100 Jahre organisierte Solidarität für verfolgte Aktivist:innen
1924 wurde die Rote Hilfe Deutschlands gegründet
Silke Makowski, Hans-Litten-Archiv e.V.1
In diesem Jahr feiert die Rote Hilfe 100-jähriges Jubiläum: Am 1. Oktober 1924 wurde die Rote Hilfe Deutschlands als Mitgliederorganisation gegründet. Die Entwicklung der Rote-Hilfe-Organisationen ist keineswegs geradlinig verlaufen, sondern weist viele Brüche und Neuorientierungen auf. Eine Kontinuität war und ist aber stets die praktische und politische Solidarität mit allen linken Aktivist:innen, die von staatlicher Repression betroffen sind.
Die Geschichte solidarischer Unterstützung für politische Gefangene und andere verfolgte Genoss:innen ist so alt wie die Geschichte sozialer Kämpfe, die von Anfang an den Angriffen von Polizei und Justiz ausgesetzt waren. Schon immer hatten einzelne Aktivist:innen und lokale Unterstützungsgruppen sich darum bemüht, die schlimmsten Folgen abzumildern und den Betroffenen zur Seite zu stehen. Eine überregionale Koordination fehlte aber.
Von den RH-Komitees zur Mitgliederorganisation
Nach dem Ersten Weltkrieg spitzte sich die Lage in Deutschland zu: Anfang 1919 schlug der Staat die Rätebewegung blutig nieder, im März 1920 gingen die Regierungstruppen gegen die Sozialist:innen vor, die den völkischen Kapp-Putsch abwehrten, und im März 1921 erstickte das Militär den Mitteldeutschen Aufstand. Hunderte fortschrittliche Arbeiter:innen wurden ermordet, tausende zu Haftstrafen verurteilt, und ihre Familien befanden sich in einer extremen Notlage.
In dieser Situation waren die spontan entstandenen Solidaritätsgruppen überfordert. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), deren Anhänger:innen besonders stark im Fadenkreuz der Behörden standen, gründete deshalb im März 1921 die ersten Strukturen, die den Namen »Rote Hilfe« trugen: Die Rote-Hilfe-Komitees waren reichsweit vernetzt, hatten eine zentrale Kasse und konnten dadurch regionale Engpässe ausgleichen. Auch wenn die RH-Komitees eng an die KPD angeschlossen waren, unterstützten sie politisch Verfolgte und ihre Familien unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit. Die bloßen Spendensammlungen reichten aber bei Weitem nicht aus, um alle Bedürftigen zu versorgen, und die Hyperinflation ab Anfang 1923 verschärfte die Finanznot noch mehr. Als im Herbst 1923 eine weitere Repressionswelle einsetzte, wurden im November nicht nur die KPD, sondern auch die RH-Komitees für mehrere Monate verboten und ihre Anhänger:innen verfolgt.
Nach der Aufhebung des Verbots zum 1. März 1924 diskutierten die Rote-Hilfe-Aktivist:innen neue Perspektiven und strebten eine eigenständige, also von der KPD losgelöste Mitgliederorganisation an: Zum einen boten regelmäßige Mitgliedsbeiträge berechenbare Einnahmen, um die Unterstützungszahlungen dauerhaft zu finanzieren. Zum anderen sollte die Unabhängigkeit vom KPD-Apparat den parteienübergreifenden Anspruch glaubwürdiger vermitteln, breitere Spektren ansprechen und die Solidaritätsarbeit besser vor künftigen Repressionsschlägen schützen. Zum 1. Oktober 1924 wurde die Rote Hilfe Deutschlands (RHD) offiziell gegründet.
Zentrale Struktur mit aktiver Massenbasis
Die RHD wies eine klassische Gliederung auf: An der Spitze stand der Berliner Zentralvorstand, und die regionale Arbeit wurde von Bezirksvorständen koordiniert. Auch auf Unterbezirks-, Ortsgruppen- und Stadtteilebene gab es jeweils mehrköpfige Leitungen.
Der Großteil der Alltagspraxis fand an der Basis statt, beispielsweise Spendensammlungen und Öffentlichkeitsarbeit. Dass die Zahlungen für die Familien der Gefangenen und für Anwält:innen aus der Gesamtkasse übernommen wurden, entlastete vor allem Bezirke, in den die Repression überdurchschnittlich stark war. Zentral erstellte Publikationen und überregional geplante Rundreisen mit bekannten Referent:innen erleichterten die Tätigkeit vor Ort.
Gleich in den ersten Monaten erlebte die RHD eine extreme Beitrittswelle und zählte Ende 1925 bereits 100.000 Individualmitglieder. Hinzu kam eine steigende Zahl von kollektiv beigetretenen proletarischen Kulturvereinen, politischen Organisationen und Betriebsbelegschaften. Das Wachstum hielt an und verstärkte sich Anfang der 1930er-Jahre: Im Herbst 1932 war die RHD auf 375.000 Einzelmitglieder und über 650.000 kollektiv erfasste Anhänger:innen angewachsen.
Tatsächlich war es der Massenorganisation gelungen, weit über die KPD hinaus Mitglieder zu werben, sodass 1932 deutlich über 60 Prozent der Roten Helfer:innen parteilos waren. Problematischer war das Verhältnis zu Sozialdemokrat:innen – zum einen, weil der SPD-Vorstand schon früh einen Unvereinbarkeitsbeschluss gefasst hatte, zum anderen wegen der massiven Kritik, die die RHD an den repressiven sozialdemokratischen Regierungen und der Parteispitze übte. Dennoch unterstützten viele Sozialdemokrat:innen die Aktivitäten oder traten sogar bei. Auch jenseits der Arbeiter:innenbewegung traf die Organisation auf Sympathien. Unter anderem linke Prominente wie Erich Mühsam, Kurt Tucholsky, Thomas Mann und Käthe Kollwitz setzten sich für einzelne Kampagnen und Projekte ein oder engagierten sich als Mitglieder.
Erfolgreich gewann die RHD zudem proletarische Frauen, die sie mit gezielten Werbekampagnen, Publikationen und Veranstaltungen ansprach und durch niedrigschwellige Beteiligungsmöglichkeiten in die Solidaritätsarbeit einbezog. Dass die Rote Hilfe Deutschlands engagiert gegen den § 218 und für das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung eintrat, motivierte weitere Arbeiterinnen zum Beitritt. Bis 1932 war der Anteil weiblicher Mitglieder auf immerhin 27 Prozent angestiegen, von denen sich viele aktiv beteiligten.
Materielle Hilfe und politische Öffentlichkeitsarbeit
Im Mittelpunkt der Arbeit stand weiterhin, materielle Unterstützung für die zahlreichen politischen Gefangenen und ihre notleidenden Angehörigen zu leisten. Zusätzlich zu den Mitgliedsbeiträgen brachten regelmäßige Spendenkampagnen beeindruckende Ergebnisse, insbesondere die Winterhilfssammlungen: Ab Herbst erbaten die Roten Helfer:innen in den Wohnblocks, in Geschäften und auf Märkten Geld- und Sachspenden, die an die betroffenen Familien verteilt wurden. Die inhaftierten Genoss:innen wurden mit Briefen, Päckchen und Besuchen unterstützt. In den 1920er-Jahren floss der Großteil der Ausgaben in die Familien- und Gefangenenhilfe.
Aushängeschilder waren dabei die beiden Kinderheime der Roten Hilfe. Im Barkenhoff in Worpswede nahe Bremen und im MOPR-Heim im thüringischen Elgersburg konnten sich die Kinder der politischen Gefangenen, die oft an Unterernährung und armutsbedingten Krankheiten litten, für einige Wochen erholen. Diese Einrichtungen genossen auch in liberalen bürgerlichen Kreisen große Anerkennung und erhielten breite politische und materielle Unterstützung.
Aber die RHD betonte immer, keine karitative Organisation zu sein, sondern wollte mit ihrer Tätigkeit die revolutionäre Bewegung unterstützen. Von Anfang an spielten daher politische Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Rolle. Mit Demonstrationen, Vorträgen und anderen Veranstaltungen, auf Plakaten, Flugblättern und in Zeitungen sowie durch öffentlichkeitswirksame Aktionen machte die Solidaritätsorganisation ihre Forderungen unübersehbar.
Sowohl reichsweit als auch auf Bezirks- und Ortsgruppenebene brachte die RHD Zeitungen und Flugblätter in oft hoher Auflage heraus. Der Zentralvorstand publizierte die Monatszeitung »Der Rote Helfer« (ab 1929 »Tribunal«) und unterhielt eigene Verlage, in denen Rechtshilfe-Broschüren und andere Veröffentlichungen zu Repression erschienen.
Kampagnen gegen staatliche Verfolgung
Ein dauerhaftes Thema blieb der Einsatz für die Amnestierung aller politischen Gefangenen. In wiederholten Kampagnen, oft im Bündnis mit der KPD und anderen Organisationen, erreichten die Roten Helfer:innen immerhin mehrere Teilamnestien. Rund um den 18. März, der seit 1923 als Internationaler Tag der politischen Gefangenen begangen wurde, fanden jedes Jahr zahlreiche Veranstaltungen und Kundgebungen statt.
In den 1920er-Jahren engagierte sich die RHD intensiv zu internationalen Fällen, etwa gegen die Verfolgung der Arbeiter:innenbewegung in Bulgarien, Polen und China oder gegen die Hinrichtung der US-amerikanischen Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti. Nach der Wiener Julirevolte 1927 unterstützte sie die verhafteten Aktivist:innen und ihre Familien. Dass die RHD über die Ereignisse bestens informiert war, war der Internationalen Roten Hilfe (IRH) zu verdanken. In diesem Dachverband waren dutzende Rote-Hilfe-Organisationen vernetzt, die koordinierte Kampagnen durchführten und einander bei schweren Repressionswellen zur Seite standen.
Gegen Notverordnungen, Polizeigewalt und Nazi-Morde
Hatte die RHD schon in den ersten Jahren gegen die Verfolgung in Deutschland, drohende Gesetzesverschärfungen und besonders harte Gerichtsurteile mobilisiert, rückten diese Themen in den 1930er-Jahren in den Vordergrund. Ab 1929 verschärften sich die sozialen Konflikte, als durch die Wirtschaftskrise die Massenarmut extrem anstieg, und sich gegen die erstarkende NS-Bewegung entschiedene antifaschistische Abwehrkämpfe formierten.
Die Regierung der Weimarer Republik reagierte darauf mit immer schärferer Repression gegen kommunistische und andere fortschrittliche Kräfte. 1929 schoss die Berliner Polizei in die 1.-Mai-Demonstration, und unmittelbar danach wurden der KPD-nahe Rote Frontkämpferbund verboten und seine Mitglieder verfolgt. Die frühen 1930er-Jahre waren geprägt vom Abbau vieler demokratischer Rechte: Häufig wurde der Ausnahmezustand verhängt, und es entwickelte sich eine Art Präsidialdiktatur, die mit Notverordnungen die Grundrechte einschränkte. Parallel ging die Polizei immer brutaler gegen Versammlungen der Arbeiter:innenbewegung vor und erschoss hunderte Demonstrant:innen. Tausende Aktivist:innen wurden verhaftet und angeklagt, sodass die Zahl der politischen Gefangenen in die Höhe schnellte.
Die Rote Hilfe Deutschlands initiierte deshalb zu Beginn der 1930er-Jahren wiederholte Kampagnen gegen Gesetzesverschärfungen, Notverordnungen und die Einführung von Sondergerichten. In dieser Phase wurde die juristische Beratung für betroffene Genoss:innen eine Hauptaufgabe der Ortsgruppen. Der Rechtsschutz, also die Finanzierung von Anwält:innen, beanspruchte nun einen Großteil der Mittel, wobei die RHD mit der Kostenexplosion überfordert war: Ende 1932 zählte sie 9.000 politische Gefangene mit 30.000 bedürftigen Angehörigen, und über 50.000 Angeklagte benötigten rechtlichen Beistand.
Zudem richtete sich die staatliche Repression auch gegen die Solidaritätsorganisation. Weil die Behörden mithilfe der Notverordnungen Versammlungen untersagten, Spendensammlungen verfolgten und Publikationen verboten, mussten schon 1932 viele Aktivitäten in der Halblegalität stattfinden. Intern wurde über ein mögliches Verbot diskutiert, aber nur vereinzelt trafen die Roten Helfer:innen Vorkehrungen und Sicherheitsmaßnahmen.
Aktive Solidarität im Untergrund
Mit der Machtübergabe an die Nazis am 30. Januar 1933 erreichte die Repression ungekannte Ausmaße und traf auch die RHD mit voller Wucht. Bei den Massenverhaftungen ab Ende Februar wurden viele aktive Mitglieder in die Konzentrationslager verschleppt. Im März 1933 wurde die Rote Hilfe Deutschlands verboten, ihr Vermögen beschlagnahmt und jede Betätigung streng verfolgt. Trotzdem bemühten sich überall Aktivist:innen, zumindest lokal die Familien der Verhafteten zu unterstützen und illegale Strukturen aufzubauen.
Vielerorts spielten die weiblichen Mitglieder dabei eine wichtige Rolle: Die patriarchalen Repressionsbehörden betrachteten Politik als Männersache und hatten die Aktivistinnen oft gar nicht in ihren Listen erfasst. Weil viele Frauen den ersten Repressionswellen entgingen, organisierten sie den Übergang in die Illegalität und nahmen zum Teil leitende Positionen ein.
Während es in manchen Städten nur noch vereinzelte Spendensammlungen gab, gründeten sich in anderen Regionen gut vernetzte Ortsgruppen, die aus mehreren konspirativ tätigen Kleinzellen bestanden. Neben der materiellen Unterstützung leisteten sie auch im Untergrund mit Flugblättern und Zeitungen Öffentlichkeitsarbeit. Für Untergetauchte stellten sie Quartiere zur Verfügung und halfen gefährdeten Antifaschist:innen bei der Flucht über die Grenze. Über klandestine Briefe und heimliche Treffen hielten sie Kontakt mit der RHD-Bezirksleitung und dem Zentralvorstand, die sich nach den ersten Verhaftungen neu gebildet hatten. Kurier:innen übermittelten den Ortsgruppen Informationen, im Ausland gedruckte Druckschriften und finanzielle Zuschüsse, die die internationale Arbeiter:innenbewegung gesammelt hatte.
Weiterhin waren der parteienübergreifende Ansatz und der Gedanke der Einheitsfront von größter Bedeutung, und die Solidaritätsorganisation unterstützte bewusst auch Antifaschist:innen nichtkommunistischer Strömungen. Aktivist:innen verschiedener Parteien und Spektren schlossen sich der illegalen RHD an oder arbeiteten eng mit ihr zusammen.
Vom NS-Terror zerschlagen
Die NS-Behörden gingen mit aller Härte gegen die RHD vor, und selbst einmalige Kleinspenden wurden als »Vorbereitung zum Hochverrat« mit Haftstrafen belegt. Durch Spitzel, Denunziant:innen oder erfolterte Aussagen kam es regelmäßig zu Massenverhaftungen, bei denen Ortsgruppen oder sogar ganze Bezirke zerschlagen wurden. Unzählige Rote Helfer:innen wurden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt und in die Konzentrationslager verschleppt, und viele überlebten die brutalen Verhöre und Haftbedingungen nicht. Im Lauf der Jahre wurde es zunehmend schwierig, nach schweren Repressionsschlägen neue Mitstreiter:innen zu finden und die Strukturen neu aufzubauen.
Ab 1936 waren die Gruppen ausgedünnt und die überregionalen Verbindungen großteils abgerissen, und im September 1938 entschloss sich die Exilleitung der RHD, die Organisation offiziell für aufgelöst zu erklären. An der Basis führten aber viele Aktivist:innen die Tätigkeit in isolierten Kleingruppen fort und standen den von den Nazis Verfolgten zur Seite.
Nach der Befreiung vom Faschismus gründete sich zunächst keine Rote Hilfe, und Solidarität mit Repressionsopfern – beispielsweise nach dem erneuten KPD-Verbot 1956 – wurde auf anderen Wegen organisiert.
Neuentdeckung in den 1970er-Jahren
Als sich Mitte der 1960er-Jahre in der Bundesrepublik neue Protestbewegungen formierten, sahen sie sich mit massiver Repression konfrontiert. Im studentisch geprägten Umfeld bildeten sich Rechtshilfegruppen, die teilweise an die Tradition der RHD anknüpften. Das Sekretariat Rote Hilfe in Westberlin war die erste Initiative, die den Namen wieder aufgriff und sich darum bemühte, unterschiedliche Spektren in der Solidaritätsarbeit zu vereinen.
Daraus ging 1972 die spontaneistisch-undogmatische rote hilfe « hervor, ein loses Netzwerk autonomer Gruppen, die sich der Unterstützung politischer, aber auch sozialer Gefangener widmeten. Ihr enger Kontakt mit den Gefangenen aus der Roten Armee Fraktion (RAF) führte zu massiver staatlicher Repression, und interne Konflikte schwächten die Strukturen zusätzlich, weshalb nach 1975 nur noch zwei Gruppen aktiv waren.
Im Milieu der maoistisch orientierten K-Gruppen entstanden bald zwei weitere Rote Hilfen, die straffer organisiert waren und feste Mitgliedschaften hatten: Die Kommunistische Partei Deutschlands (Aufbauorganisation) hatte seit 1971 das Rote Hilfe Komitee in Westberlin unterhalten, doch als die Repression gegen die Partei zunahm, wurde diese Gruppe in den bundesweit tätigen Verein Rote Hilfe e. V. umgewandelt. Die Organisation protestierte gegen tödliche Polizeigewalt, Berufsverbote und politisch motivierte Entlassungen sowie gegen Grundrechtseinschränkungen. Zudem solidarisierte sich mit den politischen Gefangenen und begleitete – trotz grundlegender Kritik an der Stadtguerilla – die Hungerstreiks der Gefangenen aus der RAF. Vor allem für Verfolgte aus den eigenen Zusammenhängen leistete sie nicht nur politische, sondern auch praktische und materielle Unterstützung. Als die Bewegung der K-Gruppen Ende der 1970er-Jahre abflaute, schrumpfte auch die Rote Hilfe e. V. rapide und beschloss im Februar 1979 ihre Selbstauflösung.
Schließlich gründete die Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ML) Anfang 1975 die Rote Hilfe Deutschlands (RHD), die ebenfalls klare Organisationsstrukturen und feste Mitgliedschaften hatte. Im Mittelpunkt stand auch hier die Öffentlichkeitsarbeit gegen staatliche Repression, gegen Berufsverbote und Grundrechteabbau sowie gegen die mörderischen Polizeieinsätze. Trotz vehementer Kritik an der Politik der RAF setzte sich die RHD gegen die menschenverachtende Isolationshaft ein. Zudem bemühte sich die Solidaritätsorganisation, Angeklagte und politische Gefangene auch nicht nur politisch, sondern auch finanziell zu unterstützen und brachte enorme Summen für Prozesskosten auf. Zwar konzentrierten sich die Zahlungen zunächst auf das eigene Umfeld, aber parallel suchte sie den Kontakt mit den neuen sozialen Bewegungen: Bei den Protesten gegen Atomkraft oder bei antifaschistischen Demonstrationen stand sie den Aktivist:innen mit Rechtshilfe und Demosanitäter:innen zur Seite und initiierte Spendensammlungen nach Repressionsschlägen.
Politische Öffnung und Entstehung der heutigen Roten Hilfe e. V.
Ende der 1970er-Jahre hatte auch die RHD mit extremem Mitgliederschwund und schnell sinkenden Einnahmen zu kämpfen, führte aber die Arbeit auf kleiner Flamme fort. Viele Ortsgruppen stellten die aktive Tätigkeit ein, und es wurde immer schwieriger, finanzielle Hilfe bei Prozessen zu leisten.
Schon 1978 hatte die Delegiertenkonferenz eine inhaltliche Neuausrichtung beschlossen und erstmals die Satzung geändert, und in den Folgejahren löste sich die RHD immer weiter von der KPD/ML und öffnete sich für breitere Spektren. Während die am Parteiprogramm angelehnten allgemeinpolitischen Punkte aus dem Selbstverständnis verschwanden, trat das Prinzip der strömungsübergreifenden Solidaritätsarbeit in den Mittelpunkt. Die Organisation bemühte sich, mit anderen Antirepressionsgruppen und verschiedenen linken Bewegungen in engeren Austausch zu kommen, doch zunächst sanken die Mitgliedszahlen weiter.
1985 war ein Tiefpunkt erreicht, doch zugleich glückte der Durchbruch, als die Roten Helfer:innen in Kiel dauerhaft mit Aktivist:innen autonomer, antimilitaristischer und antiimperialistischer Gruppen zusammenarbeiteten, was zu ersten Beitritte führte. Bei der Bundesdelegiertenkonferenz 1986 wurde die Satzung noch einmal umfassend überarbeitet und die RHD in Rote Hilfe e. V. umbenannt – die heutige Organisation war entstanden.
Mehrere hundert Neumitglieder stärkten die Strukturen, und nach und nach gründeten sich neue Ortsgruppen. Zentrale Themen dieser Zeit waren die zahlreichen Verfahren nach den Paragrafen 129/129a, die linke Strukturen als »kriminelle« oder »terroristische Vereinigungen« verfolgten. Daneben protestierte die Rote Hilfe e. V. gegen Grundrechtseingriffe wie die Volkszählung, Gesetzesverschärfungen etwa im Bereich des Versammlungsrechts sowie die zerstörerischen Isolationshaftbedingungen, denen die Gefangenen aus der Stadtguerilla noch immer unterworfen waren.
In den 1990er-Jahren wuchs die Solidaritätsorganisation weiter und entfaltete bundesweit vielfältige Aktivitäten. Auf Anregung von Libertad! wurde 1996 der Tag der politischen Gefangenen am 18. März wiederbelebt und wird seither jedes Jahr mit Kundgebungen, Veranstaltungen und der bis heute erscheinenden Massenzeitung begangen.
Als die Repression gegen die kurdische Bewegung zunahm, suchte die Rote Hilfe e. V. den Kontakt mit den betroffenen Zusammenhängen. Ab 1989 beteiligte sie sich an den breiten Bündnisprotesten gegen den Düsseldorfer Mammutprozess und stand auch bei späteren Repressionswellen den verfolgten Kurd:innen politisch, juristisch und finanziell zur Seite: 1995 machten Fälle mit Kurdistan-Bezug zusammen mit denen aus der antifaschistischen Bewegung mehr als die Hälfte der Anträge auf Unterstützung aus. Als im Frühjahr 1996 der Rechtshilfefonds Azadî e. V. als eigenständige Antirepressionsstruktur für verfolgte kurdische Aktivist:innen entstand, begrüßte die Rote Hilfe e. V. die Neugründung und arbeitet bis heute eng mit dem Verein zusammen.
Starke Solidaritätsorganisation der Gegenwart
Im neuen Jahrtausend wuchs die Rote Hilfe e. V. ständig an. Breite Kampagnen, beispielsweise zu den Gipfelprotesten und anderen mit massiver Repression verbundenen Großereignissen, und intensive Öffentlichkeitsarbeit verschafften der Solidaritätsorganisation Wahrnehmung auch über die linke Szene hinaus. Parallel nahmen auch die Anträge auf finanzielle Unterstützung zu, die aber durch die steigenden Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden getragen werden können.
Die Hauptarbeit wird in den inzwischen über 50 Ortsgruppen geleistet, die von Repression betroffenen linken Aktivist:innen aller Spektren zur Seite stehen. Bei Sprechstunden geben die Roten Helfer:innen Empfehlungen zum Umgang mit den staatlichen Maßnahmen, vermitteln bei Bedarf solidarische Anwält:innen und bereiten Anträge auf finanzielle Unterstützung vor. Gemeinsam mit den Angeklagten bereiten sie Prozesse vor und planen begleitende Solidaritätsaktionen, wobei die Rote Hilfe e. V. die enge Zusammenarbeit mit dem politischen Umfeld der Betroffenen und mit anderen Antirepressionsgruppen anstrebt. In Vorträgen vermitteln die Ortsgruppen Rechtshilfetipps oder informieren über unterschiedliche Repressionsthemen.
Bei der alle zwei Jahre stattfindenden Bundesdelegiertenkonferenz, dem höchsten Entscheidungsgremium, werden Anträge zur künftigen Arbeit diskutiert und der Bundesvorstand für die nächsten zwei Jahre gewählt. Letzterer verwaltet die Bundesfinanzen, entscheidet über Anträge auf finanzielle Unterstützung, leistet Öffentlichkeitsarbeit und regt Kampagnen an.
Zu den breit gefächerten Themen, zu denen sich die Rote Hilfe e. V. aktuell engagiert, zählen Großverfahren wie der Rondenbarg-Prozess, bei dem im Nachgang der G20-Proteste 2017 weit über 80 Demonstrant:innen angeklagt wurden, oder die Antifa-Ost-Verfahren. Mit dem Budapest-Komplex läuft zudem eine massive internationale Repressionswelle gegen die antifaschistische Bewegung, und mehrere Aktivist:innen sind von Auslieferung nach Ungarn bedroht oder sitzen bereits in Budapest in Haft. Seit die Klimagerechtigkeitsbewegung zunehmender Kriminalisierung ausgesetzt ist, kommen auch aus diesem Kontext viele Anfragen.
Die Solidarität mit der verfolgten migrantischen Linken bleibt eine dauerhafte Aufgabe: Die Rote Hilfe e. V. protestiert gegen die immer neuen Verfahren, Schikanen und Verbote sowie die vielen Prozesse nach Paragraf 129b, mit denen die Behörden gegen die kurdische Bewegung vorgehen. Nicht nur zum Tag der politischen Gefangenen fordert sie die Freilassung der inhaftierten kurdischen Aktivist:innen. Ebenso engagiert sie sich gegen die Kriminalisierung linker türkischer Organisationen.
Der Kampf für den Erhalt elementarer demokratischer Rechte ist ein weiterer Schwerpunkt. Seien es verschärfte Versammlungsgesetze oder Angriffe auf die Pressefreiheit, seien es die vielfältigen Verbote und anderen einschneidenden Maßnahmen, die derzeit die palästinasolidarischen Proteste treffen – die Rote Hilfe e. V setzt sich gegen den Grundrechteabbau ein.
Ein Grund zu jubeln: Jubiläumsjahr 2024
Die inzwischen weit über 15.000 Mitglieder kommen aus wohl allen linken Bewegungen und politischen Strömungen, aber über die vielen Unterschiede hinweg vereint sie der Gedanke der organisierten strömungsübergreifenden Solidarität gegen staatliche Repression. Dass dieses Prinzip 2024 – 100 Jahre nach der Gründung der RHD am 1. Oktober 1924 – Jubiläum hat, nimmt die Rote Hilfe e. V. zum Anlass für eine große Kampagne. Seit im Februar bei der 100-Jahre-Gala in Hamburg hunderte Mitglieder und Aktivist:innen befreundeter Gruppierungen den feierlichen Auftakt setzten, organisieren die Ortsgruppen lokale Veranstaltungen und Projekte. Unterstützt werden sie dabei von der 100-Jahre-AG, die eine Ausstellung samt Begleitkatalog zur Geschichte der Rote-Hilfe-Organisationen erstellt und den Dokumentarfilm »Solidarität verbindet – 100 Jahre Rote Hilfe« produziert hat. Im August erschien eine Massenzeitung, die verschiedenen linken Tages- und Monatszeitungen beilag und von den Ortsgruppen verteilt wird, und auch eine Ausgabe der Rote Hilfe Zeitung widmet sich diesem Schwerpunkt.
Die 100-Jahre-Sonderhomepage gibt einen Einblick in die Fülle von kreativen Projekten und Veranstaltungen, die in den verschiedenen Ortsgruppen umgesetzt werden. Ein besonderer Höhepunkt war das Rote-Hilfe-Festival vom 23. bis 25. August in Berlin, bei dem mehrere Konzerte, ein Straßenfest, eine Podiumsdiskussion, die Ausstellung und eine Filmvorführung auf dem Programm standen.
Selbstverständlich kommt neben all den Jubiläumsaktivitäten die Solidaritätsarbeit nicht zu kurz. Um aber Kraft zu tanken für die kommenden Herausforderungen, mit denen wir in Zeiten wachsender Repression konfrontiert sind, ist es wichtig, gemeinsam mit allen befreundeten Bewegungen den Gedanken der strömungsübergreifenden Solidarität zu feiern.
Weitere Informationen unter
https://rote-hilfe.de/100-jahre-rote-hilfe
1 Verein zur Errichtung und Förderung eines Archivs der Solidarorganisationen der Arbeiter:innenbewegung und der sozialen Bewegungen. https://hans-litten-archiv.de
Kurdistan Report 235 | Oktober-Dezember 2024