Soziologie der Freiheit – Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage

Wirtschaftliche Probleme der Gesellschaft

Abdullah Öcalan

In den letzten Ausgaben des Kurdistan Reports haben wir angefangen, Texte aus dem Kapitel »Die gesellschaftliche Frage« in Band 3 der »Gefängnisschriften – Manifest der demokratischen Zivilisation« von Abdullah Öcalan abzudrucken. Wir begannen mit »Das Problem von Macht und Staat« und »Das gesellschaftliche Problem von Moral und Politik«, fuhren in der Ausgabe 234 des Reports mit »Das Mentalitätsproblem der Gesellschaft« fort. In dieser Ausgabe setzen wir die Reihe mit dem vierten Teil des Kapitels fort: »Wirtschaftliche Probleme der Gesellschaft«.


Immer wenn von wirtschaftlichen Problemen die Rede ist, denke ich an Ameisenstaaten. Wie kann der Mensch, ein Lebewesen mit hoch entwickelter Vernunft und Erfahrung, ungeheure wirtschaftliche Probleme haben, wie kann er sogar in eine solch peinliche Lage wie Arbeitslosigkeit geraten, während selbst ein so kleines Tier wie die Ameise keine wirtschaftlichen (schließlich ist Ernährung für jedes Lebewesen etwas Wirtschaftliches) Probleme kennt? Was könnte es in der Natur geben, das der intelligenzbegabte Mensch nicht in Arbeit verwandeln könnte? Das Problem hat weder mit der Funktionsweise der Natur noch mit der Umwelt zu tun. Der brutale Wolf des Menschen befindet sich in ihm selbst. Alle wirtschaftlichen Probleme, allen voran Arbeitslosigkeit, hängen mit der Kapitalwerdung der Gesellschaft zusammen.

Karl Marx’ Kapitalanalyse ist zweifellos wertvoll. Er versucht dabei unter anderem die mit Krisenprozessen zusammenhängende Arbeitslosigkeit zu erklären. Das Bittere ist, dass die Krankheit des Positivismus auch ihn in einem schlimmen Zustand erwischt hat. Die Krankheit des Szientismus hinderte ihn an einer viel weitreichenderen historischen Gesellschaftsanalyse. Was ich versuche, ist zu zeigen, dass das Kapital keine Wirtschaft, sondern das effektivste Werkzeug dafür ist, aus der Wirtschaft eine Art Unwirtschaft zu machen. Der allererste Grund dafür ist, dass Profit und Kapital niemals Ziel des gesellschaftlichen Fortschritts waren und keinen Platz in der Gesellschaft fanden. Man kann sich eine reiche Wohlstandsgesellschaft vorstellen; Moral und Politik sind dafür offen. Allerdings, während sich die Gesellschaft mit ihren unbefriedigten Bedürfnissen in Arbeitslosigkeit dreht und windet, gehen Reichtum und Kapital über ein einfaches Verbrechen hinaus, sodass sie mit einem Soziozid in Zusammenhang stehen. Die Zivilisation selbst lässt sich als den Problemhaufen definieren, da sie auf dem Kapitalmonopol beruht.

Als Rosa Luxemburg die Existenz nicht-kapitalistischer Gesellschaften zur Voraussetzung der Kapitalakkumulation erklärte, kam sie an die Schwelle einer äußerst wichtigen Wahrheit. Wenn sie über diese Schwelle hätte treten können, hätte sie noch gesehen, dass die Kapitalakkumulation nicht nur auf die Existenz nicht-kapitalistischer Gesellschaften angewiesen ist, sondern dass sie der Gesellschaft ihre Werte entreißt, wie eine Zecke ihr Blut saugend wächst und die Arbeiter:innen, die sie daraus einen Tropfen trinken lässt, zu ihren Kompliz:innen macht. Ich möchte mit Nachdruck betonen, dass ich den Fleiß der Arbeiter:innen nicht leugne, sondern unterstreiche, dass die Entstehung des Kapitals sich nur in sehr kleinem Ausmaß auf ihre Arbeitskraft zurückführen lässt und selbst dieses kleine Ausmaß aus philosophisch-historisch-gesellschaftlicher Perspektive betrachtet seine Bedeutung verlöre. Anhand ökologischer Probleme kommt es immer mehr ans Licht, dass Industrialismus ein Mittel zum Wucher auf Kosten der Gesellschaft und Umwelt ist. Welcher Mensch mit Wissen und Verstand könnte leugnen, dass Manager:innen und Facharbeiter:innen zu privilegiertesten Gesellschaftsschichten geworden sind und die sich lawinenartig vergrößernde Arbeitslosigkeit das Gegenstück dazu bildet? Hoch entwickelte industrielle Schichten, monopolistische Handels- und Finanzschichten, also Kapitalmonopole mit ihren Aktiengesellschaften beraubten den Begriff ›Arbeiter:in‹ durch und durch seiner Bedeutung. Es ist wichtig zu sehen, dass die Arbeiter:innen auf die Rolle eines die Gesellschaft mit dem Kapitalmonopol verbindenden Riemens reduziert wurden. So wie der Realsozialismus als Staatskapitalismus ein auf ›kompromisslerischen Arbeiter:innen‹ basierendes System darstellte, hatte auch der klassische Privatkapitalismus seine kompromisslerischen Arbeiter:innen. Diese Phänomene haben in der Gesellschaft immer nebeneinander existiert. Die restliche Gesellschaft ist die nicht-kapitalistische, von der Rosa Luxemburg spricht.

Wenn man dem Inhalt Aufmerksamkeit schenkt, merkt man, dass hier zwischen kapitalistischer und nicht-kapitalistischer Gesellschaft unterschieden wird. Bei Rosa Luxemburg geht es um zwei Gesellschaftsformen. Ich dagegen betrachte den Kapitalismus nicht als eine Gesellschaftsform, sondern als ein Netzwerk, eine Organisation, die über der Gesellschaft errichtet wird und Mehrwert erpresst, die Wirtschaft aussaugt, Arbeitslosigkeit erzeugt, mit dem Staat und der Macht zusammenwächst und sich mächtiger Mittel zur Erzeugung ideologischer Hegemonie bedient. In letzter Zeit wurde auch die Arbeiterschaft zum Teil dieser Organisation. Mit einer solchen Beschreibung des monopolistischen Netzwerkes versuche ich zahlreiche Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Vor allem muss ich aufdecken, dass der Begriff ›kapitalistische Gesellschaft‹ eine Falle darstellt. Dem kapitalistischen Monopol ein solches Attribut zuteil werden zu lassen, ist eine übertriebene Generosität. Das Kapital kann Netzwerke und organisationale Netze aufbauen. Man sollte gut begreifen, dass auch die Mafia ein vorzügliches Kapitalnetzwerk darstellt. Der einzige Grund, warum man das Kapitalnetzwerk nicht als Mafia bezeichnet, sind seine hegemoniale Macht in der Gesellschaft und seine Kontakte zur offiziellen Macht. Ansonsten wäre aus ihm nichts geworden als ein Netzwerk, das nicht einmal über die ethischen Regeln der Mafia verfügt.

Es ist wichtig, hinzuzufügen, dass ich mittelständische Industrielle, Händler:innen und Landwirt:innen nicht als Kapitalist:innen betrachte. Auch wenn sie vom Kapital vielseitig in die Zange genommen werden, sind sie gesellschaftliche Gruppen, die größtenteils für wirtschaftliche Bedürfnisse zu produzieren versuchen. Außerdem betrachte ich auch den kleinen Warenhandel auf dem Markt und diejenigen, die jene Waren in ihren Kleinbetrieben produzieren, nicht als Kapitalist:innen. Diverse Berufe zählen selbstverständlich nicht zu Kapitalist:innen. Alle Arbeiter:innen, die nicht zu den Kompromisslern gehören, Bäuer:innen, Schüler:innen und Studierende, Beamt:innen, Handwerker:innen, Kinder und Frauen bilden das Rückgrat der Gesellschaft. Ich bemühe mich um eine solche Definition der nicht-kapitalistischen Gesellschaft. Darunter verstehe ich im Gegensatz zu den meisten Marxist:innen nicht eine halbfeudale Gesellschaft oder eine, in der die asiatische Produktionsweise herrscht. Ich bin davon überzeugt, dass diese Begriffe die Wahrheit verschleiern, anstatt sie aufzuzeigen. Zudem bezieht sich diese Analyse von mir nicht nur auf die Kapitalnetzwerke, die sich ab dem sechzehnten Jahrhundert in Europa zentralisiert haben, sondern auf alle Kapitalnetzwerke, die sich im Laufe der Geschichte den Mehrwert gewaltsam aneigneten (kommerzielle, politische, militärische, ideologische, landwirtschaftliche und industrielle Monopole). Es bedarf offensichtlich keiner langen Untersuchung, um zu sehen, dass das gegenwärtige Finanzkapital diese Analyse in beeindruckender Weise bestätigt.

Es spielt dabei eine Schlüsselrolle, zu sehen, dass die gesellschaftliche Natur eine Art Anti-Kapital bildet. Die Gesellschaft war sich während ihres Jahrtausende langen Marsches der äußerst verderbenden Auswirkung der Kapitalakkumulation stets bewusst. Beispielsweise scheint es so gut wie keine Religion zu geben, die den Geldverleih, eine der effektivsten Methoden der Kapitalakkumulation, nicht verurteilen würde.

Es reicht nicht aus, zu sagen, dass das Kapital gegenwärtig die sich lawinenartig vergrößernde Arbeitslosigkeit entwickelt, um billige, flexible Arbeiter:innen zu kreieren. Während dies einen Teil der Wahrheit bildet, ist das Ausschlaggebende, dass das Kapital die Gesellschaft an profitorientierte Tätigkeiten bindet. Tätigkeiten, die um des Profits und des Kapitals Willen erfolgen, decken sich überhaupt nicht mit den gesellschaftlichen Grundbedürfnissen. Wenn die Produktion, die zum Stillen des gesellschaftlichen Hungers dienen soll, keinen Profit einbringt, juckt es das Kapital gar nicht, dass die Gesellschaft an Hunger und Armut zugrunde geht – tatsächlich befinden sich heute Millionen von Menschen in diesem Zustand. Wenn ein kleiner Teil des vorhandenen Kapitals in die Landwirtschaft investiert würde, gäbe es kein Hungerproblem mehr. Aber das Kapital baut die Landwirtschaft stetig ab und ruiniert sie, was darauf zurückzuführen ist, dass durch Landwirtschaft entweder gar kein Profit oder eine sehr niedrige Profitrate erzielt werden kann. Weil er aus Geld riesige Mengen Geld machen kann, denkt kein Kapitalist an die Landwirtschaft. Ein solcher Gedanke findet im Wesen des Kapitals keinen Platz. Früher förderte der Staat als Monopol die Landwirtschaftsproduzenten reichlich, erhielt dafür Produkte oder Geld als Steuern. Die jetzigen Kapitalmärkte machen solche Aktivitäten des Staates bedeutungslos. Deswegen können Staaten, die die Landwirtschaft immer noch fördern wollen, dem Bankrott nicht entkommen. Dies bedeutet also, dass das Kapital den Hauptteil der Gesellschaft nicht aus tagespolitischen Gründen zunehmend der Arbeitslosigkeit und Armut überlässt, sondern dieser Umstand von seinen Struktureigenschaften herrührt. Ohne eine tiefergehende Untersuchung, kann man schon durch alltägliche Beobachtungen sehr einfach begreifen, dass das gesellschaftliche Arbeitslosigkeitsproblem auch dann nicht zu lösen wäre, wenn Menschen bereit wären, für sehr wenig Geld zu arbeiten. Ich wiederhole es nochmals: Man sollte nicht vergessen, dass man die Gesellschaft von Arbeitslosigkeit und Armut nicht befreien kann, ohne die auf Mehrwert basierende Politik und das System der Profitmaximierung abzuschaffen.

Zum Beispiel: Warum herrschen Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut in den mesopotamischen Ebenen, die im Laufe der Geschichte zahlreiche Gesellschaften ernährt haben und über fünfzehntausend Jahre der neolithischen Gesellschaft wie eine Mutter waren? Würde eine nicht profitorientierte Produktionsinitiative ins Leben gerufen, könnten diese Ebenen nach heutigen Maßstäben problemlos fünfundzwanzig Millionen Menschen ernähren. Was diese Ebenen und die dort lebenden Menschen brauchen, ist nicht die Hand des Kapitals, die sie nicht arbeiten lässt, sondern dass diese Hand (völlig unabhängig davon, ob privat oder staatlich), die den einzigen Grund für Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut darstellt, sie in Ruhe lässt. Das Einzige, was man braucht, ist, dass richtige Arbeiter:innenhände und die Erde zusammenkommen, dass die gesellschaftliche Moral und Politik ihre Funktion als Grundgefüge, als Organe zurückerlangen, und dass die demokratische Politik aus vollem Herzen und mit richtigen Gehirnen ihre Arbeit aufnimmt.


   Kurdistan Report 235 | Oktober-Dezember 2024