Êzîdxanê. Diese Situation, die weder den Interessen der Zentralregierung in Bagdad noch denen der Regierung in Hewlêr entsprachen, sind der Hintergrund für das sogenannte Şengal-Abkommen vom 9. Oktober 2020.

Das Şengal-Abkommen wurde unter Beteiligung der United Nations Assistance Mission for Iraq (UNAMI) und auf Druck der Türkei zwischen Hewlêr und Bagdad verhandelt. Es beinhaltet drei grundlegende Punkte: Erstens, die Ernennung eines Bagdad-treuen Repräsentanten in Şengal, zweitens die Etablierung einer zentralisierten militärischen, geheimdienstlichen und polizeilichen Kontrolle, sowie drittens den Wiederaufbau der Region. Das Abkommen wurde sowohl ohne Beteiligung der zentralen militärischen Akteure YBŞ/ YJŞ und Hashd-al-Shaabi als auch ohne die Beteiligung der lokalen Bevölkerung ausgehandelt und sorgte für viel Empörung und Widerstand vor Ort. Der erste Punkt würde eine Abschaffung der Selbstverwaltungsstrukturen bedeuten und der zweite Punkt müsste mit einem Abzug von YBŞ/ YJŞ und Hashd-al-Shaabi einhergehen. In Hinblick auf die aktuellen Kräfteverhältnisse im Şengal ist das vollkommen unrealistisch. Selbst der Deutsche Bundestag folgte im Januar 2023 dieser Einschätzung in seiner Anerkennung des Völkermords an den Êzîd:innen: »Das Abkommen wird allerdings nur unzureichend durch die beteiligten Akteure umgesetzt. Einer langfristigen Befriedung der Region steht neben dem anhaltenden Einfluss nichtstaatlicher, bewaffneter Akteure entgegen, dass das »Sinjar-Abkommen« ohne die strukturelle Beteiligung der êzîdischen und anderer örtlichen Gemeinschaften geschlossen wurde. Einen wichtigen Beitrag zur Befriedung der Lage könnte die Einbeziehung aller relevanten Akteure leisten.«7

Dennoch drängt die internationale Staatengemeinschaft immer wieder darauf, das Abkommen umzusetzen, allen voran trotz erheblicher Bedenken auch die deutsche Bundesregierung. So forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung beispielsweise explizit dazu auf, »die irakische Zentralregierung und die kurdische Regionalregierung sowie alle weiteren hierfür relevanten Akteure dazu aufzufordern, das Sinjar-Abkommen von 2020 unter Einbeziehung der êzîdischen Gemeinschaft vollständig und konsequent umzusetzen bzw. einzuhalten«8. Zuletzt war es im Juli 2024 Luise Amtsberg, Grünenmitglied und Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe, die vor ihrer Reise in den Irak erneut die Wichtigkeit des Şengal-Abkommens betonte: »Zentrales Anliegen der Bundesregierung bleiben der Wiederaufbau und die inklusiv gestaltete Umsetzung politischer Lösungen, etwa das Sinjar-Abkommen unter Einbeziehung aller beteiligten Parteien. Die Bundesregierung unterstützt die irakische Zentralregierung sowie die kurdische Regionalregierung bei diesen zentralen Herausforderungen.«9 Auch wenn sämtliche Vertreter:innen der deutschen Bundesregierung immer wieder auf die Wichtigkeit der Einbeziehung der lokalen Bevölkerung im Şengal eingehen, so ist der Austausch mit der lokalen Bevölkerung doch sehr gering. Diplomatische Auslandsreisen, sei es von Annalena Baerbock oder auch Luise Amtsberg gehen vor allem in die Geflüchtetencamps in der KRG oder nach Laliş, dem wichtigsten heiligen Ort der Êzîd:innen, der jedoch außerhalb von Şengal liegt. Annalena Baerbock reiste im Frühjahr 2023 zwar in den Şengal, dort jedoch ausschließlich in das Dorf Koço, um einen Gedenkort zu besuchen. Wenn das Vorhaben, die êzîdische Gemeinschaft vor Ort einzubeziehen, ernst gemeint ist, führt kein Weg an der Anerkennung der Selbstverwaltungsstrukturen vorbei. Denn sie sind das organisierte Sprachrohr der lokalen Bevölkerung und stehen in Einklang mit der irakischen Verfassung, die im Artikel 119 sogar das Recht auf Autonomie verschiedener Provinzen verankert hat.

In der deutschen Bundespolitik wird viel über die Êzîd:innen im Şengal, jedoch nicht mit ihnen gesprochen. Der Fokus liegt viel auf dem Gedenken und der Erinnerung an den Genozid von 2014, politische Aussagen zur aktuellen Situation und Zukunft Şengals bleiben unter Staatsvertreter:innen rar und schwammig. Die Drohnenangriffe der Türkei auf Überlebende des Genozids bekommen keinerlei Aufmerksamkeit. Generell hat sich der Fokus in den vergangenen Jahren viel auf die Situation der Êzîd:innen in Deutschland verschoben. Es geht um Bleiberecht und Abschiebestopps. Der Schutz der êzîdischen Gemeinschaft kann jedoch nicht losgelöst von der Situation im Şengal betrachtet werden. Es ist das letzte zusammenhängende Siedlungsgebiet der Êzîd:innen und durch die Geschichte, Kultur und all die heiligen Orte und Tempel untrennbar mit dem Weiterbestehen der Religionsgemeinschaft verknüpft. Einer Gemeinschaft, die ohne geteilten Boden auf der ganzen Welt verstreut ist, wird es nicht gelingen, ihre Wurzeln zu schützen. Die Flucht zahlreicher Familien aus den Camps im Nordirak, nachdem islamistische Prediger Anfang August gegen Êzîd:innen gehetzt hatten, zeigt die Bedeutung Şengals als Hauptsiedlungsgebiet und auch Schutzort. Anfang des Jahres 2024 beschloss der irakische Staat, die Geflüchtetencamps im Nordirak zu schließen. Zehntausende êzîdische Familien werden davon betroffen sein und sich zurück nach Şengal begeben (müssen). Ihre Rückkehr birgt Chancen, die êzîdische Gemeinschaft und den Zusammenhalt im Şengal zu stärken, doch sie birgt unter den aktuellen Kriegsbedrohungen auch Gefahren für alle Menschen, die dort leben.

Deswegen ist eine der zentralen Forderungen der Selbstverwaltungsstrukturen vor Ort die Beendigung der konstanten Kriegsbedrohungen durch türkische Drohnen. Nach zahlreichem diplomatischem Verkehr zwischen Ankara, Bagdad und Hewlêr Anfang des Jahres stieg zuletzt auch die Bedrohung durch eine Bodenoffensive. Im März 2024 wurde die PKK, zu der die irakische Regierung sowohl die Selbstverwaltungsstrukturen als auch YBŞ und YJŞ zählt, von der irakischen Justiz als illegale Organisation eingestuft. Das Verbot der Partei PADÊ ist eine erste Konsequenz daraus, weitere werden folgen. Im Rahmen der zunehmenden Spannungen zwischen Iran, USA und Israel wird auch abzuwarten sein, wie sich die Rolle Hashd-al-Shaabis in verschiedenen Bündnissen weiterentwickeln wird.

Es wird deutlich: die Situation im Şengal gleicht einem Pulverfass, einem Chaosintervall. Heute gibt es Êzîd:innen in den Reihen Hashd-al-Shaabis, beim irakischen Militär und bei den YBŞ und YJŞ. Ein Lichtblick, der in all der zunehmenden Kriegsgefahr bleibt, ist, dass die Ethik und Moral der êzîdischen Gesellschaft größer ist als Kriegsinteressen. Denn eines ihrer Prinzipien ist es, dass Êzîd:innen niemals angreifen, sondern sich ausschließlich selbst verteidigen und untereinander keinen Krieg beginnen. Es bleibt zu hoffen, dass die gesellschaftliche Moral auch in Kriegszeiten stärker bleibt als staatliche Machtinteressen.

 

 Fußnoten

1 PADÊ (Partiya Azadî û Demokrasiya Êzîdiya) ist die Êzîdische Partei für Freiheit und Demokratie. Sie trat erstmals bei den irakischen Parlamentswahlen 2018 an und verfolgt u.a. das Ziel der Anerkennung der êzîdischen Selbstverwaltung auf nationaler und internationaler Ebene.

2 PDK – Partiya Demokrata Kurdistanê, Demokratische Partei Kurdistans, auf Deutsch häufig KDP abgekürzt

3 Hashd al-Shaabi (Volksmobilisierungseinheiten) entstanden 2014 nach einem Aufruf des Großajatollah Ali al-Sistani den Irak gegen den sogenannten Islamischen Staat zu verteidigen. Hashd al-Shaabi vereinte dabei verschiedene, bereits bestehende schiitische Gruppen, die direkte Unterstützung vom Iran erhalten. Sie gelten deswegen auch als wichtigster Ableger der iranischen Revolutionsgarden im Irak. Heute sind sie offiziell Teil des irakischen Militärs, de facto aber eng an Befehle aus Teheran gebunden.

4 HPG – Hêzên Parastina Gel, Volksverteidigungskräfte; YJA-Star – Yekîtîya Jinên Azad, Einheiten freier Frauen (Selbstverteidigungskräfte der kurdischen Freiheitsbewegung)

5 YPG – Yekîneyên Parastina Gel, Volksverteidigungseinheiten; YPJ – Yekîneyên Parastina Jin, Frauenverteidigungseinheiten (beides Verteidigungskräfte in Nord- und Ostsyrien und Teil der Demokratischen Kräfte Syriens QSD, auch SDF abgekürzt)

6 YBŞ – Yekîneyên Berxwedana Şengalê, Widerstandseinheiten Şengals; YJŞ – Yekinêyen Jinên Şengalê, Fraueneinheiten Şengals

7 Deutscher Bundestag (2023): Anerkennung und Gedenken an den Völkermord an den Êzîdinnen und Êzîden 2014, S.2. online verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btd/20/052/2005228.pdf

8 Deutscher Bundestag (2023): Anerkennung und Gedenken an den Völkermord an den Êzîdinnen und Êzîden 2014, S.6. online verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btd/20/052/2005228.pdf

9 Auswärtiges Amt (2024): Die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe Luise Amtsberg vor ihrer Reise nach Irak, online verfügbar unter: https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2667522.


   Kurdistan Report 235 | Oktober-Dezember 2024