Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Editorial
Aktuelle politische Lage
Konkrete Schritte in eine ungewisse Zukunft
Arif Rhein, Journalist
Zwölf Jahre Revolution in Rojava – Ein Rückblick
Müslüm Örtülü, Mitarbeiter von Civaka Azad
Türkische Besatzungs- und Kriegspolitik in Nord- und Ostsyrien
Fabian Beimler, freier Journalist
Ein Interview zu den anstehende Wahlen,dem neuen Gesellschaftsvertrag und den kommenden Veränderungen
im politischen System in Nord- und Ostsyrien
Wir sind auf uns selbst gestellt
Das Rojava Information Center spricht mit Vertreter:innen der Autonomen Verwaltung von Kobanê
Das Paradigma der demokratischen Nation in Nord- und Ostsyrien
Die Kommune ist der Kern der Gesellschaft
Orhan Kendal, Autor
Eine Revolution als Prozess
Über 30 Jahre vorbereitet
Ferda Çetin, Journalist
Historische Entwicklung der Krisen und Potentiale im Mittleren Osten
Eine Oase inmitten der Wüste: Rojava
Süheyla Taş, politische Gefangene
Die Entwicklung der Revolution und der Literatur hängen zusammen
Die Revolution schafft ihre eigene Literatur
Interview mit Nerîman Evdikê
Der Wandel der ethnischen und religiösen Identitäten in Rojava und Nord- und Ostsyrien durch die Revolution
Völker und Religionen in Nord- und Ostsyrien
Cihan Inan
Allein und ohne Fremdfinanzierungen werden wir diese enormen Herausforderungen nicht meistern können.
Die Unterversorgung der Bevölkerung wird die Sicherheitslage verschärfen
Wir sprechen mit der Projektkoordinaorin von Heyva Sor a Kurd, dem Kurdischen Roten Halbmond in Nord- und Ostsyrien,
über die medizinische Versorgung in der Region
Die Beziehung zwischen der Nahost-Ordnung seit 1923 und der Kolonisierung Kurdistans
Über Kurd:innen und die Republik Türkei
Çağrı Kurt
Ein historischer Blick in die Entwicklungen der Frauenrechtssituation unter verschiedenen Herrschaftsformen
Die Situation der Frauen im Iran und in Ostkurdistan
Farhad Jahanbeygi, Journalist
Soziologie der Freiheit – Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage
Das Mentalitätsproblem der Gesellschaft
Abdullah Öcalan
Die Welt neu denken: Herausforderungen, Übergänge und kurdische Perspektiven
Kurdische Perspektiven – diskutiert in Berlin
Kurd-Akad und Civaka Azad
Neue Energie für Rojava!
SOLARdarity!
Şeyda Kurt
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Aktuelle politische Lage
Konkrete Schritte in eine ungewisse Zukunft
Arif Rhein, Journalist
Der Dritte Weltkrieg hat in den letzten Wochen und Monaten rasant an Fahrt gewonnen – und damit für alle sichtbar den Mittleren Osten als eines der Zentren dieses Krieges wieder mit voller Wucht in das globale Rampenlicht zurückbefördert. Der Krieg in Palästina, ein direkter militärischer Schlagabtausch zwischen Israel und dem Iran und die schweren Turbulenzen in der Türkei und Nordkurdistan nach den Kommunalwahlen sind nur einige der schmerzhaften Symptome, die auf einen grundlegenden Trend in der Region verweisen: Die seit mehr als 30 Jahren andauernde Neuordnung des Mittleren Ostens befindet sich in einer äußerst kritischen Phase, in der die verschiedenen Akteure versuchen Fakten zu schaffen. Prägend sind dabei nicht nur globale Mächte wie die USA, EU und China oder Regionalmächte, wie z. B. die Türkei und der Iran. Auch die Völker des Mittleren Ostens und die von ihnen unterstützten gesellschaftlichen Kräfte, allen voran Kurd:innen und die um die PKK versammelte Freiheitsbewegung Kurdistans, nehmen starken Einfluss auf die Neugestaltung der Region. Angesichts des Tempos der aktuellen Entwicklungen erscheint es ratsam, sich auf einige strategische Ereignisse und Trends der letzten Wochen und Monate zu konzentrieren: Das Beharren auf die Durchsetzung des IMEC (India-Middle East-Europe-Economic Corridor), die vielfältige Krise des türkischen Staates angesichts der Wahlniederlage der faschistischen AKP-MHP-Regierung bei den Kommunalwahlen und das gesteigerte Tempo, mit dem sich die Freiheitsbewegung Kurdistans in jüngster Zeit für ein Ende der Kolonialisierung Kurdistans und die Demokratisierung des Mittleren Ostens einsetzt. Anhand dieser zentralen Entwicklungen lässt sich erkennen, von welcher enormen Bedeutung das laufende Jahr für die Neugestaltung Kurdistans, des Mittleren Ostens und letztendlich der gesamten globalen Ordnung ist.
Der IMEC und die »Korridorisierung der Welt«
Am 15. September 2020 unterschrieben Vertreter Israels, der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Bahrains in Washington die sogenannten »Abraham Accords« (Abraham Accords Declaration), in deren Rahmen die Anerkennung Israels durch die beiden arabischen Staaten und eine Aufnahme diplomatischer Beziehungen beschlossen wurde. Seither haben die USA ihre Bemühungen intensiviert, für die Neuordnung des Mittleren Ostens Fakten zu schaffen. Am Rande des G20-Gipfels in Neu-Delhi im September des Jahres 2023 erfolgte ein weiterer wichtiger Schritt in diese Richtung: Die Staats- und Regierungschefs der USA, Indiens, Saudi-Arabiens, der VAE, Italiens, Deutschlands, Frankreichs und die EU als Staatenbund kündigten die Einrichtung des IMEC an. Damit sollen Ost- und Westeurasien – also Indien und Europa – über den Mittleren Osten in Form eines neuen Transport-, Pipeline-, Strom- und Datenkabelnetzes miteinander verbunden werden. Diese geostrategisch folgenreiche Entscheidung ist einer der treibenden Faktoren hinter der Eskalation der Konflikte, die seit dem Herbst 2023 im Mittleren Osten zu beobachten ist.
Der IMEC reiht sich ein in eine lange Liste von Korridor-Projekten, mit denen die führenden Mächte der kapitalistischen Moderne die Welt in ihrem Sinne neu gestalten möchten. China verfolgt seit 2013 mit der »Belt and Road Initiative« (BRI, auch als ‚Neue Seidenstraße‘ bekannt) ein sehr ambitioniertes Projekt, das 150 Länder entlang von fünf Landkorridoren und einem Seekorridor umfasst. Die EU kündigte Ende 2021 in Form der »Global Gateway Initiative« Investitionen in Höhe von 300 Milliarden Euro in Infrastrukturprojekte weltweit an, was weithin als ein Gegenprojekt zur BRI verstanden wurde. Ein weiteres Projekt, stellt der »International North–South Transport Corridor« (INSTC, er führt von Indien über Iran und Aserbaidschan nach Russland) dar, der auf einen Beschluss Indiens, Russlands und des Irans aus dem Jahr 2002 zurückgeht. Auch an ihm wird weitergearbeitet, was an der Entscheidung Indiens im Mai dieses Jahres zu erkennen ist, umfassend in den iranischen Hafen Chabahar zu investieren. Mit dem IMEC wurde der Weltöffentlichkeit nun unter Führung der USA ein weiteres Korridor-Projekt präsentiert. Die Liste dieser Abkommen, deren jeweilige Umsetzung letztendlich eine Frage des Kräfteverhältnisses zwischen den verschiedenen konkurrierenden Mächten ist, ließe sich noch weiter fortsetzen. Der Umstand, dass alle Führungsmächte der kapitalistischen Moderne samt zahlreicher Regionalmächte an der Umsetzung derartiger Projekte arbeiten, hat den indischen Think-Tank-Mitarbeiter Dr. N. Janardhan bereits dazu veranlasst, von einer »Korridorisierung der Welt« zu sprechen1.
Der Widerstand der Türkei gegen den IMEC hat in den vergangenen Monaten entscheidend dazu beigetragen, den Mittleren Osten in eine noch schwerwiegendere kriegerische Eskalation zu stürzen. Bereits im November letzten Jahres hatte Duran Kalkan, Mitglied im PKK-Exekutivrat, vor diesem Hintergrund auf die Verwicklung der Türkei in den Hamas-Angriff auf Israel hingewiesen: »In ähnlicher Weise hat er [Erdoğan] die Hamas dazu gebracht, Israel anzugreifen und so einen Krieg auszulösen. Der türkische Staat tut das, um die Region unsicher zu machen und zu erreichen, dass die Energieversorgungsroute durch die Türkei geführt wird.«2 Diese Analyse hat in internationalen Medien und unter demokratischen Kräften leider zu wenig Aufmerksamkeit erhalten. Ohne die Türkei als eine treibende Kraft hinter islamistischen Kräften wie der Hamas in Palästina, der Hisbollah im Libanon oder dem Islamischen Staat in Syrien und dem Irak zu erkennen, lässt sich die immer weiter drehende Gewaltspirale im Mittleren Osten nicht verstehen. Schon ein kurzer Blick auf die Türkei-Hamas-Beziehungen spricht Bände3: Die Türkei erkennt die Hamas nicht als Terrorgruppe an. Erdoğan bezeichnete die Organisation stattdessen wiederholt als »Widerstandsgruppe«. Ismail Hanija, der politische Anführer der Hamas, befindet sich seit 2012 auf Einladung Erdoğans in der Türkei und erhielt zudem einen türkischen Pass. Die Hamas verfügt über mehrere Konten bei türkischen Banken und soll pro Jahr teilweise bis zu 300 Millionen Euro von der Türkei erhalten haben. Seit dem 7. Oktober letzten Jahres traf der Hamas-Anführer Hanija mehrmals Erdoğan und den türkischen Außenminister, zuletzt am 20. April dieses Jahres. Das letzte Treffen veranlasste den israelischen Außenminister Katz Ende Mai zu deutlicher Kritik: »Derjenige, der des Völkermordes angeklagt werden sollte, ist Diktator Erdoğan, der seine kurdischen Bürger:innen ermordet, den nördlichen Teil Zyperns besetzt hält und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht.“4 Es liegt sehr nahe, davon auszugehen, dass der türkische Staat direkten Einfluss auf die Führungsebene der Hamas hat. Erdoğan reagierte bereits auf der Rückreise vom G20-Gipfel im September letzten Jahres sehr verärgert auf die Ankündigung des IMEC: »Einen Korridor ohne die Türkei wird es nicht geben. Die am besten geeignete Strecke für die Ost-West-Verbindung führt durch die Türkei.“5 Diese unverhohlene Drohung stellte den Startschuss für die türkische Intervention gegen den IMEC dar. Diese Intervention dauert bis heute an, und zwar nicht nur in Form finanzieller, politischer, logistischer6 und sehr wahrscheinlich auch militärischer Unterstützung der Türkei für die Hamas. Auch der Irak-Besuch Erdoğans am 22. April in diesem Jahr erfolgte in diesem Zusammenhang. Ganz oben auf der türkischen Agenda stand die sogenannte »Development Road«. Dabei handelt es sich um ein weiteres Korridor-Projekt, bestehend aus einem Schienen-, Straßen- und Pipelinenetz, mit dem der Persische Golf über den Irak und die Türkei mit Europa verbunden werden soll. Die Türkei arbeitet also ganz offen an einer regionalen Alternative zum IMEC. Die KCK-Ko-Vorsitzende Besê Hozat bezeichnete dieses Vorhaben als eine »Falle für den Irak«, mit der die Türkei ihre »neo-osmanischen, besatzerischen und expansionistische Politik« verdecke.7
Auch nach der absehbaren Vertreibung der Hamas aus Gaza wird die Türkei darum bemüht sein, den Mittleren Osten zu destabilisieren und so den IMEC zu verhindern. Mithilfe der Hisbollah könnte sie beispielsweise versuchen, den Libanon und damit die unmittelbare Nachbarschaft zur Hafenstadt Haifa – ein unverzichtbares IMEC-Drehkreuz – zu destabilisieren. Ähnliches gilt für die nicht weit entfernt liegende Region Aleppo in Nordsyrien, die die Türkei durch die von ihr kontrollierten islamistischen Milizen in Idlib, Efrîn und Cerablûs erneut ins Chaos stürzen kann. Und auch im Irak verfügt die Türkei durch Zehntausende eigene Soldaten, die südkurdische PDK und turkmenische Milizen in Kerkûk über weitreichende Möglichkeiten, Konflikte zu schüren.
Doch auch die am IMEC beteiligten Mächte beharren mit aller Kraft auf die Durchsetzung des Projekts. Das zeigt sich allein schon an der Brutalität der israelischen Kriegsführung in Gaza. Auch wenn der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar jüngst einräumen musste, die Entwicklungen in der Region seien »definitiv eine Quelle der Besorgnis für uns, und die Erwartungen, die wir bei der Unterzeichnung der Vereinbarung im September hatten, mussten wir ein wenig anpassen“8, hält Indien weiter an der Umsetzung des IMEC fest: »Wir nehmen die Sache [IMEC, A.R.] sehr ernst und stehen miteinander im Austausch. Es muss nicht alles sofort klappen, damit etwas in Gang kommt. Wo immer wir etwas in Bewegung setzen können, werden wir es tun“9, sagte der indische Außenminister im Mai. Dementsprechend scheint man sich in IMEC-Kreisen dafür entschieden zu haben, in der Golfregion mit ersten praktischen Schritten der Umsetzung zu beginnen, während die Arbeiten rund um den Hafen Haifa zunächst schwierig bleiben dürften. In dieses Bild passt ein Besuch von Vertretern der indischen Schiffahrts- und Handelsministerien im Mai 2024 in den VAE, in dessen Rahmen die Häfen Kandla, Khalifa und Jebel Ali besichtigt wurden.10 Eine weitere wichtige Entwicklung ist die Benennung von Gérard Mestrallet als IMEC-Sondergesandten Frankreichs durch den französischen Präsidenten Macron im Februar. Mestrallet machte sich jüngst für Marseille als »den europäischen Brückenkopf für den Korridor“11 stark und forderte, dass »wir mit der Ausarbeitung des Projekts nicht bis zum Ende des [Gaza-]Krieges warten sollten“12.
Die Türkei nach den Wahlen: ein (zu) vorsichtiger Blick in den Spiegel
Die Destabilisierung des Mittleren Ostens durch den türkischen Staat hat nicht erst als Reaktion auf den IMEC begonnen. Auf der Grundlage der neo-osmanischen Misak-ı Milli-Strategie (dt.: Nationalpakt, Ziel ist die türkische Annexion u. a. Nordsyriens und des Nordirak) verfolgt die Türkei seit dem Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings im Jahr 2011 ganz unverblümt wirtschaftliche, politische und militärische Hegemoniebestrebungen in der Region. Dazu gehört insbesondere der brutale Krieg gegen die kurdische Bevölkerung und deren Selbstorganisierung in Nordkurdistan (Türkei), Rojava (Syrien) und Südkurdistan (Irak). Seit Juni 2015 – also seit mittlerweile neun Jahren – mobilisiert der türkische Staat all seine Mittel für diesen Krieg. In diesem Zeitraum hat die Türkei nach offiziellen Angaben mehr als 191 Milliarden Dollar für Rüstung und Militär ausgegeben. Allein zwischen 2023 und 2024 wurde das Budget des türkischen Militärs um 150%13 erhöht. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass die tatsächlichen Ausgaben für Geheimdienst, Polizei, Militär, Rüstung etc. deutlich höher liegen.
Nach neun Jahren Krieg steht der türkische Staat samt seiner AKP-MHP-Regierung heute vor einem sozialen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Scherbenhaufen. So lebt laut offiziellen staatlichen Stellen ca. ein Drittel der Bevölkerung in Armut14. Die Krise tritt seit der Wahlniederlage der AKP bei den Kommunalwahlen am 31. März 2024 besonders deutlich zutage. Das starke Abschneiden der CHP (Cumhuriyet Halk Partisi) und der Volksaufstand Hunderttausender DEM-Partei-Anhänger:innen (Halkların Eşitlik ve Demokrasi Partisi) in der nordkurdischen Stadt Wan zur Verteidigung der Wahlergebnisse haben Erdoğan und seine Regierung schwer in Bedrängnis gebracht. Seither dominieren drei Stränge die Politik des Landes:
Innerhalb des AKP-MHP-Regierungslagers finden in Form juristischer Scharmützel offene Machtkämpfe statt, während Erdoğan zugleich versucht, insbesondere die oppositionelle CHP durch Zugeständnisse ruhig zu stellen. So entließ er am Tag der Urteilsverkündung gegen führende HDP-Politiker:innen sieben Generäle aus dem Gefängnis, die ideologisch der CHP zugeordnet werden können. Außerdem umwarb Erdoğan mit einem medial pompös begleiteten Treffen am 3. Mai den neuen CHP-Vorsitzenden Özel und stellt seither weitere Treffen in Aussicht. Erdoğan geht es darum, die CHP für die Verabschiedung einer neuen Verfassung zu gewinnen und sich dadurch die Unterstützung der Opposition für sein Regime zu sichern. Zugleich bereitet er sich auf ein Scheitern dieses Versuchs vor und sicherte sich jüngst durch einen Erlass das alleinige Recht zu, eine Generalmobilisierung anzuordnen und Krieg zu erklären. Diese Entscheidung ist auch außenpolitisch wichtig, da die AKP-MHP-Regierung weiterhin offen mit neuen Bodenangriffen in Rojava/Nordsyrien und Südkurdistan/Nordirak droht.
Die CHP stellt sich bisher öffentlich gegen eine neue Verfassung, versucht aber zugleich unter der Losung einer »Normalisierung« eine eigene Debatte zur AKP-MHP-Politik anzustoßen. Damit scheint die Partei darauf abzuzielen, Erdoğan weiter in die Ecke zu drängen, um ihn zu politischen Zugeständnissen für die CHP-Klientel zu zwingen, ohne jedoch grundlegende Veränderungen in der türkischen Staatspolitik herbeizuführen. Denn die CHP kritisiert zwar offen den miserablen Zustand der Wirtschaft des Landes und beklagt die Armut und den Hunger der Bevölkerung, so z. B. im Rahmen einer Protestreihe im Mai in Istanbul und Ankara, bei der Zehntausende auf die Straßen gingen. Aber den wichtigsten Grund für die Wirtschaftskrise – den Krieg gegen die Kurd:innen – erwähnt die CHP bisher mit keinem einzigen Wort.
Genau dieser schwere Fehler veranlasste die KCK-Ko-Vorsitzende Besê Hozat in einem Interview Ende Mai zu folgender Warnung: »Wenn wir uns die Arbeit der CHP nach den Kommunalwahlen ansehen, dann können wir sie als sehr mittelmäßig bezeichnen. Seither hat sie fast ihr gesamtes Oppositions- und Kritikpotential gegenüber der Regierung eingebüßt. […] Aktuell ist von einer ›Normalisierung‹ die Rede. Doch was bedeutet solch eine Normalisierung in der Türkei? Es bedeutet das Ende des Folter- und Isolationssystems in İmralı [Bezug zu Inhaftierung Abdullah Öcalans, A.R.]. Es bedeutet die Gewährleistung der Gesundheit, Sicherheit und Freiheit von Rêber Apo [Abdullah Öcalan, A.R.]. Und es bedeutet die Lösung der kurdischen Frage auf einer demokratischen Grundlage. Wenn all dies geschieht, werden Recht, Demokratie und Freiheit in der Türkei herrschen. Normalisierung bedeutet nicht die Freilassung von sieben Generälen. Normalisierung bedeutet nicht, Gespräche mit der Opposition zu führen. Und Normalisierung bedeutet auch nicht die Freilassung von ein paar Gezi-Gefangenen.“15 Der oben erwähnte dritte Strang in der aktuellen politischen Landschaft der Türkei wird von der DEM-Partei vertreten und verfolgt eine ähnliche Politik wie von Besê Hozat beschrieben. Vertreter:innen der Partei fordern praktisch täglich im Parlament und bei Protestkundgebungen ein Ende der Totalisolation Abdullah Öcalans, einen Stopp der staatlichen Repressionen gegen kurdische Politiker:innen und Aktivist:innen, die Beendigung des Krieges in der Türkei, dem Irak und Syrien gegen die dortige kurdische Bevölkerung und eine wirkliche »Normalisierung« durch praktische Schritte zur Lösung der kurdischen Frage in der Türkei. Dafür trafen sich die beiden DEM-Partei-Ko-Vorsitzenden Tuncer Bakırhan und Tülay Hatimoğulları auch Anfang Mai mit dem CHP-Vorsitzenden Özgür Özel.
Schon dieser kurze Einblick in die aktuelle politische Dynamik des Landes zeigt, dass sich nach den Kommunalwahlen die Chance für einen demokratischen Wandel in der Türkei ergeben hat. Klar ist aber, dass dies nicht mit der aktuellen AKP-MHP-Regierung geschehen kann. Erdoğan, Bahceli und viele Kader in der Staatsbürokratie haben sich in den letzten 22 Jahren ihrer Regierungszeit zahlreicher Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen schuldig gemacht. Sie alle gehören so schnell wie möglich vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, ähnlich wie Netanjahu oder die Hamas-Führung. Die parlamentarische und außerparlamentarische Opposition im Lande ist also gefordert, gemeinsam die Gunst der Stunde zu nutzen, den Druck auf die Regierung zu erhöhen und durch die Erzwingung von Neuwahlen, den Weg für eine wirkliche »Normalisierung« in der Türkei zu ebnen.
Große Dynamik des kurdischen Freiheitskampfes im Jahr 2024
Der Freiheitskampf des kurdischen Volkes beschränkt sich nicht nur auf parlamentarische Arbeiten mithilfe von Parteien wie der DEM-Partei. Im Verlaufe der vergangenen 50 Jahre hat sich eine breite gesellschaftliche Bewegung entwickelt, die im Einklang mit der eigenen organisatorischen Stärke und der jeweiligen politischen Phase einen sehr vielfältigen Widerstand leistet. Aktuell wird dieser Kampf von einem besonders hohen Tempo und täglich neuen diplomatischen, politischen und militärischen Initiativen getragen.
Die seit Oktober letzten Jahres andauernde globale Kampagne »Freiheit für Öcalan und eine politische Lösung der kurdischen Frage” baut auch weiterhin Druck auf verantwortliche Institutionen wie das türkische Justizministerium, den Europarat und das Europäische Komitee zur Verhinderung von Folter (CPT) auf. Die breite internationale Unterstützung solidarischer Kreise, öffentliche Botschaften bedeutender Persönlichkeiten wie Slavoj Žižek oder der Protest von insgesamt weit mehr als 100.000 Menschen in Köln im Februar und in Frankfurt am Main im März 2024 sind allesamt wichtige Teile dieser Kampagne. Der diplomatische Druck auf die EU und die Türkei, sich zu ihrer gemeinsamen Verantwortung für die Totalisolation Abdullah Öcalans zu bekennen und diese sofort zu beenden, geht auch aktuell weiter. Jüngst wurde dieser Forderung erneut auf verschiedene Art und Weise Nachdruck verliehen: Dutzende bekannte Persönlichkeiten aus Großbritannien, Irland, Italien und den USA – inklusive Noam Chomsky und Jeremy Corbyn – forderten in einem offenen Brief an den CPT-Präsidenten Alan Mitchell, umgehend eine Delegation auf die türkische Gefängnisinsel İmralı zu entsenden; die DEM-Partei-Abgeordneten Cengiz Çiçek und Newroz Uysal beantragten die Einrichtung eines Sonderausschusses im türkischen Parlament, um Klarheit über die Situation auf der Gefängnisinsel İmralı zu schaffen; dutzende italienische Organisationen, Politiker:innen, Jurist:innen etc. forderten das CPT in einem offenen Brief dazu auf, eine Delegation nach İmralı zu entsenden und den Kontakt Öcalans zu seinen Anwält:innen sowie seiner Familie zu gewährleisten; diesen Forderungen schlossen sich auch 81 Organisationen und Einzelpersonen aus Spanien in einem weiteren offenen Brief an das CPT an; die Sprecher:innen der Rechtskommission der DEM-Partei beantragten beim türkischen Justizministerium eine Genehmigung für einen Besuch bei Abdullah Öcalan; im Rahmen einer von der kurdischen Frauenbewegung TJK-E organisierten Briefkampagne schickten über eintausend Menschen Briefe an das CPT und forderten umgehend wirksame Maßnahmen gegen die Isolation Abdullah Öcalans; Anfang Juni wandten sich auch 93 Personen des öffentlichen Lebens und der Politik aus Deutschland mit einem Brief an das CPT und forderten, ein Expertenteam nach İmralı zu entsenden und Klarheit über die Situation Abdullah Öcalans zu schaffen. Dass der türkische Staat mit Unterstützung der EU, Englands oder den USA weiter auf die Isolationspolitik besteht, zeigte sich Ende Mai an einer Entscheidung des für İmralı zuständigen Vollzugsgerichts in Bursa: ein weiteres sechsmonatiges Besuchsverbot für die Anwält:innen Abdullah Öcalans. Derartige Entscheidungen steigern die Wut der Kurd:innen und ihrer internationalen Freund:innen nur noch weiter, weshalb sie in Zukunft gemeinsam umso entschlossener für die Freiheit Abdullah Öcalans eintreten werden.
Politisch betrachtet ist zurzeit insbesondere die kurdische Bevölkerung in Nordkurdistan (Osttürkei) sehr lebendig. Seit dem 4. April 2024 haben Tausende gefangene PKK- und PAJK-Mitglieder in türkischen Gefängnissen ihren im vergangenen Jahr als Hungerstreik begonnenen Protest gegen die Totalisolation Abdullah Öcalans verändert und führen diesen nun in Form einer Verweigerung von Telefongesprächen, der persönlichen Teilnahme an Gerichtsverfahren und dem Besuch von Familienangehörigen fort. Sie haben sich damit dafür entschieden, unter vergleichbaren Isolationsbedingungen wie die Abdullah Öcalans zu leben. Begleitet wird dies von wöchentlich stattfindenden Protestaktionen vor Gefängnissen in der Türkei und Nordkurdistan. Unter dem Motto »Erhebt eure Stimme für die Freiheit« kommen in diesem Rahmen die Mütter und Väter der Gefangenen jeweils zu Hunderten in Städten wie Amed, Êlih (Batman), Mersin, Adana, Izmir und Istanbul zusammen und trotzen damit massiven staatlichen Einschüchterungs- und Repressionsversuchen. Bei einer Nachwahl in der kurdischen Kreisstadt Curnê Reş (tr.: Hilvan) gewannen die beiden DEM-Partei-Kandidat:innen Anfang Juni deutlich. Damit bestätigte sich der Trend der Kommunalwahlen vom 31. März 2024. Trotz der durch die AKP-Zwangsverwalter angehäuften enormen Schulden, die Arbeit verweigernder AKP-Stadtverwaltungsangestellter und täglicher Polizeirepressionen arbeiten die über 70 Stadtverwaltungen der DEM-Partei seit Anfang April unter Hochdruck an praktischen Verbesserungen im Leben der Menschen. Insgesamt lässt sich seit den Kommunalwahlen beobachten, dass die Bevölkerung Nordkurdistans ihrer Wut mutigen und spontanen Ausdruck verleiht. Abgesehen davon sind es auch sehr langfristig angelegte Proteste, wie die jeden Samstag stattfindende Kundgebung der »Samstagsmütter« in Istanbul, die mit ihrer Forderung nach einer Aufarbeitung Tausender Morde durch den türkischen Staat in den 1990er Jahren einen wichtigen Beitrag zu dem politischen Kampf der kurdischen Bevölkerung in der Türkei beitragen. Ende Mai wurde die 1000. Woche der »Samstagsmütter«-Proteste mit einer Großkundgebung auf der Istiklal-Straße in Istanbul begangen, worüber auch umfassend in internationalen Medien berichtet wurde.
Aufgrund der andauernden Kolonisierungs- und Genozidpolitik des türkischen Staates und seiner NATO-Verbündeten gegen die Kurd:innen ist und bleibt der militärische Widerstand das zentrale Mittel. Auch in diesem Bereich sind zuletzt wichtige Entwicklungen zu verzeichnen. Angesichts der Drohung Erdoğans, die seit 2021 andauernde türkische Besatzungsoperation in Südkurdistan (Nordirak) in diesem Sommer auszuweiten, geht der Widerstand der Guerillakräfte HPG und YJA-Star mit hoher Intensität weiter. Nachdem die HPG im Frühling den Abschuss von 15 türkischen Drohnen verkündet hatte, wurde am 27. Mai 2024 die 16. dieser millionenschweren Kriegsmaschinen von der Guerilla abgeschossen. Damit hat die Guerilla bewiesen, dass sie langfristig dazu in der Lage sein wird, Drohnen der türkischen Armee und damit eine der zentralen Säulen der türkischen Kriegsführung außer Gefecht zu setzen. Und nicht nur das: Wie jüngste Angriffe in der südkurdischen Region Zap auf mehrere türkische Militärposten zeigen, verfügt die Guerilla mittlerweile auch über Kamikaze-Drohnen.16 Damit ist sie in der Lage, aus der Distanz noch wirksamer und öfter die türkischen Stellungen in der Region anzugreifen. Und trotzdem, die Angriffe des türkischen Staates auf die Medya-Verteidigungsgebiete, die von der Guerilla kontrollierten Gebiete in Südkurdistan, halten weiter an. Die Bilanz der HPG für den Mai dieses Jahres verdeutlicht, wie schwer die täglichen Gefechte in der Region sind: Bei 82 Angriffen der HPG und YJA-Star auf die türkischen Besatzungstruppen wurden 43 türkische Soldaten getötet und 4 verletzt. Neben einer abgeschossenen Aksungur-Drohne – das teuerste Modell der türkischen Drohnen-Reihe – wurde auch ein türkischer Hubschrauber durch Guerilla-Beschuss beschädigt. Die türkische Besatzerarmee führte ihrerseits laut der HPG 245 Luftangriffe, 43 Helikopterangriffe, 61 Angriffe mit Kamikaze-Drohnen, 37 Angriffe mit verbotenen Sprengstoffen und 286 Chemiewaffenangriffe durch.17 Besonders hervorzuheben ist, dass das türkische Militär in den letzten Wochen den Einsatz chemischer Waffen gegen die Höhlen- und Tunnelsysteme der Guerilla erneut massiv verstärkt hat. Murat Karayılan, HPG-Kommandant und zugleich Mitglied des Exekutivrats der PKK, stellte in diesem Zusammenhang in einem jüngst veröffentlichten Interview fest: »Dieser Widerstand ist historisch betrachtet etwas völlig Neues für die Menschheit. Eine große, mit modernster Waffentechnologie ausgerüstete Armee wurde gestoppt und der Widerstand gegen sie wird auch weiter fortgesetzt. Das ist keine alltägliche Sache. Ja, im Moment gelingt es uns nicht, diesen Widerstand der Weltöffentlichkeit angemessen zu vermitteln. Das betrifft zwei Aspekte: Der erste ist, dass seit drei Jahren [von der Guerilla, A.R.] eine Kriegsdoktrin verfolgt wird, mit der die zweitgrößte Armee der NATO aufgehalten werden konnte. Das ist der bemerkenswerteste Aspekt. Der zweite ist, dass hier verbotene Waffen eingesetzt werden. Chemische Waffen, taktische Atomwaffen und verschiedenste andere Arten von Waffen. […] Spüren unsere Menschen in Kurdistan oder in Europa, dass hier rund um die Uhr ein Krieg tobt? Nein, das tun sie nicht.“18 Auch in zahlreichen Städten der Türkei und Nordkurdistans hat sich in den letzten Wochen der militärische Widerstand gegen die Genozid-Politik des türkischen Staates intensiviert. Organisationen wie die HBDH (»Vereinte Revolutionsbewegung der Völker«), Jinên Tolhildêr (»Rächende Frauen«) und MAK (»Freiheitsmilizen Kurdistans«) führten im Mai insgesamt 23 Angriffe in über zehn verschiedenen Städten bzw. Regionen der Türkei und Nordkurdistans durch. Dabei wurden u.a. zahlreiche Fabriken faschistischer Inhaber, Drogenhändler und Militärstützpunkte angegriffen und auch ein türkischer Unteroffizier getötet. Deutlich wird daran, dass sich der militärische Widerstand in Nordkurdistan bzw. der Türkei immer mehr in die Städte verlagert, was einem bedeutenden Wandel weg von klassischen Guerillastrategien gleichkommt.
Die Zukunft mitgestalten
Der Freiheitskampf der Kurd:innen stellt Tag für Tag aufs Neue unter Beweis, welchen großen Einfluss Gesellschaften auf die Entwicklungen in ihrer Heimat und der Welt nehmen können. Dafür müssen sie sich nur ihrer Kraft bewusst werden, sich als handelnde Akteur:innen verstehen und dementsprechend ihre Selbstorganisierung stärken. Die Unterstützung bestehender Freiheitskämpfe in Verbindung mit dem Aufbau von Widerstand in den kapitalistischen Zentren dieser Welt ist von großer Bedeutung. Denn die Kriege, Ausbeutung und ökologische Zerstörung der hegemonialen Mächte der kapitalistischen Moderne kennen keine Pausen oder Grenzen. Dementsprechend hoch werden auch das Tempo und die Entschlossenheit sein, mit dem alle moralisch denkenden und politisch handelnden Menschen in diesem Jahr für Freiheit, Demokratie und Gleichheit einstehen werden. Dass die Zeit dafür mehr als günstig ist, zeigt der kurze Einblick in die oben angesprochenen Krisen und Widersprüche der kapitalistischen Moderne. Ohne Zweifel wird der Blick nach Kurdistan auch in nächster Zeit weiter viel Inspiration für die Freiheitskämpfe der Völker dieser Welt zu bieten haben.
Fußnoten
1 https://www.youtube.com/watch?v=81O_Reg-Rio
2 https://anfdeutsch.com/aktuelles/kalkan-Erdoğan-steht-hinter-dem-hamas-angriff-auf-israel-39655
3 vgl. https://www.dw.com/de/Erdoğan-hanija-hamas-t%C3%BCrkei-beziehungen/a-68883427
12 ebd.
15 https://firatnews.com/kurdistan/-198407; gemeint sind Inhaftierte der Gezi-Park-Proteste 2013
16 vgl. https://firatnews.com/kurdistan/Ozel-teknikle-yapilan-eylemin-goruntusu-yayinlandi-198917
18 vgl. https://firatnews.com/guncel/karayilan-dusman-gerekli-yaniti-alir-198672
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Die Welt neu denken: Herausforderungen, Übergänge und kurdische Perspektiven
Kurdische Perspektiven – diskutiert in Berlin
Am 1. und 2. März 2024 fand in Berlin eine Konferenz mit dem Titel »Die Welt neu denken: Herausforderungen, Übergänge und kurdische Perspektiven« statt. Organisiert wurde sie von Kurd-Akad, dem Netzwerk kurdischer AkademikerInnen e.V., und Civaka Azad, dem kurdischen Informationszentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.
Ziel der Konferenz war es, mit Expert:innen aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft die grundlegenden Konflikte im Nahen Osten zu analysieren und sowohl deren internationale Konnotationen als auch die unterschiedlichen Interessen und Perspektiven der beteiligten Akteure zu thematisieren. Außerdem sollten das Potenzial und die Perspektiven für eine Transformation in der Region selbst analysiert werden.
Die Konferenz begann mit einem Einführungsvortrag von Prof. Dr. Hamit Bozarslan zum Thema »Die Weltordnung: vom Status quo zum Neubeginn«. Ob sich sein Eingangsstatement von pessimistischen Bedingungen, die vorherrschen, halten lässt, werden wir im Laufe dieses Artikels sehen. Volle Zustimmung allerdings lässt sich zum zweiten Abschnitt seines Eingangsstatements geben »Ich fange mit der kurdischen Frage an, und ich werde mit der kurdischen Frage aufhören.« Denn dieses zeigt das Wesentliche im Hinblick auf die Konferenzthematik. Die kurdische Causa ist zentral, sowohl was die Herausforderungen betrifft, als auch die Übergänge, und Kurd:innen sind in Bezug auf Perspektiven für die Welt der Zukunft wichtig. Prof. Bozarslan umreißt in seinem Vortrag den Wandlungsprozess des kurdischen Volkes vom Faktor, dessen Existenz nicht gesichert war – die 1980iger Jahre sind aus seiner Sicht die dunkelste Periode –, bis zum Akteur mit zahlreichen Errungenschaften, wie die Kurdistan Region des Irak, die Demokratische Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien, der Aufstand in Rojhilat und die dynamische kurdische Gesellschaft in der Türkei. Demgegenüber ist die Zusammenarbeit von an sich verfeindeten Staaten, v.a. Iran, Russland und Türkei ebenfalls von großer Bedeutung.
Russland ist ein relevanter Akteur, nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine. Die Journalistin Anastasia Tikhomirova verweist in ihrem Vortrag »Russland, die Ukraine und die NATO: alte Konflikte – neue Strategien« auf die imperialen und kolonialen Eroberungskriege bzw. Vereinnahmungen Russlands seit dem 16. Jahrhundert (damals Moskowien), die für die historische Einordnung der aktuellen Entwicklungen rund um den Krieg in der Ukraine relevant sind. Ein zentraler Aspekt in Bezug auf Russlands Rolle im Mittleren Osten ist die Feststellung, dass Assad nicht mehr an der Macht wäre, wenn Russland ihm bzw. Syrien nicht zur Hilfe geeilt wäre. Mit der Kritik am Westen, sich jahrelang gegenüber der »völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, dem Krieg im Donbas, russischen Militäraktionen in Syrien, den Tschetschenienkriegen, massiver Repression gegen Oppositionelle …« nicht positioniert zu haben, spricht Anastasia Tikhomirova einen Punkt an, der auch auf die Haltung in Bezug auf die Türkei eine bittere Realität ist.
Exemplarisch für den Westen und diese Haltung sind die USA – Thema von Prof. Dr. Amy Austin Holmes von der Elliot School of International Affairs, USA. Prof. Holmes verweist auf den zunehmenden Expansionismus Russlands, Chinas und insbesondere der Türkei, wobei letztere nicht ausreichend Beachtung findet, obwohl sie fast 10% Syriens okkupiert hat. Die Diskussionen rund um das russische Waffensystem S-400 zeigen Prof. Holmes zufolge, dass die entsprechenden US-Sanktionen nicht effektiv waren, und die Türkei sich im Bereich der Rüstungsindustrie zunehmend autonome Räume schafft. Den Großteil des Vortrags widmet sie den Errungenschaften rund um die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES), was im Hinblick auf die Einordnung der Kurd:innen und ihrer lokalen Verbündeten als zentraler Player wichtig ist. Sie verweist dabei auch auf das Paradox, dass keine der 87 Staaten, die Teil der Internationalen Allianz gegen den IS sind, die AANES offiziell anerkennen, von ihr jedoch die Erfüllung aller Aufgaben und Auflagen erwarten, die staatlichen Akteuren bzw. Staaten zugeschrieben werden.
Die Journalistin Kristin Helberg, die zum Titel »Der Nahe Osten als Pulverfass: Konfliktlinien und Konnotationen« sprach, setzt ebenfalls in Syrien an als Beispiel für einen innerstaatlichen Konflikt, der sich mit der Intervention der Türkei und der USA auf der einen und Russland und Iran auf der anderen Seite zu einem regionalen und internationalen Konflikt ausgeweitet hat. In diesem Kontext verweist Kristin Helberg auch auf die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Iran und Israel. Sie kritisiert, wie auch ihre Vorrednerinnen, die fehlende einheitliche Haltung der internationalen Staatengemeinschaft: »Völkerrechtsbrüche, welche in Syrien die Regel geworden sind, wiederholen sich andernorts, weil sie in Syrien ungestraft blieben«. Fazit ihres Vortrags ist, so hat sie es selbst formuliert, dass eine multipolare Weltunordnung herrscht.
Hediye Levent, die zu den Kriegen und Konfliktlinien des Mittleren Ostens im Schatten des Ukrainekrieges referiert hat, verweist insbesondere auf die Auswirkungen dieses Krieges auf die Menschen in der Region des Mittleren und Nahen Ostens und führt weitere Akteur:innen wie z.B. den Jemen an.
Die sich aus all den Konflikten und Kriegen ergebenden Konfliktlinien führen zu einem demographischen Wandel und Fluchtbewegungen aus der Region und entsprechenden Reaktionen Europas bzw. Deutschlands, zu denen die Migrationsforscherin Valeria Hänsel von medico international referiert hat. Die Rückkehr zu »geordneter bzw. stark reduzierter« Migration ist wesentliches Element der europäischen bzw. deutschen Antwort auf die Migrationsströme.
Der Vortrag von Sara Aktaş mit dem Titel »Die Länder im Mittleren Osten und Kurdistan: vereinte Feinde« – der letzte am ersten Konferenztag – knüpfte an die Einführung von Prof. Bozarslan an, der die Kooperation von an sich verfeindeten Staaten ebenfalls als wichtigen Aspekt ansprach.
Der zweite Tag der Konferenz startete mit einem Vortrag von Prof. Dr. Kenan Engin zu über 100 Jahren kurdischer Migration nach Deutschland. Ausgehend davon wurden die deutsch-türkischen Beziehungen umfassend analysiert. Prof. Dr. Mithat Sancar bezog sich dabei auf die staatlichen Beziehungen mit dem Schwerpunkt Türkei, während sich der Menschenrechtsaktivist und Moderator Yilmaz Kaba eher auf die Widersprüche deutscher Politik fokussierte. Dr. Hüseyin Çiçek beschäftigte sich mit den Leitstrukturen deutscher Außenpolitik im Kontext von Interessen vs. Werten.
Im letzten Konferenzabschnitt mit dem Titel »Eine andere Weltordnung: neue Impulse und Perspektiven« gelang es größtenteils, die pessimistischen Bedingungen, von denen Prof. Bozarslan eingangs gesprochen hatte, aufzubrechen und positive Impulse zu setzen. Vernoique Dudouet von der Berghof Stiftung sprach über Resistenzen und Resilienzen im Kontext von Strategien zur Friedensbildung. Asya Abdullah, Co-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Einheit, präsentierte das regionale Modell der Demokratischen Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien als internationale Option. Ich selbst schloss meine Rede zum Thema »Von der Losung zur Lösung: Perspektiven von Jin, Jiyan, Azadî« mit den Worten ab »Es ist die Ära der Revolution der Frau.«. Nilüfer Koç vom Kurdistan National Kongress hob in ihrer Rede mit dem Titel »Den gordischen Knoten durchschlagen: die Lösung der kurdischen Frage – Erwartungen an Deutschland« die Transformationsprozesse hervor, die das kurdische Volk und ihre Bewegung vollzogen haben und zeigte damit nicht nur Optionen für den Mittleren Osten, sondern auch für die deutsch-kurdischen Beziehungen auf.
Die deutsch-kurdischen Beziehungen sind wesentlich, so zeigt es sich auch im Teilnehmerprofil der Konferenz. Denn die Mehrheit waren Kurd:innen. Daraus lassen sich zahlreiche Schlüsse ziehen. Kurd:innen verstehen sich als Akteur:innen und wollen Transformationsprozesse und -perspektiven mitdiskutieren und mitgestalten. Auch die Tatsache, dass eine solche Konferenz nach fast zehn Jahren wieder in Berlin stattgefunden hat, hat eine positive Wirkung auf die kurdische Community gehabt.
Die Frage, warum Entscheidungsträger:innen und Politiker:innen der Konferenz fernblieben oder ihre Teilnahme als Referent:innen kurzfristig abgesagt haben, muss genauer betrachtet werden. So hat beispielsweise das Außenministerium, das beharrlich von feministischer Außenpolitik spricht, keine Vertreterin entsandt. Dabei ist ein interessanter Aspekt zu beachten: Im Ministerium ist ein Staatsminister, also ein Mann, für feministische Außenpolitik zuständig. Die Haltung von Politiker:innen/Institutionen lediglich mit der Distanz zu bestimmten kurdischen Organisationen, der Sensibilität des Themas und seinen möglichen Auswirkungen auf türkische Akteure in Deutschland und die zwischenstaatlichen türkisch-deutschen Beziehungen zu begründen, wird der Vielschichtigkeit des Problems nicht gerecht. An dieser Stelle ist Selbstkritik durchaus angebracht. Die positive politische und zivilgesellschaftliche Resonanz auf den Sieg über den IS in Rojava – einschließlich der Forderung nach einer Neubewertung der PKK – hat Zuversicht geschaffen. Schwächen in Bezug auf Kontinuität und Nachhaltigkeit führten dazu, dass wir unsere Kontakte nicht aufrechterhalten oder ausbauen konnten. Wir haben nicht die notwendige Arbeit geleistet, um aus diesem Momentum langfristige politische Ergebnisse zu erzielen.
Wir müssen den Druck auf die Politiker:innen erhöhen, entschlossen sein und deutlich machen, dass kurdische Perspektiven nicht nur lokale oder regionale, sondern auch globale Lösungen bieten. Demokratische, ökologische und geschlechtergerechte Gesellschaften sind jenseits von Macht und Nationalstaat möglich.
Besonders positiv ist die Geschlechterverteilung der Referierenden: 12 Frauen und 6 Männer. Während zu negativ oder hegemonial konnotierten Themen wie den deutsch-türkischen Beziehungen und den Kurd:innen mehrheitlich Männer sprachen, referierten in den Foren »3. Weltkrieg? Einschätzungen und Szenarien« und »Eine andere Weltordnung: Neue Impulse und Perspektiven« ausschließlich Frauen. Dies zeigt, dass dies das Zeitalter der Frauenrevolution ist, wie bereits der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan erklärte. Frauen analysieren die Geschichte sowie die Gegenwart, und sie gestalten die Zukunft.
Was Berlin betrifft, so ist es für die Zukunft notwendig, dass wir weiterhin solche Konferenzen organisieren, dass wir beharrlich auf Politiker:innen und Entscheidungsträger:innen zugehen und die kurdischen Perspektiven verbreiten.
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Neue Energie für Rojava!
SOLARdarity!
Şeyda Kurt
Energiekrise in Rojava
Seit 12 Jahren besteht die Autonomieregion Rojava in Nord- und Ostsyrien und ist Hoffnungsschimmer für einen demokratischen Aufbau in Syrien. Seit ihrer Gründung musste sich Rojava gegen zahlreiche Bedrohungen verteidigen. Neben den Auseinandersetzungen mit dem Assad-Regime sind es vor allem die Kriege mit der Türkei und dem sog. Islamischen Staat.
Nun steht das Autonomieprojekt jedoch vor existentiellen Herausforderungen. Der Energieversorgung droht der Kollaps. Türkische Luftangriffe haben die Kraft- und Umschaltwerke in der Region weitgehend zerstört. Strom ist Mangelware und wird meist durch schmutzige Diesel-Generatoren erzeugt. Sowohl die Zivilbevölkerung leidet alltäglich am Strom- und Wassermangel, doch auch die Landwirtschaft – in einer ohnehin bereits vom Klimawandel am meisten betroffenen Regionen – ist stark beeinträchtigt.
Saubere Energie als Lösung
Doch wir können etwas tun. Durch saubere Energie aus der Sonne in Syrien. Der Aufbau von dezentralen Solarpanels soll dazu beitragen, kommunale Einrichtungen, Krankenhäuser, Schulen oder Frauenhäuser mit Strom zu versorgen.
Daher sammeln wir eine Million Euro für Solarpanels, die öffentliche Einrichtungen in Nord- und Ostsyrien nachhaltig mit Strom versorgen sollen. Damit können wir einen Unterschied machen und zur Weiterentwicklung einer demokratischen, geschlechtergerechten und ökologischen Alternative im Nahen Osten beitragen.
Machen wir gemeinsam einen Unterschied: Senden wir neue Energie nach Rojava!
Wir unterstützen Solardarity!
«Rojava bedeutet Zuversicht. Rojava ist das Versprechen für ein Zusammenleben in Autonomie, ohne Unterdrückung und Besatzung. Auch deshalb muss Rojava atmen, muss Rojava grün werden. Damit die Samen der Zuversicht, die die Revolution in so vielen Menschen gepflanzt hat, weiter sprießen können.»
Spendenkonto:
medico international e.V.
IBAN: DE69 4306 0967 1018 8350 02
Stichwort: Solardarity Rojava
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Türkische Besatzungs- und Kriegspolitik in Nord- und Ostsyrien
Fabian Beimler, freier Journalist
Es sind nun 13 Jahre vergangen, seit der Bürgerkrieg in Syrien begann und sich in Nord- und Ostsyrien im Zuge der Revolution eine Selbstverwaltung etablieren konnte. Der IS als eine Bedrohung für die junge Revolution wurde physisch geschlagen. Mit seinen Überresten und Folgen hat die Region jedoch nach wie vor zu kämpfen. Grund dafür ist besonders die Türkei, die von Beginn an die von Kurd:innen angeführte Revolution angegriffen hat und seither mit unterschiedlichen Strategien für Destabilisierung in der Region sorgt. Die Existenz der DAANES1, die ein Konzept außerstaatlicher Selbstorganisierung darstellt, sieht die Türkei als Bedrohung. Besonders, da sie auch den Kurd:innen in der Türkei Hoffnung gibt, eines Tages selbstbestimmt leben zu können.
30 km »Sicherheitszone« – Besetzte Gebiete
Die wiederholte Forderung Erdoğans nach einer »Sicherheitszone«, an der südlichen Grenze der Türkei hat das Ziel, die demokratische autonome Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien unmöglich zu machen. Die Umsetzung des neo-osmanischen Besatzungsprojekts begann mit der Operation »Schutzschild Euphrat«, im Jahr 2016, die das Ziel hatte, die Verbindung der Kantone Efrîn und Minbic zu verhindern. In beiden hatte die Gesellschaft schon in den Jahren zuvor begonnen, sich nach dem Konzept des demokratischen Konföderalismus zu organisieren und Strukturen aufzubauen.
In den Jahren darauf folgte die Besatzung von Efrîn (2018) sowie von Serêkaniyê und Girê Spî (2019). Diese wurden durch die türkische Armee, Hand in Hand mit jihadistischen Söldnern, eingenommen. Bis heute herrscht in der vermeintlichen »Sicherheitszone« Chaos. Tägliche Gewalt, Bedrohungen, Plünderung, Entführungen, Zerstörung der Natur dienen den jihadistischen Söldnern der Türkei als Grundlage für ihre Finanzierung. Ein Großteil der Bevölkerung ist schon mit Beginn der Invasion geflohen. Nach und nach sollen auch möglichst viele kurdischstämmige Menschen aus ihrem Zuhause vertrieben werden.
Die aktuelle Lage in den besetzten Gebieten ist nur schwer nachzuvollziehen. Manchmal besteht noch Kontakt zu Nachbar:innen oder Verwandten, die nach der Invasion geblieben oder zurückgekehrt sind. Diese haben jedoch Angst, selbst am Telefon, offen über die Geschehnisse zu berichten. Denn wer sich gegen die Besatzer ausspricht, hat mit weiterer Gewalt zu rechnen.
Auf die Vertreibung der kurdischstämmigen Bevölkerung folgt die Ansiedelung vorwiegend arabisch- und turkmenischstämmiger Menschen. Oft sind es Geflüchtete aus unterschiedlichen Regionen. Die Siedlungen werden sowohl vom türkischen Staat als auch von NGOs finanziert. Diese NGOs haben teilweise ihren Sitz in Europa, Katar oder anderen Ländern und propagieren eine islamistische Ideologie. Der so herbeigeführte demografische Wandel ist Teil genozidaler Politik, die sich gegen Kurd:innen richtet.
Dieser findet auch Ausdruck in Form eines kulturellen Genozids. Es werden von den jihadistischen Besatzern kurdische Symbole entfernt bzw. ersetzt. In der seit 2018 besetzten Stadt Efrîn finden sich hierfür zahlreiche Beispiele. So wurde die an einem Kreisverkehr errichtete Statue von »Kawa dem Schmied« vor kurzem entfernt und durch eine Statue einer Olive ersetzt. Kawa ist dabei mythologisch mit dem kurdischen Neujahrsfest Newroz, verbunden und steht symbolisch für den Kampf gegen Unterdrückung. In der Stadt werden ebenso Namen von Straßen und Kreisverkehren geändert. Ein Beispiel ist dafür der »Azadî-Kreisverkehr«, der in »Atatürk-Kreisverkehr«, umbenannt wurde. Weiterhin werden gezielt türkische Fahnen ins Stadtbild eingebracht und anstatt der kurdischen Sprache wird nun Türkisch an den Schulen unterrichtet.
Des Weiteren wurden die besetzten Gebiete von der Türkei aufgeteilt und auch verwaltungstechnisch an die in der Türkei liegenden Verwaltungskreise angeschlossen. So sehen wir, dass auch auf offizieller Verwaltungsebene eine Annexion stattfindet.
Die besetzten Gebiete sind, wie ein sich ständig ändernder Flickenteppich, auf die jeweiligen Milizen aufgeteilt. Diese bekämpfen sich zeitweise auch untereinander. Die Gründe für die Auseinandersetzungen sind oft ökonomisch. Es geht um Checkpoints, Olivenfelder oder auch Häuser.
Die Checkpoints, die von den Söldnern betrieben werden, sind eine konstante Einnahmequelle, um von der lokalen Bevölkerung Geld zu erpressen. Auch werden dort Fahrzeuge nach Waren durchsucht, die teilweise oder vollständig beschlagnahmt werden. Besonders in den Erntesaisons ist dies zu beobachten. Jede Miliz erhebt Steuern und bestimmt, wieviel Geld pro Olivenbaum, pro geerntetes Kilo Oliven oder Olivenöl abgegeben werden muss. Müssen Menschen mehrere Gebiete unterschiedlicher Milizen mit ihren Waren passieren, bleibt am Ende nicht viel übrig, um den eigenen Unterhalt zu sichern.
Zudem werden die Olivenpressen zum Herstellen des Öls von den Milizen kontrolliert. So ist die lokale Bevölkerung gezwungen, die Oliven zu erhöhten Preisen weiterzuverarbeiten und einen höheren Anteil abzugeben. Den Olivenölhandel können die Milizen so voll kontrollieren, und es besteht für sie die Möglichkeit des Exports in die Türkei und über sie in andere Länder. Auch beschlagnahmen die Milizen ganze Olivenhaine, ernten sie ab oder fällen die Bäume, um das Holz zu verkaufen. Letzteres ist besonders im Winter häufig zu beobachten, da auch Diesel zum Heizen knapp ist. Die Olivenhaine sind oft sehr alt, sind seit Generationen im Besitz lokaler Familien und – einmal zerstört – nicht zu ersetzen. So wird die Natur und auch die Lebensweise der Bevölkerung zerstört. Wird das Projekt der 30 km-»Sicherheitszone« weiterverfolgt, so ist auch klar, dass ein weiterer Invasionsversuch kommen wird. Eine Verbindung der besetzten Gebiete zwischen dem Gebiet »Schutzschild Euphrat«, und der Straße M4 (von Girê Spî/Tel Abyad bis Serêkaniyê) ist eine mögliche Option. Dazwischen liegt die Stadt Kobanê. Etwas südlich liegt die Stadt Minbic, die schon in den Invasionsplänen im November 2021 als strategisches Ziel von der Türkei ausgemacht wurde. Um Minbic kommt es auch durchgehend, jedoch aktuell wieder in höherer Intensität, zu massiven Artillerieangriffen und Infiltrationsversuchen der jihadistischen Söldner aus den besetzten Gebieten. Eine Invasion in diese Gebiete wäre ein Novum, da die Türkei hier große Städte einnehmen müsste, was sehr hohe Verluste zur Folge hätte. Moderne Kriegsstrategien zur Einnahme von Städten sehen wir aktuell in Gaza. Diese erfordern den massiven Einsatz von Kampfflugzeugen und Bomben, um die Städte vor der Invasion dem Erdboden gleich zu machen. Dies führt zu sehr hohen Zahlen ziviler Opfer. Auch würden sich die Kämpfe in der Stadt über längere Zeit hinziehen.
Dies würde jedoch auch wieder für Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit sorgen, was Erdoğan zwingend vermeiden möchte und in den letzten Jahren mit der Strategie des »Low Intensity Warfare2«, perfektioniert hat. Die Stadt Kobanê hat zusätzlich einen so großen symbolischen Wert für den Widerstand der Kurd:innen, da sie den Wendepunkt im Krieg gegen den IS darstellt, dass die Türkei bis heute vor einem Angriff zurückschreckt.
Ein anderer Bereich zur Erweiterung der 30 km-»Sicherheitszone« ist das Gebiet östlich von Serêkaniyê bis zur Grenze zum Irak. Dieser beinhaltet, neben der größeren Stadt Qamişlo, auch den einzigen Grenzübergang »Sêmalka«, der sowohl der einzige Zugang für Zivilist:innen aus Richtung des Irak ist, über den jedoch auch für die Region notwendige Waren, wie Lebensmittel, die nicht vor Ort produziert werden können, eingeführt werden. Des weiteren befinden sich in diesem Gebiet auch viele Öl- und Gasfelder. Diese ermöglichen aktuell, dass DAANES sich selbst mit Treibstoff für Autos und Heizungen, Gas zum Kochen und auch Strom versorgt. Durch den Handel mit Öl ist es ebenso möglich, Einnahmen zu generieren um die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen so gut wie möglich zu befriedigen. Somit besteht für die Türkei ein doppeltes Interesse an diesen Gebieten: zum einen den Zugang zur Region zu kontrollieren, zum anderen eine der wenigen Einnahmequellen der DAANES abzuschneiden und somit selbst zu kontrollieren. Dies bedeutet somit nicht nur eine Destabilisierungspolitik gegen die DAANES, sondern auch eine auf Kolonialisierung ausgerichtete Politik, um die besetzten Gebiete auszuweiten und mehr Einfluss auf die gesamte Region zu erlangen.
Schon seit Jahren ist die Türkei dabei, Mauern an ihren Außengrenzen in Richtung Nord- und Ostsyrien aber auch zum Iran, zu errichten. Diese werden zum Teil von EU-Geldern finanziert.
Die Mauern sind Ausdruck des schmutzigen Flüchtlingsdeals zwischen der Türkei und den EU Staaten. In den letzten Monaten konnte jedoch erneut beobachtet werden, dass Vorbereitungen für neue Grenzmauern getroffen werden. Dieses Mal in der Nähe der Stadt Serêkaniyê, jedoch 15 km innerhalb der besetzten Gebiete. So werden weiter Fakten für den illegalen Besatzungszustand geschaffen.
Aktuelle Angriffe
In den letzten Jahren waren weitere Invasionen seitens der Türkei nicht möglich, da dafür die Zustimmung von Russland und den USA fehlte. Beide Akteure haben ihre eigenen Interessen in der Region, die oft nicht mit den Plänen der Türkei übereinstimmen.
Damit erfolgte seitens der Türkei ein Wechsel zu einem »Low Intensity Warfare«, bis sich wieder die Möglichkeit einer Invasion ergibt.
Dies zeigt sich durch eine Normalisierung des Kriegszustandes. Nahe den Kontaktlinien zwischen den von der DAANES kontrollierten Gebieten und den durch jihadistische Söldner und der Türkei besetzten Gebieten kommt es fast täglich zu Artilleriebeschuss.
Dies ist eine besondere Form, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und ihr das Leben in diesen Gebieten zu verunmöglichen. Immer wieder gibt es dabei intensivere Phasen, wie aktuell in der Umgebung von Minbic. So wurden an manchen Tagen über 100 Einschläge von Artilleriegeschossen in bewohnten Dörfern gezählt. Dabei sterben regelmäßig Zivilist:innen, darunter oft Kinder und Frauen, oder sie werden zum Teil schwer verletzt. Dies führt dazu, dass die Landbevölkerung unter ständiger Gefahr leben muss und nur schwer der für sie lebenswichtigen Feldarbeit nachgehen kann.
Besonders jetzt im beginnenden Sommer haben die Artillerieangriffe jedoch noch ein weiteres Ziel: das gezielte in Brand setzen der Getreidefelder.
Mit den steigenden Temperaturen herrscht ohnehin eine hohe Brandgefahr. So wird mit den Granaten oder auch nur mit »Flairs« (Leuchtraketen) in kürzester Zeit ein Landstrich in Flammen gesetzt. Die Lebensgrundlage wird so zerstört. Die sowieso durch das Embargo angespannte Versorgungslage wird somit noch prekärer. Durch Ausfälle von Ernten kann im schlimmsten Fall die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln wie Brot nicht mehr sichergestellt werden, was zu Hunger in der Bevölkerung führen wird. Hunger wird somit Teil einer Kriegsstrategie, die auf Belagerung und Besatzung ausgelegt ist.
Das Anzünden der Felder wurde schon vor mehreren Jahren von IS-Schläferzellen in der Region praktiziert. Die sowieso vorhandene Wasserknappheit und ein Mangel an Material zum Löschen von Flächenbränden erschweren die Lage noch zusätzlich.
Wassersituation und weitere Entwicklungen
Das Wasserembargo der Türkei gegen die Region Nord- und Ostsyrien ist ebenso eine ernste Bedrohung. Besonders im Sommer zeigt dies seine volle Wirkung.
Die türkische Staudammpolitik lässt die Region gezielt austrocknen. Dies führt neben Problemen für die Landwirtschaft auch zu gesundheitlichen Problemen, da sich Krankheiten schneller ausbreiten.
In den letzten Jahren kam es zum Beispiel zu einem Choleraausbruch. Aktuell werden steigende Zahlen von Leishmaniose, die zu Geschwüren auf der Haut führt, gemeldet. Eine Behandlung ist möglich. Jedoch werden durch die Embargos auch die medizinischen Möglichkeiten deutlich geringer, und es fehlt an Medikamenten.
Ein neuer Faktor für dieses Jahr war das Ausmaß der Angriffe seitens der Türkei auf die zivile Infrastruktur, die die Strom- und Wasserversorgung zusammenbrechen ließen.
Diese konnten nicht in vollem Maße wiederhergestellt werden. Der Strom wird fast überall für das Betreiben von Pumpen für Trinkwasser benötigt. Da aufgrund der langsamen Austrocknung der Region auch der Grundwasserspiegel immer weiter sinkt, werden immer tiefere Brunnen benötigt. Mit einer Verschärfung der Wassersituation ist also in den kommenden Monaten zu rechnen. Die Türkei benutzt Wasser als Waffe gegen die Bevölkerung.
Die Flüsse Euphrat und Tigris, die Hauptwasserquellen der Region, verlaufen jedoch auch noch durch den Irak und führen auch dort zu schweren Problemen für Mensch und Umwelt.
Kürzlich abgehaltene Treffen zwischen der Türkei und dem Irak hatten dies zum Thema.
Ergebnis dessen war ein Deal: Die Türkei hat zugesagt, für den Irak mehr Wasser durch ihre Staudämme zu lassen, das somit vor Erreichen des Irak die Gebiete der DAANES passieren muss, und so könnte sich die Situation vielleicht verbessern.
Im Gegenzug listete der Irak die PKK als »unerwünschte« Organisation und sagte Unterstützung bei deren Bekämpfung im Norden des Irak zu. So nutzt die Türkei das Wasser ebenfalls als Druckmittel um ihre antikurdische Politik in den Nachbarstaaten umzusetzen. Sie muss sich lediglich entscheiden, worauf sie ihren Fokus legt: Bekämpfung der PKK in den Bergen Südkurdistans (Nordirak) oder der Zivilbevölkerung in Nord- und Ostsyrien den Wasserhahn weiter zudrehen.
Ebenso lässt sich über die militärischen Aktionen beobachten, dass meist die Intensität für eine gewisse Zeit auf eines der Gebiete gerichtet ist. Zwar ist die türkische Armee die zweitgrößte innerhalb der NATO, doch strebt sie danach, ihre Position noch weiter auszubauen, um die materiellen Einschränkungen zu beseitigen. Zu Beginn des Jahres wurden von der US-Regierung der Verkauf von 40 weiteren F16-Kampfjets an die Türkei bewilligt. Es ist vorhersehbar, dass die Türkei wieder gegen die Zivilbevölkerung Nord- und Ostsyriens vorgehen wird – sei es indem sie eine neue Invasion und somit eine weitere Besatzung vorbereitet, sei es, dass sie im Rahmen des »Low Intensity Warfare« weitere Kriegsverbrechen begeht und zivile Infrastruktur zerstört.
Fußnoten
1 Demokratische Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien
2 »Krieg niedriger Intensität«. Kriegführung… »unterhalb der Schwelle konventioneller [zwischenstaatlicher] Kriege, [aber bereits] oberhalb des üblichen [Levels] friedlichen Wettbewerbs.… « (United States Army Field Manual 100-20 der United States Army)
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024