Eine Revolution als Prozess
Über 30 Jahre vorbereitet
Ferda Çetin, Journalist
Auf die gesellschaftlichen Veränderungen in Rojava treffen die wichtigsten Merkmale einer Revolution zu, es gibt aber auch Unterschiede zu früheren Revolutionen. Eine wesentliche Eigenschaft der Revolution in Rojava und ganz Nord- und Ostsyrien ist ihre Prozesshaftigkeit.
In der 1912 in Frankreich erschienenen sozialistischen Enzyklopädie heißt es: »Die Revolution ist ein radikaler oder grundlegender Wandel, sie bedeutet einen Wechsel des Regimes, der Führung, der Herrschaftsform. Die Revolution ist ein Akt menschlicher und sozialer Emanzipation. […] Die Revolution ist die Zerstörung des Fundaments einer politischen und sozialen Ordnung, die an ihr Ende gelangt ist. […] Die Revolution ist ein vollständiger Umbau, eine totale Veränderung. Sie zerstört und baut auf.«1
Cemil Meric formuliert die Definition der Revolution als die Integration der Gesellschaft: »Die Revolution ist eine radikale und grundlegende Umstellung. Sie ist eine Veränderung der Ordnung, eine Veränderung der Verwaltung sowie eine Veränderung des Geistes. Sie ist eine Bewegung menschlicher und sozialer Befreiung.«2
Was in der Enzyklopädie steht, wird heute in Nord- und Ostsyrien – häufig Rojava genannt – Realität und Wahrheit. Ein neues Leben und eine neue Ordnung werden mit einer Veränderung des Geistes und der Mentalität geschaffen.
Zurück zur Gemeinschaft
Das französische Wort »Revolution« hat die gleiche Wurzel wie das lateinische Verb »rovelvere«, das »zurückführen« bedeutet. Rojava erlebt eine »Rückführung« im wahrsten Sinne des Wortes, und zwar eine Rückführung zur ursprünglichen, zur natürlichen Gesellschaft. Ein Blick in die Geschichte genügt: vor dem 24. Juli 19233, lebten Araber:innen, Kurd:innen, Assyrer:innen und Armenier:innen in Syrien Seite an Seite als Gemeinschaft. Und bevor die hegemonialen Machthabenden sich einmischten, galt der Nahe Osten als Beispiel dafür, dass Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit – hier Muslim:innen, Alevit:innen, Jüd:innen, Christ:innen und Ezid:innen – in Eintracht miteinander leben können. Die Revolution in Rojava erinnert uns an diese Realität: dass das gesellschaftliche Leben und die Soziologie nicht so sind, wie man versucht uns weiszumachen. Die Menschen sind keine hungrigen Wölfe, die jeden Moment darauf warten, sich gegenseitig abzuschlachten. Es sind die Herrschenden, die die Gesellschaft spalten und die Menschen gegeneinander aufbringen, um sie in einen endlosen Krieg zu treiben, der nie endet und in dem kein Sieg möglich ist. Und am Ende verlieren die Schwächsten und werden ihrem Schicksal überlassen.
Die Revolution in Rojava zeigt uns, dass sich die Gesellschaft dieses großen Betruges und Spieles bewusst ist. Die Menschen dort akzeptieren weder eine vorgegebene Demokratie, die aus dem Ausland importiert wird und dann kollabiert, noch die despotische Statuslosigkeit, die den Völkern seit hundert Jahren keine Luft zum Atmen lässt. Die Menschen in Nord- und Ostsyrien wählen nicht das geringere Übel. Sie gehen den »Dritten Weg« und lassen sich nicht durch billige Ansätze und opportunistisches Kalkül dazu verleiten, sich auf die Seite der Starken zu schlagen. Als hartnäckige und entschlossene Opposition gegen die imperiale Belagerung und ihre lokalen Kollaborateure antworten sie: »Ich werde meinen eigenen Weg wählen, ich werde Herr meines eigenen Schicksals sein.«
Gegner der Revolution
Bisweilen wurde die Revolution in Rojava als eine gegen die dschihadistischen IS- und Al-Qaida-Banden gerichtete dargestellt, jedoch richtet sie sich im Kern gegen die kapitalistische Moderne, die als »Globalisierung« bezeichnet wird. Die stillschweigende Übereinkunft zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland über den Status der Region ist gegen Rojava gerichtet und resultiert nicht aus einer zufällig gleichen politischen Präferenz, sondern ist das Ergebnis ihrer ideologischen und systemischen Gemeinsamkeiten. Die Türkei, Saudi-Arabien, Katar, IS und Al-Qaida, die USA und die EU sind Teil desselben Systems, auch wenn es Widersprüche und Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gibt. Uneinigkeit besteht darüber, wer die Macht haben und wie sie aufgeteilt werden wird. Es gibt jedoch keine Unterschiede strategischer oder grundsätzlicher Art.
Die Tatsache, dass die Alternative, die Rojava darstellt und die Prinzipien, die Rojava verfolgt, die Einführung eines gänzlich anderen Systems bedeuten, vereint all diese Kräfte gegen die Revolution. Die Angriffe auf Rojava, die Belagerung durch die Türkei, die Schließung der Grenzübergänge nach Südkurdistan/Nordirak durch die PDK4, das Wirtschaftsembargo, und die Unmengen an Munition, die über die Türkei aus Deutschland, England, Frankreich und den Niederlanden zu den dschihadistischen Banden in Nordsyrien gelangten, zeigen auch, mit welcher Art von Allianz die Revolution konfrontiert ist. Dort herrscht nicht nur ein Krieg der angreifenden Türkei und dschihadistischen Gruppen gegen die Bevölkerung; es ist ein umfassenderer und noch gewalttätigerer Krieg, ein systemischer Krieg gegen die Revolution, der Krieg der kapitalistischen Moderne gegen die demokratische Moderne.
Befreiung und Aufbau
Einmal, als der Grenzübergang von Sêmalka zwischen Südkurdistan und Rojava von der PDK geschlossen wurde, sagte eine Bäuerin aus Efrîn in die Kameras: »Sie werden uns nicht lehren können zu hungern, wir werden Dreck essen, aber wir werden unser Land nicht verlassen«. Denn die Freiheit, für die die Unterdrückten kämpfen, ist nicht nur die Freiheit, nicht zu verhungern. Es ist die Freiheit, »zu schaffen und zu bauen, zu staunen und zu wagen. Eine solche Freiheit verlangt, dass das Individuum aktiv und verantwortlich ist, kein Sklave und kein geöltes Rädchen in der Maschine.«5
Die Zusammensetzung der Rätestrukturen, die in allen Gebieten gebildet wurden, in denen die Rojava-Revolution stattfindet, vereint die Gesellschaft wieder, die von der kapitalistischen Moderne geteilt und gespalten worden war. Die Gesellschaft kehrt auf dem Weg der Wahrheit und der Natur zu ihrem Wesen zurück. Das Beharren auf einer arabischen, armenischen und assyrischen Vertretung in den Orten, in denen die Kurd:innen die zahlenmäßige Mehrheit bilden, und die Vertretung des alevitischen, christlichen und ezidischen Glaubens neben der muslimischen Mehrheit ist eine vielversprechende Entwicklung für alle Völker im Nahen Osten. Darin kommt auch die Entschlossenheit zum Ausdruck, die grundlegenden Probleme im Prozess des Aufbaus zu lösen und nicht auf die Zeit nach der Revolution zu verschieben.
Die Revolution von Rojava ist keine wie ihre Vorgängerinnen, die mit einem Funken oder einer Explosion begannen. Sie realisiert sich, indem die Gesellschaft als Ganzes eine neue Kultur und Moral entwickelt und sich verändert. Sie ist eine schrittweise, selbstbewusste Revolution. Sie basiert nicht auf Unterwerfung und Eroberung wie es bei ihren Vorgängerinnen der Fall war. Sie wird durch den Prozess des (Wieder-)Aufbaus gekennzeichnet. Die Revolution von Rojava ist eine Revolution, die seit fast vierzig Jahren vorbereitet wurde. Daher dringt sie mit einem zuversichtlichen, gemäßigten und kontrollierten Tempo ins Leben ein.
Die Anfänge der Revolution
Wie kam es zu dieser Revolution, wenn nicht durch eine plötzliche Explosion? »Seit Anfang 1979 versuchte ich, zwei Maßnahmen zu ergreifen. Einerseits bereitete ich einen langfristigen Kampf auf dem Lande vor, andererseits wollte ich ins Ausland gehen und der Bewegung eine zweite Tür öffnen. Dadurch wäre die Kontinuität der Bewegung gesichert. Taktische Schritte, die den jeweils aktuellen Bedingungen entsprechen, sind ebenso wichtig wie die Entwicklung einer Strategie [...] Mitte 1979 sagte ich Ethem Akcan aus Suruç, er solle den Grenzübertritt vorbereiten [...] Einige Tage später meldete Ethem, dass die Bedingungen für die Ausreise gegeben seien [...] Das waren Tage, in denen uns allein die Bedeutung des Ziels aufrecht hielt. Ohne Ethems Aufopferung wären meine Bemühungen umsonst gewesen. Nur wer solche Erfahrungen gemacht hat, kann wirklich wissen, wie wichtig es ist, sich für eine neue Sozialität zu organisieren und zusammenzuarbeiten […]«6
Die Grundlagen der Revolution von Rojava begannen mit der in diesem Text erwähnten Reise, die laut Abdullah Öcalan am 2. Juli 1979 stattfand. An diesem Tag überquerte Öcalan die Stacheldrahtzäune nach Rojava. Er verbrachte zwanzig Jahre seines Lebens mit den Menschen in Rojava und hat sich intensiv mit ihnen auseinandergesetzt. Bei besonderen Anlässen, Festen und Bildungstreffen sprach er mit den Menschen in Rojava über Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit. Selbst auf der Insel İmralı, wo er in Isolation lebt, beobachtete er Syrien und Rojava und machte Vorschläge, solange ihm die Möglichkeit der Kommunikation noch gegeben war.
»Schon kurz nach seiner Verhaftung sah Öcalan voraus, dass einige Jahre später die Regime im Nahen Osten und in Syrien zusammenbrechen, Diktaturen stürzen und es zu großen Unruhen kommen würde […] 2003 schlug er vor, die PYD7 zu gründen. Nach dem Aufstand von Qamişlo 2004 schlug er außerdem die Gründung einer geheimen Miliz vor. Im Laufe der Jahre wurden diese Strukturen organisiert und gestärkt. Im Jahr 2012 fand schließlich die stille Revolution von Rojava statt«.8
Gesellschaft im Wieder-Aufbau
Die Revolution von Rojava ist also weder ein Zufall noch das Ergebnis einer spontanen Bewegung, die ihre Chance ergreift, wie die Definition einer Revolution teils lautet. Mit der Revolution in Rojava zeigt sich die Fähigkeit der Gesellschaft, aufzubauen, zu schaffen und neu zu entdecken. Anstelle eines Lebens, das sich um das einzelne Individuum und seine Sorgen dreht, entwickeln sich soziale Solidarität und Selbstvertrauen.
1984 erklärte Margaret Thatcher, eine der prominentesten Vertreterinnen des Liberalismus: »Es gibt keine Gesellschaft, es gibt Individuen und Familien«, und ihre Geisteshaltung ist mit der Rojava-Revolution erfolgreich widerlegt worden. Anstelle von persönlichen Zielen und Bestrebungen wurde das System der sozialen Werte wiederbelebt.
Viele Institutionen, die dysfunktional und schwerfällig waren und statt der Gesellschaft zu dienen, eine Position über und gegen die Gesellschaft eingenommen hatten, wurden abgeschafft. Im Zuge des Wieder-Aufbaus der Revolution kehren die Institutionen zu ihren ursprünglichen Zwecken in die Hände der Gesellschaft zurück. Die vom Regime monopolisierten Institutionen wurden von Einrichtungen, die den Interessen der Regierung dienten, in integrative soziale Einrichtungen umgewandelt. Versammlungen, Krankenhäuser, Schulen, Gemeinden, Kulturhäuser, Heyva Sor, Asayîş, YPG, YPJ9 werden als integrative Kollektive Teil des gesellschaftlichen Lebens. Es werden Volksgerichte eingerichtet. Anstelle eines Rechtsverständnisses, das auf Angst und Strafe beruht, entwickelt sich ein Ansatz, der auf Moral und Gewissen basiert.
Heute ist die Revolution in Rojava ein Ort großer Feierlichkeiten. Es gibt nicht mehr nur den Kampf an der Front, in Stellungen und Dorfverteidigungen wie zu Beginn. Es wird auch ein Leben aufgebaut. In Schulen werden Kinder und Jugendliche unterrichtet. Dutzende von Krankenhäusern sorgen für eine medizinische Versorgung unter schwierigsten Bedingungen. Es werden Brunnen gegraben, Straßen gebaut, Stromleitungen repariert, Städte und Dörfer instandgesetzt. Männer und Frauen im Alter werden an den Waffen ausgebildet, beziehen Stellung und verteidigen ihre Dörfer und Städte.
Die Revolution, ein demokratischer Prozess ...
Die Menschen in Nord- und Ostsyrien schaffen mit dieser Revolution, diesem Prozess des Aufbaus Neues, es entsteht ein Reichtum an Erfindungen. Und die Versammlungen in Rojava zeigen auch die Entschlossenheit der Gesellschaft, eine echte Demokratie zu werden.
Diese Entschlossenheit trägt auch die Spuren eines umfassenden Krieges zwischen den Systemen. Die Politik der liberalen Demokratie, die sich in die Kunst verwandelt hat, die Menschen nicht in die Probleme einzubeziehen, die sie am meisten betreffen, wird in Rojava umgekehrt.
Denn: »In einer starken Demokratie wird Politik nicht für die Bürger gemacht, sondern durch sie. Aktivismus ist ihre größte Tugend, und Interesse, Engagement, Verpflichtung und Dienst - gemeinsame Überlegung, gemeinsame Entscheidung und gemeinsame Arbeit sind ihre charakteristischen Merkmale.«10
Die von den imperialistischen Staaten desorganisierte Gesellschaft des Nahen Ostens schöpft mit der Rojava-Revolution wieder Hoffnung; gemeinschaftliches Leben und Teilhabe werden wieder zu einer realen Option. Die Idee der Solidarität statt des Konflikts, der Zusammenarbeit statt des Wettbewerbs entfaltet sich.
Goethe schrieb einmal die Gedichtzeile: »Amboss oder Hammer sein«. Und wer ist das Eisen dazwischen, in wessen Hand liegt der Hammer? Auf diese Fragen gab es keine Antwort.
Die Kurd:innen, die die Revolution in Rojava initiierten, wollten weder der Amboss noch der Hammer noch das Eisen dazwischen sein. Sie wollten sie selbst sein, in ihrem eigenen Land. Die Revolution von Rojava ist wirklich eine Volksrevolution. Diese Revolution wird von den Bäuer:innen, den Armen, den Frauen und der Jugend angeführt.
Ein gemeinsames Merkmal der Russischen, der Französischen, der Kubanischen und vieler anderer Revolutionen war, dass ihr Ziel zunächst eine Eroberung war. Zuerst wollten sie die Macht und die Verwaltung an sich reißen, dann das Eigentum. Die Strategie, die Organisation und der Kampf der Revolution waren bereits auf dieses Ziel ausgerichtet. Die grundlegenden Probleme wie die Mitsprache, Entscheidung und Initiative des Volkes, die Rechte der Minderheiten, die Gleichheit und Freiheit der Frauen, die Überwindung des bürokratischen Verwaltungsstils usw. wurden immer auf »später« verschoben, sprich: auf die Zeit nach der Revolution.
Die Revolution von Rojava wurde von Anfang an für ein neues Leben, für den Wieder-Aufbau der Gesellschaft gemacht. Eine Gesellschaft mit Hacken und Schaufeln, Kellen und Hämmern in der Hand steht wieder auf der Bühne der Geschichte. In Rojava ist die Selbstverwaltung des Volkes die Garantie für die Revolution.
Die Selbstverwaltung wiederum »wird durch Institutionen verwirklicht, die geschaffen wurden, um die kontinuierliche Beteiligung der Bürger:innen an der Festlegung der Tagesordnung, an Debatten, an der Gesetzgebung und an politischen Entscheidungsprozessen zu erleichtern. Die entscheidenden Begriffe dieses kraftvollen Ausdrucks von Demokratie sind Handlungsfähigkeit, Prozess, die Schaffung eigener Gesetze, Kreation und Transformation«.11
… der nie enden darf.
Aber wenn sie nicht durch einen plötzlichen Funken oder Blitz entfacht wurde, wie haben die Menschen diese Revolution spontan angenommen und sich zu eigen gemacht?
Kein Ereignis und keine Entwicklung im Leben ist ein Zufall. Die Rojava-Revolution hatte bereits mit der historischen »Auswanderung« am 2. Juli 1979 begonnen.
Die Revolution von Rojava hat die ersten Schritte erfolgreich getan, aber sie hat noch einen langen Weg vor sich. Auf diesem Weg ist noch nicht alles garantiert. Denn die Herrschenden haben noch vieles vor. Sie sind geschickt darin, sich das zu nehmen, was sie an der Front verloren haben, die Prinzipien der Revolution zu verwässern, indem sie ihr Wesen entleeren, oder durch Wirtschaftsembargos Krisen zu schaffen. Es ist kein Geheimnis, dass sich die Türkei, die USA, Großbritannien und Frankreich schon früh bei Gesprächen in Genf auf eine Politik der Einhegung und Beschränkung der Revolution von Rojava geeinigt haben. Die Regierung von Südkurdistan ist die sichtbare Fortsetzung dieser Politik.
Jürgen Habermas stellt fest, dass die Demokratie kein abgeschlossenes Projekt ist, sie kann auch nicht abgeschlossen werden und bedarf einer ständigen Überarbeitung. Da die Rojava-Revolution ein Streben nach echter Demokratie bedeutet, darf sie nie selbstgefällig werden und nie enden.
Fußnoten
1 Zitiert in Cemil Meriç, Mağaradakiler. İletişim Yayınları 2004, S. 119
2 ebd. S.156
3 An diesem Tag wurde der Vertrag von Lausanne abgeschlossen, der u.a. zum Ergebnis hatte, dass Kurdistan fortan auf vier Nationalstaaten aufgeteilt sein sollte.
4 PDK - Partiya Demokrata Kurdistanê, Demokratische Partei Kurdistans, auf Deutsch häufig KDP abgekürzt
5 vgl. Erich Fromm zit. nach Paulo Freire, Ezilenlerin Pedagojisi. Ayrıntı Yayınları 2003, S. 46. Dt. Ausgabe: P. Freire, Pädagogik der Unterdrückten. Reinbek 1984, S. 53 f.
6 A. Öcalan, Kürt Sorunu ve Demokratik Ulus Çözümü. Mezopotamya Yayınları 2012, S. 288 [Die kurdische Frage und die Lösung der demokratischen Nation. (= Manifest der demokratischen Zivilisation, Band V); noch nicht auf Deutsch erschienen]
7 PYD - Partiya Yekîtiya Demokratîk - Partei der Demokratischen Einheit
8 http://rojavabilgi.blogspot.com/2013/09/rojavaye-kurdistan-hakknda-cig.html
9 Heyva Sor: Kurdischer Roter Halbmond; Asayîş: Sciherheitskräfte; YPG: Volksverteidigungseinheiten; YPJ: Frauenverteidigungseinheiten
10 Benjamin Barber, Güçlü Demokrasi. Ayrıntı Yayınları 1995, S. 177
11 ebd. S. 196
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Die Beziehung zwischen der Nahost-Ordnung seit 1923 und der Kolonisierung Kurdistans
Über Kurd:innen und die Republik Türkei
Çağrı Kurt
Wäre es möglich, mit einer Zeitmaschine durch die Zeit zu reisen, um einen beliebigen Zeitpunkt in der Vergangenheit zu ändern, würden Kurd:innen wahrscheinlich zu den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg reisen. In allen Büchern über die Geschichte Kurdistans, die diesen Zeitraum als Wendepunkt behandeln, wird häufig der Satz gesagt: »Kurdistan wurde aufgrund der nach dem Ersten Weltkrieg getroffenen Vereinbarungen in vier Teile geteilt.«1 Diese Teilung hat jedoch dazu geführt, dass eine Situation entstanden ist, die weit über den Inhalt internationaler Abkommen hinausgeht. Denn die Menschen, die in Kurdistan leben, waren noch nie so weit davon entfernt, ihr eigenes Land zu regieren und ihre eigene Kultur zu bewahren, wie im letzten Jahrhundert.
Durch diese Feststellung soll hervorgehoben werden, dass die Gesellschaft Kurdistans als Ganzes in den Zeiten vor dem 20. Jahrhundert durchaus glückliche Zeiten erlebt hat. Die Abkommen nach dem Ersten Weltkrieg führten jedoch zu einer beispiellosen Verschlechterung, insbesondere in Bezug auf die soziale Struktur und die geografische Integrität, in der Geschichte Kurdistans. Die alleinige Existenz als kurdischer Mensch lässt sich seither als eine Form des Kampfes beschreiben. Ein Kampf gegen verschiedene koloniale Verwaltungen, ganz zu schweigen von den Feudalherren, Provinzen, Koranschulen und institutionalisierten kurdischen Einheiten des vorigen Jahrhunderts. Das vergangene Jahrhundert seit dem Ersten Weltkrieg trägt in sich die Summe der Momente, die dazu geführt haben, dass die beiden Grundpfeiler einer Nation, nämlich Land und Identität, in der Wahrnehmungswelt von durchschnittlichen Kurd:innen auf den Kopf gestellt wurden.
Die Beziehung zwischen den nationalstaatlichen Praktiken der Nahost-Ordnung, die aus dem Ersten Weltkrieg hervorging und der Kolonisierung Kurdistans soll hier genauer betrachtet werden. Die Folgen des Scheiterns jeglichen Widerstands, um die kollektiven Rechte des kurdischen Volkes gegen die imperialen Nachkriegs-Reststaaten (Iran-Türkei-Irak-Syrien) zu verteidigen, waren gravierend: Unter dem persischen Kolonialismus im Osten, dem arabischen Kolonialismus im Westen und Süden und dem türkischen Kolonialismus im Norden4 wurde das kurdische Volk verschiedenen physischen und kulturellen Völkermordmaßnahmen in unterschiedlicher Intensität ausgesetzt. Während das Territorium Kurdistans durch internationale Konflikte und Siedlungsdynamiken unsichtbar gemacht wurde, wurde die Verleugnung der kurdischen Identität durch nationalstaatliche Strukturen realisiert, die durch eine einzigartige historisch-gesellschaftlich-kulturelle Geschichtserzählung geprägt waren.
Nach Gründung der türkischen Republik trat diese, mit ihrem Erbe der Staatstraditionen des Osmanischen Reiches, schneller als andere Länder in den Prozess der Nationalstaatsbildung ein, was weitreichende Folgen für die politische Dynamik und Projektionen auf Kurdistan hatte, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Wie lassen sich also die Kurd:innen und die Republik im historischen Rahmen des letzten Jahrhunderts zueinander in Beziehung setzen?
Allgemeine Grundlagen
In seinem 1941 veröffentlichten Buch »Der Doppelstaat« hat Ernst Fraenkel das Deutschland der Hitlerzeit auf staatlicher Ebene »durchleuchtet« und grob argumentiert, dass Deutschland nicht von einem absoluten Zentralstaat, sondern von einer dualen Staatsstruktur regiert wurde. Er definiert eine dieser beiden Strukturen als Normenstaat und die andere als Maßnahmenstaat. Der Maßnahmenstaat wird als variable Struktur definiert, die keiner rechtlichen Beschränkung unterliegt, von ungezügelter Willkür, Gewalt und einer Politik der Straflosigkeit bestimmt wird und auf die Kontrolle und Neutralisierung des anderen abzielt. Der Normstaat hingegen stellt eine berechenbare Rechtsordnung dar, um das kapitalistische Wirtschaftssystem funktionsfähig zu machen und die öffentliche Ordnung, die Eigentumsrechte und die allgemeinen Interessen zu schützen.
Betrachtet man den von Fraenkel vorgestellten Rahmen, so war es seit ihrer Gründung der Republik Türkei möglich, durch die Unterscheidung zwischen der Türkei und Nordkurdistan duale Geographie, duales Rechtssystem, und duale Staatsverwaltung als Kategorien von Herrschaft durchzusetzen. Es ist anzumerken, dass diese doppelte Praxis in der Republik, anders als in Deutschland, nicht nur mit einem Fokus auf Individuen oder Gemeinschaften, sondern auch auf einer territorialen Basis formuliert wurde. Es sei darauf hingewiesen, dass diese Form der Herrschaft mit ihren spezifischen Komplikationen ein Kolonialismus türkischer Prägung ist. Bemerkenswert ist, dass diese Art Herrschaftssystem sich in allen Gesellschaftsbereichen auf eine Art und Weise festgesetzt hat, dass es auch bei wechselnden Regierungen bestehen bleibt. Der spekulativste Grund dafür ist der folgende: Es gibt eine Art Schattenstaat in der Türkei, es gibt einen Staatsgeist und eine verdeckte Struktur, die diesen Geist begleitet. Solange die Bindungen zwischen der Staatsräson und dem tiefen Staat nicht gelöst werden, wird sich die duale Staatsverwaltung der Republik nicht ändern.2
Die »grenzenlosen Gewaltpraktiken« des türkischen Staats unmittelbar nach der Ausrufung der Republik, die sich gegen alle kurdische Bewegungen richteten, die sich zwischen 1925 und 1938 gegen das Projekt der Nationalstaatsbildung formierten, sind der Ausgangspunkt einer lebendigen Erinnerung, die die Beziehung zwischen Kurd:innen und der türkischen Republik bis heute prägen. Die Praktiken grenzenloser Gewalt, die zum Massaker an mehr als fünfzigtausend Menschen, zur Verbrennung von Zehntausenden von Häusern, zur Zerstörung von Hunderten von Dörfern und zur Vertreibung oder Zwangsmigration unzähliger Menschen führten, entsprechen den militärischen Besatzungsversuchen, die ein Staat unternimmt, um sich durch Krieg ein Stück Land anzueignen, das ihm nicht gehört. Diese Jahre, an die sich die kurdische Gemeinschaft mit einem Fluch erinnert, werden im Rahmen einer heiligen Geschichtserzählung behandelt, in der Kriegsverbrechen, die einem Völkermord gleichkommen, der türkischen Republik zugeschrieben werden.3
Während die kurdische Identität politisch verleugnet wurde, waren die Kurd:innen unverzichtbare Werkzeuge für den Aufbau eines Nationalstaates, indem sie dessen kulturellem4 und demografischem5 »Dasein« als Rohmaterial dienen sollten. Die Tatsache, dass das kurdische Volk trotz einer umfassenden Politik des physischen und kulturellen Völkermords seine kurdischen Gebiete nicht aufgab und dieses Beharren im Laufe der Zeit in einen grenzüberschreitenden organisierten Kampf umwandelte, führte dazu, dass die klassische Formation des türkischen Kolonialismus eine Transformation erfuhr. Die immer komplexer werdende Kurdistanfrage wird auf lokaler, regionaler und globaler Ebene zunehmend sichtbarer. Grund dafür ist, neben der Störung des Nationalstaatsbildungsprozesses der Republik Türkei, genau diese, sich fortlaufend entwickelnde Struktur des kurdischen Freiheitskampfes.
Es ist daher klar, dass der koloniale Ansatz, den die Republik Türkei seit 2015 auf der Nord-West-Süd-Achse Kurdistans verfolgt, auf einen historischen Unterschied in Bezug auf die geopolitische Vorstellungskraft und das räumliche Verständnis hinweist.6 Die Tatsache, dass der räumliche und geopolitische Charakter des türkischen Kolonialismus sichtbarer ist, hängt damit zusammen, dass die kurdische Gesellschaft als Ganzes zwar nicht das gewünschte Nationalbewusstsein erlangt hat, dass aber die otherisierenden7 Haltungen des klassischen Kolonialismus oder die Haltungen, die die Existenz von Identität leugnen, in der kurdischen Gesellschaft nicht überleben können. Es entsteht jedoch der Eindruck, dass die aktuelle Version des türkischen Kolonialismus nicht die Perspektive hat, den Raum in Kurdistan zu transformieren und neu zu organisieren. Er scheint vielmehr darauf ausgelegt zu sein, einen riesigen Scherbenhaufen zu hinterlassen, der für immer zerstört bleiben soll. Die Modellrepublik 2023 ist keine Einladung an das kurdische Volk für ein »gutes Leben«. Anstatt Krieg und Frieden in Kurdistan besondere Bedeutung beizumessen, besteht das Hauptziel der Republik darin, Kurdistan durch diese Phänomene militärisch beherrschbar und psychologisch manipulierbar zu halten.
Auswertung
Im vergangenen Jahrhundert haben die militärisch-politisch-bürokratischen Eliten der Republik Türkei durch den ideologischen Apparat, den sie als Mittel zur Legitimierung der Verweigerung des Kurdischen einsetzten, eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Kurden-/Kurdistanfrage gespielt. Daher ist die Kurden-/Kurdistanfrage auch ein Problem der Zeit im weiteren Sinne.
Von den Eliten der Staatsgründung wurde Zeit als eine doppelte Strategie konstruiert und umgesetzt. Die erste war die Zeit, die für die Vollendung des künstlich konstruierten Prozesses der Nationenbildung benötigt wurde. Die zweite war die Zeit, die für die Auflösung und Assimilierung der Bevölkerung benötigt wurde, die sich weigerte, in die neuen nationalen Definitionen und Grenzen einbezogen zu werden. Die staatlichen Institutionen kalkulierten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, dass diese »Restbevölkerung«, die sie in der Dichotomie von Assimilation und Eliminierung bewerteten, erschöpft, verbraucht und ihre Identität vergessen sein würde, so dass sich auf diese Weise die Zahl der Individuen erhöhen würden, die die neue Nation benötigt. Teilweise (vor allem in Bezug auf andere Gruppen als die Kurd:innen) haben sie erreicht, was sie wollten. Es ist evident, dass diese jahrhundertealte Strategie insgesamt angesichts der anhaltenden Präsenz der Kurd:innen nicht erfolgreich war, aber dennoch hält die Republik Türkei an dieser zersetzenden Zeitstrategie in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft als bewusste staatliche Politik fest. Die Reaktion der kurdischen Bevölkerung, die das von den staatlichen Institutionen mit Hilfe des Zwangsapparates aufgezwungene »ethnische Asyl« zum Türkentum ablehnt, war meist Widerstand.8
1 Denise Natali, Kürtler ve Devlet, Avesta Yayınları, 2009.
2 Ayhan Işık, Devlet Aklı + Derin Millet Simbiyozu, 1+1 Express, 2023. Link: https://birartibir.org/devlet-akli-derin-millet-simbiyozu/
3 Tarık Zafer Tunaya. Türkiye’de Siyasi Partiler: 1859-1952. Doğan Kardeş Yayınları. 1952. S. 614
4 Abdullah Öcalan, Kürdistan Devriminin Yolu (Manifesto), Weşanên Serxwebûn, 24, 1993.
5 Hamit Bozarslan, Kendi Geleceklerini Kürtler Tahayyül Etmeli, Duvar Gazetesi, 2019. Link: https://www.gazeteduvar.com.tr/gundem/2019/11/04/hamit-bozarslan-kendi-geleceklerini-kurtler-tahayyul-etmeli
6 Renas Cudi, Kürdistan–Türkiye İlişkilerine Yönelik Eleştirel Bir Okuma, Yeni Özgür Politika, 2021. Link: https://www.ozgurpolitika.com/haberi-kurdistan-turkiye-iliskilerine-yonelik-elestirel-bir-okuma-156972
7 Der Begriff Othering (engl. other = »andersartig« – Andersmachung) beschreibt im Kontext der postkolonialen Theorie die Distanzierung und Differenzierung zu anderen Gruppen, um seine eigene »Normalität« zu bestätigen.
8 Ayhan Işık A, Gülay Kılıçarslan, Behzat Hiroğlu, Kübra Sağır, Çağrı Kurt. Kürtler ve Cumhuriyet. Dipnot Yayınları. Ankara. 2024.
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Allein und ohne Fremdfinanzierungen werden wir diese enormen Herausforderungen nicht meistern können.
Die Unterversorgung der Bevölkerung wird die Sicherheitslage verschärfen
Wir sprechen mit der Projektkoordinatorin von Heyva Sor a Kurd, dem Kurdischen Roten Halbmond in Nord- und Ostsyrien, über die medizinische Versorgung in der Region.
Welche Aufgaben bei der medizinischen Versorgung in der DAANES übernimmt Heyva Sor a Kurd? Welche Schwerpunkte setzen sie in ihrer Arbeit?
Der Kurdische Rote Halbmond hat zwei Schwerpunkte:
1) Den Aufbau der medizinischen Grundversorgung
Wir bieten in mehreren Städten und Dörfern eine medizinische Grundversorgung an. Grundsätzlich sind diese Kliniken immer gleich aufgebaut: Pädiatrie, Gynäkologie und Inneres. Zusätzlich gibt es kleine Labore und Apotheken für die Medikamentenausgabe (nur mit Verschreibung unserer Ärzt:innen). In diesen Kliniken sind in der Regel auch Community Health Worker tätig, welche vor der Corona Pandemie auch Hausbesuche gemacht haben. Hauptsächlich bieten sie aber allgemeine medizinische Gesundheitsaufklärung an und assistieren den Ärzt:innen und den Patient:innen. Zudem gibt es in den meisten Fällen psycho-soziale Beratungen und Gesprächsangebote von Psycholog:innen. Angeschlossen an die Klinik ist zudem auch immer eine 24/7 Notfallambulanz mit mindestens einem ständig zur Verfügung stehenden Krankenwagen.
In kleineren Orten haben wir entweder sogenannte Health Posts (Gesundheitsstationen) mit Hebammen und einem Ärzt / einer Ärztin oder mobile Kliniken, hauptsächlich auch mit Gynäkolog:innen und Hebammen.
Das Öffentliche Gesundheitssystem zu stärken und zu entwickeln, das ist unsere langfristige Strategie. Solange wir die finanzielle Unterstützung für diese Einrichtungen haben, sorgen wir dafür, dass die Gebäude renoviert bzw. wieder aufgebaut werden, dass entsprechendes medizinisches Equipment zur Verfügung steht, dass das Personal weiter- und ausgebildet wird und bestimmte Systeme etabliert werden wie zum Beispiel das Patient Information System. Mit diesem System werden die Geschichten der Patient:innen erfasst und die medizinische Betreuung entsprechend angepasst. Diese Einrichtungen werden dann an die Selbstverwaltung übergeben und in das öffentliche Gesundheitssystem eingegliedert.
2) Emergency Response (Notfallversorgung)
Wir haben in allen Regionen Nord- und Ostssyriens, Şehba und Aleppo Emergency Zentren mit einem Netzwerk von insgesamt etwa 60 Krankenwagen, koordiniert von einer Koordinierungsstelle (EMCC). Das EMCC ist 24/7 mit Notfallsanitäter:innen und Pfleger:innen besetzt, die nach einer telefonischen Ersteinschätzung das nächstgelegene freie Krankenhaus in der jeweiligen Region benachrichtigen und den Transport dorthin organisieren.
Außerdem zählt zur »Emergency Response« die Gesundheitsversorgung in den Camps. In fast allen Camps in Nord- und Ostsyrien und Şehba betreiben wir PHCCs (Primary Health Care Center) nach dem gleichen Standard wie oben beschrieben. Die Emergency Response wird im allgemeinen beim Roten Halbmond bleiben.
Neben diesen beiden Schwerpunkten sind wir aber auch aktiv im Umweltschutz. Hauptsächlich mit unserem etabliertem »WaSH« (Water, Sanitation and Hygiene) Department. Hier geht es um die Etablierung von Hygiene Standards in unseren Kliniken, dem Health Waste Management (die ordnungsgemäße Entsorgung von medizinischem Abfall) aber auch um die Kontrolle der Wasserversorgung und Wasserquualität. Recycling- und Waste Management Projekte und der Aufbau alternativer
Energien z.B. Solaranlagen gehören auch zum »WaSH«-Department. Wenn Mittel zur Verfügung stehen, initiieren und unterstützen wir auch Baumpflanzprojekte und die Pflege von Grünanlagen.
2024 konnten wir die erste Krebsstation, in der behandelt werden kann, eröffnen. Da die Behandlung mit Chemotherapie sehr kostenintensiv ist, eine Dosis kostet derzeit etwa 500 USD, müssen die Patient:innen die entsprechenden Kosten leider selbst tragen. Die Personalkosten tragen zur Zeit wir. Die Behandlungskosten sind dadurch deutlich günstiger als in privaten Krankenhäusern und in Damaskus (für jede Chemotherapie-Dosis müssen die Patient:innen nach Damaskus reisen und das Medikament zusätzlich selbst bezahlen). Im neuen Krankenhaus wird außerdem eine Blutbank und eine Thalassämie-Station entstehen. Direkt nebenan, im Erdgeschoss unseres zentralen Bürogebäudes ist die Prothesenwerkstatt mit angeschlossener Physiotherapie und psychosozialem Unterstützungsangebot untergebracht.
Grundsätzlich sind alle Angebote des Roten Halbmondes kostenfrei für alle Patient:innen. Im Durchschnitt und ohne größere Katastrophen (wie das Erdbeben im letzten Jahr 2023) versorgen wir etwa eine Million Patient:innen im Jahr.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit der zuständigen Verwaltung in der DAANES aus? Hat die DAANES eigene Gesundheitseinrichtungen?
Die DAANES hat eigene Einrichtungen und betreibt hauptsächlich die öffentlichen Krankenhäuser. Ich kann leider nichts zu deren Zahlen sagen und das Monitoring funktioniert noch nicht so gut. Wie oben kurz erwähnt, muss dieses langfristig etabliert werden, zusammen mit dem Patienten-Informations-System.
Langfristig sollen alle Kliniken (außerhalb der Camps) der Selbstverwaltung übergeben werden. Bisher fehlt es aber leider immer wieder an entsprechenden Mitteln in der Verwaltung, um diese dann auch ohne Qualitätsverlust weiter betreiben zu können. Derzeit ist dies vor allem auch den Angriffen der Türkei auf die öffentliche Infrastruktur geschuldet. Die Selbstverwaltung muss alle zur Verfügung stehenden Mittel für den Wiederaufbau dieser lebensnotwendigen Infrastruktur aufbringen, zum Beispiel für die Strom- und Wasserversorgung. Das hat zur Folge, dass es im Gesundheitsbereich immer wieder an entsprechenden finanziellen Mitteln fehlt. Auch ohne die Angriffe war es der Selbstverwaltung bisher kaum möglich mehr Einrichtungen zu übernehmen, geschweige denn die Krankenhäuser zu betreiben. Aber durch die Angriffe ist es nahezu unmöglich geworden, weshalb wir bis auf weiteres die vorher übergebenen Einrichtungen wieder übernehmen, soweit uns dies finanziell möglich ist.
Wie viele Menschen arbeiten bei Heyva Sor a Kurd Welche Berufe, welche Aufgaben haben sie? Wie ist die Arbeitsbelastung der Mitarbeiter:innen? Welchen Gefahren sind sie bei ihrer Arbeit ausgesetzt?
Wir haben etwa 1.200 Angestellte, davon etwa 70 im Hauptbüro. Weitere 50 Personen, decken den administrativen Bereich ab mit folgenden übergreifenden Aufgaben:
– Durchführung des Monitoring
– Koordinierung der Projekte und der Gesundheitsversorgung
Wir machen regelmäßige Schulung der Mitarbeiter:innen im Rahmen des Protection Departements, um sicherzustellen, dass alle Mitarbeiter:innen regelmäßig in humanitären Grundprinzipien geschult werden, dass unser Code of Conduct eingehalten wird und der Complaint Mechanismus funktioniert. Durch diese Schulungen wollen wir verhindern, dass es in der Behandlung von Patient:innen zu irgendeiner Form von Machtmissbrauch kommt.
Der Großteil unserer Mitarbeiter:innen sind Mediziner:innen, wir haben aber auch Techniker:innen in verschiedenen Bereichen, Laborant: innen, Pharmzeutiker:innen, Ingenieur: innen, IT‘ler und Projektmanager:innen. Die größte Abteilung, neben der Gesundheitsversorgung, ist vermutlich die Logistikabteilung. Im administrativen Bereich haben wir neben der Logistik aber auch noch die Personalabteilung, das Finanzmanagement und das neu eingerichtete Compliance Departement, um sicherzustellen, dass wir auch auf administrativer Ebene unserer Sorgfaltspflicht gerecht werden. Zudem das bereits erwähnte Protection Departement und außerdem das MEAL (Monitoring, Evaluation, Accountability and Learning) Department. Grundsätzlich laufen alle Aktivitäten im Hauptbüro zusammen und werden von dort aus koordiniert. Allerdings haben wir in den jeweiligen Regionen auch kleinere Verwaltungen, welche der Hauptverwaltung zuarbeiten und lokale Aufgaben übernehmen. Zudem gibt es in jeder Region »Regional Coordinators« (immer weiblich und männlich besetzt), deren Arbeitsschwerpunkt ist der Personaleinsatz und die Zusammenarbeit mit den lokalen Gesundheitskomitees und anderen offiziellen Stellen.
Das größte Risiko trägt immer noch das medizinisches Personal, welches nahe der Fronten eingesetzt wird und die Fahrer der Krankenwagen. Aber auch im Camp Al Hol sind unsere Mitarbeiter:innen täglich massiv gefährdet durch IS-Angehörige. 2022 wurde ein Mitarbeiter beim Versuch den Mord an einer Patientin und ihrem Babys zu verhindern, erschossen. Sie und das Baby haben überlebt und wurden daraufhin in Sicherheit in ein anderes Camp gebracht. Unser Mitarbeiter hat dies leider nicht überlebt.
Arbeiten Menschen ehrenamtlich bei Heyva Sor a Kurd?
Ja, es gibt Ehrenamtliche, mal mehr mal weniger, je nachdem. Wir haben perspektivisch allerdings vor, das Ehrenamt zu stärken, auch weil uns die Mittel fehlen, um dringend benötigtes Personal einzustellen.
Bitte geben sie uns einen Überblick über die Lage der medizinischen Versorgung in der DAANES vor und nach den Angriffen Ende 2023?
Die medizinische Versorgung war vor den Angriffen bereits desolat. Daran hat sich nicht viel geändert, außer dass die Übernahme der Einrichtungen durch die Selbstverwaltung in noch weitere Ferne rückt. Konkret mussten wir aus diesem Grund zum Beispiel die Klinik in Minbic wieder zurücknehmen. Kobanê hat es am schlimmsten getroffen. Schon vor den Angriffen mussten wir unsere Klinik wegen mangelnder Finanzierung schließen. Wir betreiben dort lediglich noch das Emergency Department. Im Dezember 2023 wurde dann auch noch eine vom deutschen Verein »Armut und Gesundheit« geförderte und betriebene Klinik angegriffen und komplett zerstört. Jetzt gibt es dort kein kostenfreie medizinische Versorgung mehr. Das öffentliche Krankenhaus steht zwar noch, aber es fehlen Ärzte und das Geld, um es kontinuierlich zu betreiben.
Andere Zerstörungen, die unsere Arbeit massiv behindern und langfristige Folgen für die Gesundheitsversorgung haben sind:
In Qamişlo wurde die einzige Oxygen-Anlage in Nord- und Ostsyrien komplett zerstört. Das stellt uns nun vor neue große und vor allem kostenintensive Herausforderungen, um Patient:innen im Notfall beatmen zu können.
Einrichtungen für die Wasserversorgung wurden getroffen, was zu noch größeren Gesundheitsproblemen führt.
Stromversorgungsanlagen wurden zerstört und in einigen Gesundheitseinrichtungen ist die Stromversorgung völlig zusammengebrochen. Wir mussten zusätzliche Generatoren anschaffen und sind dauerhaft auf diese angewiesen, mit allen negativen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit.
Die Zerstörung eines Saatgutlagers birgt langfristig die Gefahr von Unterernährung, da dieses Lager Samen hauptsächlich für Weizen gelagert hatte.
Viele Ölförderanlage wurden zerstört und die Kosten für den knappen Diesel sind enorm gestiegen. Wir können deshalb auch notwendige Generatoren nicht dauerhaft betreiben und auch für die Krankenwagen und andere nötige Fahrzeuge steht nicht genügend Öl und Diesel zur Verfügung. Auch aus diesen Gründen ist es umso wichtiger, mehr auf Solarenergie zu setzen.
Wie schätzen sie den Gesundheitszustand der Bevölkerung ein? Wie viele Menschen leben in in der DAANES?
Schwierige Fragen … Genaue Zahlen gibt es nicht und es gibt eine sehr hohe Fluktuation. Grob geschätzt leben in Nordost-und Nordwest Syrien zwischen drei und fünf Millionen Menschen.
Den Gesundheitszustand der Bevölkerung würde ich grundsätzlich eher als schlecht einschätzen. Im Sommer wird es vermutlich wieder viele Todesopfer, vor allem Babys, geben. Die schlechte Wasserqualität und der schlechte Ernährungszustand der Mütter sind dafür verantwortlich. Im Sommer haben wir vor allem in den Camps mit der schlechten Wasserqualität zu kämpfen, die Hitze führt zusätzlich zu Dehydration und die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist eher schlecht. Wenn Pandemien ausbrechen, wie z.B. Cholera oder Corona, ist das Problem kaum noch zu bewältigen.
Zudem haben wir einen massiven Anstieg an Krebserkrankungen festgestellt. Bisher können wir diesen Anstieg nicht mit Statistiken und Studien belegen. Allerdings haben auch Ärzt:innen in Damaskus diesen Trend bestätigt. In den letzten ein bis zwei Jahren kamen deutlich mehr Krebspatient:innen aus Nord- und Ostsyrien. Mit der neuen Krebsstation erfassen wir nun auch die Zahlen und versuchen herauszufinden, ob bestimmte Umstände zu dem Anstieg führen. Denkbar ist, dass durch alte Munition im Boden bestimmte Regionen schwerer betroffen sind, die Luft in den Städten ist spürbar schlechter geworden durch die massive Nutzung von Generatoren und grundsätzlich gibt es viel zu wenig Bäume, die dazu beitragen könnten, dass die Luft sich verbessert. Die Arbeitsbedingungen in den Gas- und Ölförderanlagen sind auch schlechter geworden, die Verarbeitung an sich ist schon krebserregend und es gibt kaum Schutzmöglichkeiten. Zudem versickern insgesamt sehr viele Schadstoffe im Boden, weil es kaum Müllverbrennungsanlagen gibt. Meist wird der Müll irgendwo auf freier Fläche mehr schlecht als recht verbrannt, damit sickern die Schadstoffe und das Mikroplastik in das Grundwasser. Bei den Angriffen wurden Pipelines zerstört und das Grundwasser durch austretendes Öl stark belastet.
Im letzten Jahr war der Wasserstand des Euphrat auf den tiefsten Stand seit vielen Jahren und auch verschiedene internationale NGOs haben deshalb Alarm geschlagen. Die Austrocknung der Nebenarme hat unter anderem auch zur Folge, dass sich schädliche Insekten weiter ausbreiten. Zum Beispiel haben wir wieder einen Anstieg von Leishmaniose festgestellt. Aber immerhin steigt insgesamt auch das Bewusstsein für Krankheitsprävention in der Bevölkerung. Aber die beste Aufklärung hilft nur bedingt, wenn es zum Beispiel nicht genug Wasser gibt bzw. die meisten Menschen sich keine Filter, Chlor oder abgefüllten Flaschen leisten können.
Wie wirkt sich die Inflation auf die medizinische Versorgung der Bevölkerung aus? Können sich die Menschen noch eine gute medizinische Versorgung leisten?
Die Inflation wirkt sich massiv aus. Es gibt immer noch überwiegend private Krankenhäuser und Gesundheitszentren. Das können sich aber nur noch die wenigsten Menschen leisten. Zudem wird das Essen immer teurer, das führt zu Unterversorgung in manchen Familien. Zeitgleich finden sich immer mehr ungesunde Lebensmittel auf dem Markt, zum Beispiel dominieren »Nestle« Produkte mit ihrem hohen Zuckergehalt in den Läden, vor allem als Babynahrung. Dazu muss gesagt werden, dass der gesamte Mittlere Osten seit Jahren von Billigprodukten überschwemmt wird. Billigprodukte im Sinne von billig und nicht besonders nachhaltig produziert. Das ist auch so gewollt. Die meisten dieser Produkte kommen aus China, der Türkei und dem Iran. Wobei die Türkei und China vermutlich die Vorreiter sind, zumindest im Irak und in Syrien.
Aber natürlich hat das alles auch Auswirkungen auf die mentale Gesundheit. Die schwierige finanzielle Lage, die schlechten Lebensbedingungen und immer wieder die tödliche Bedrohung aus der Luft belasten die Bevölkerung.
Und natürlich hat das auch Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung im allgemeinen. Auch für uns steigen die Preise. Die laufenden Kosten für Diesel (für die Stromversorgung), Wasser, Abfallbeseitigung, Autos/Krankenwagen und Medikamente steigen. Wir können für die laufenden Kosten kaum noch aufkommen, selbst wenn ein Projekt unterstützt wird. Deshalb mussten wir Gehälter kürzen, was uns schwer fällt, denn eigentlich müssten wir die Gehälter anheben.
Wir hängen in einer finanziellen Abwärtsspirale fest und darunter leidet die gesamte Versorgung, sowohl im Gesundheitsbereich als auch in allen anderen essenziellen Bereichen.
Gibt es eine Krankenversicherung für die Menschen in der DAANES?
Nein, es gibt weder Krankenversicherungen noch sonstige soziale Absicherungen. Das Einzige was die Menschen schützt sind die Familienzusammenhänge. Aber auch das ist zunehmend schwerer durch die gesamte Situation und durch die Inflation.
Wir haben vor zwei Jahren ein vergleichbares System für unsere Mitarbeiter:innen eingeführt. Das ist bei uns der »Solidarity Fund«. Bei Projektgeldern bekommen wir von den Geldgeber:Innen die Bruttogehälter (für alle die über das Projekt finanziert werden). Wir behalten einen kleinen Anteil ein (er richtet sich nach der Höhe der Gehälter). Das ist dann die Abgabe an den Solidarity Fund. Er funktioniert wie eine Versicherung für Mitarbeiter:innen, die verletzt werden, eine dringend notwendige OP brauchen, krankheitsbedingt ausfallen oder ihre Arbeit verlieren, weil Einrichtungen unvorhergesehen geschlossen werden müssen wie 2019 in Serê Kaniyê nach dem Einmarsch der Türkei. Damals haben wir eine frisch renovierte Klinik verloren und unser Team musste evakuiert werden. Auch Familien von im Dienst ums Leben gekommenen Mitarbeiter:innen können unterstützt werden.
Aber dieser Fond stellt auch sicher, dass wir in Notfällen sofort eingreifen können ohne erst auf Zusagen von Geldgeber:innen warten zu müssen, so zum Beispiel geschehen nach dem Erdbeben 2023. Durch den Solidarity Fund waren wir in der Lage bereits am selben Tag sofort Hilfe zu leisten. Später konnte das Geld durch Geldspenden zurückfließen. Er ist also ein finanzieller Puffer, auch für Personalkosten, aber in erster Linie gibt er unseren Mitarbeiter:innen ein kleines bisschen Sicherheit. Er könnte auch als Modellprojekt für eine soziale Absicherung verstanden werden in einer hoffentlich stabileren Zukunft.
Auf lange Sicht sollte eine umfassende Gesundheitsversorgung für alle kostenlos sein. Im Moment ist das noch ein Ziel, denn durch die instabile politische Situation reichen die Finanzen dafür nicht aus. Zudem spielt auch das altbekannte Vorurteil, dass alles, was es umsonst gibt, qualitativ schlecht sein muss, eine Rolle. Deshalb gibt es in der Bevölkerung und beim Gesundheitspersonal selbst starke Vorbehalte gegen eine kostenlose Versorgung. Das heißt, neben den ganzen anderen Herausforderungen und Problemen, muss natürlich auch daran gearbeitet werden.
Die Gehälter für Mitarbeiter:innen in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sind noch zu gering, um eine qualitativ hochwertige Versorgung zu gewährleisten.
Noch einmal zu den Folgen der Zerstörungen durch die Angriffe der Türkei Ende 2023 und Anfang 2024. Welche Folgen hatten sie auf die medizinische Versorgung der Bevölkerung und auf ihre Arbeit?
Wir müssen massiv den Diesel- und Ölverbrauch einschränken. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Reichweite der mobilen Kliniken, Krankenwagen aber auch auf die Koordinierung, Besichtigungen und schlicht das Erreichen der Arbeitsstellen für unsere Mitarbeiter:innen. Die mangelnde Stromversorgung durch das öffentliche Stromnetzwerk zwingt uns Generatoren häufiger zu nutzen z.B. für die Kühlung der Medikamente. Auch dafür braucht es Diesel. Insgesamt werden wir, wie auch andere NGOs und öffentliche Einrichtungen, bei der Verteilung von Strom bevorzugt. Einschränken müssen wir uns trotzdem. Denn Strom und Diesel fehlen auch bei der Versorgung der Bevölkerung, in der Landwirtschaft, beim Transport usw.
Die ohnehin schwierige Wasserversorgung ist abhängig von Pumpen, die Energie brauchen.
Wir haben massive Probleme ausreichend Sauerstoffflaschen zu bekommen, da die einzige Abfüllanlage (Oxygenanlage) zerstört wurde (s.o.). Zum Glück sind die Coronazahlen und die Zahl der Patient:innen, die beatmet werden müssen, zur Zeit nicht so hoch. Ich denke den größten Teil der nachhaltigen Auswirkungen habe ich oben bereits beschrieben.
Bei unseren Mitarbeiter:innen sind die mentalen Auswirkungen der Angriffe natürlich auch zu spüren. Die ständige Bedrohung eventuell doch noch zum Ziel zu werden, schwebt über uns allen wie ein Damoklesschwert. Teilweise können wir die Orte nicht erreichen weil eine Drohne in der Nähe eingeschlagen ist oder stark gefährdete Orte auf der Strecke liegen. Das Hauptbüro haben wir bisher zweimal evakuiert, weil die Einschläge zu nahe kamen, das war im Dezember 2023. Du weißt nicht, ob nicht dein Haus getroffen wird oder das Auto, in dem du sitzt, zum Ziel wird. Das alles geht natürlich auch an uns nicht spurlos vorüber.
Wie ist die medizinische Versorgung für Kinder, Frauen, alte Menschen und chronisch kranke Menschen? Vor welchen besonderen Herausforderungen steht ihre Organisation bei der Bekämpfung der verschiedenen Krankheiten?
Die Versorgung mit Medikamenten für chronische Erkrankungen ist insgesamt schlecht. Der Mangel an Medikamenten allgemein wirkt sich für chronische Erkrankte nochmal stärker aus z.B. wenn plötzlich auf eine andere Dosis zurückgegriffen werden muss, weil die eigentlich benötigte Dosis plötzlich nicht mehr verfügbar ist. Das grundsätzliche Problem sind aber die Kosten, denn es gibt eigentlich alles Notwendige in Syrien in ausreichender Qualität. Zudem kommen noch Vorgaben der Geldgeber:innen, die es uns teilweise verbieten die Medikamente vor Ort zu kaufen. In Europa gekaufte Medikamente haben einen langen und zeitaufwendigen Transportweg der die Laufzeit des Projekts manchmal überschreitet.
Wie bereits erwähnt sind der Wassermangel und die Wasserqualität eines der größten Probleme. Das wirkt sich auch auf die Hygiene aus.
In der Emergency Zentrale stehen wir aber auch noch vor einer besonderen Herausforderung: Wir können keine feste Notrufnummer einrichten, denn die syrische Regierung stellt uns keine Festnetzleitung zur Verfügung. SIM-Karten können nur auf private Namen laufen und Menschen, auf deren Namen eine Karte registriert ist, könnten gefährdet sein. Deshalb sind wir gezwungen immer wieder die Telefonnummern zu ändern, um niemanden den Repressalien des syrischen Staates auszusetzen. Das macht es für Privatpersonen schwierig uns im Notfall zu erreichen.
Insgesamt gibt es viel zu wenig medizinisches Fachpersonal. Die Ärzt:innen müssen alle mehrere Aufgaben gleichzeitig übernehmen um den Bedarf zu decken. Es gibt aber Anlass zu Hoffnung, da die ersten Jahrgänge der Gesundheitsakademie bald ihren Abschluss machen und die Ausbildung tatsächlich gut ist.
Beobachten sie die Zunahme bestimmter Krankheiten? Haben sie mit Epidemien zu kämpfen? Hat die Klimaveränderung Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung?
In den letzten Jahren hat uns neben Corona am meisten Cholera beschäftigt. Es gibt immer noch Coronaausbrüche, aber insgesamt ist die Bevölkerung wahrscheinlich mittlerweile relativ gut immunisiert. Cholera ist allerdings immer noch ein Thema und es ist sehr wahrscheinlich, dass die Zahlen im Sommer wieder steigen werden.
Der Klimawandel hat massive Auswirkungen mit Wassermangel und steigenden Temperaturen. Die Wüste wächst stetig, die Austrocknung der Nebenarme der großen Flüsse und der Tümpel führt zu einem Anstieg der durch Insekten übertragenen Krankheiten. Grundsätzlich hat es in den letzten Jahren zu wenig geregnet, die Erde ist zu sehr ausgetrocknet und die Anbauflächen werden weniger.
Die Wasserqualität verursacht immer wieder neue Hautausschläge und Allergien, Krankheiten wie Meningitis und Krebs nehmen zu.
Die immer weiter steigende Hitze belastet das Leben der Menschen. Durch die hohenTemperaturen steigt auch der Bedarf an Klimaanlagen, was wiederum einen Mehrbedarf an Generatoren bzw. Strom verursacht. Wir müssen zunehmend auf alternative Energiequellen setzen. Solarenergie und Windkrafträder wären eine Lösung. Wasserkraft ist nur dann von Nutzen, wenn es auch genügend Wasser gibt. Und es bleibt immer die Frage der Finanzierung. Momentan befinden wir uns auch in den Bereichen Umwelt, Klima und Ökologie permanent in der Defensive. Das heißt wir können derzeit immer nur reagieren aber nicht nachhaltig und vorbeugend investieren.
Wie ist die technische Ausstattung ihrer Gesundheitseinrichtungen?
Die Einrichtungen, finanziert durch Projektgelder, sind im Großen und Ganzen gut ausgestattet. Anders sieht es in den Einrichtungen aus, die nicht von Projektgeldern profitieren. Hier mangelt es häufig an einfachem Equipment. Aber wir geben immer unser Bestes um auch hier die bestmögliche Versorgung sicherzustellen und langsam sind wir insgesamt auf einem guten Stand. Bei den öffentlichen Einrichtungen der DAANES sieht es allerdings noch nicht so gut aus.
Wie ist die Notfallversorgung ausgestattet und organisiert? Vor welchen besonderen Herausforderungen stehen sie bei der Notfallversorgung?
Wir betreiben etwa 60 Krankenwagen für die Notfallversorgung, die über die ganze Region der DAANES verteilten in 11 Emergency Zentren stationiert sind.
Zusätzlich betreiben wir im Camp Al Hol noch den Operation Desk (OD), da nur wir Patient:innen in Krankenhäuser außerhalb des Camps bringen können. Patient:innen, die nicht im Camp versorgt werden können, werden in die nächstgelegenen Krankenhäuser gebracht. In Qamişlo ist die Zentrale, das EMCC (Emergency Management Coordination Center), das die Transfers überregional koordiniert. Täglich werden die Kapazitäten aller Krankenhäuser überprüft und im Notfall werden dann die infrage kommenden Krankenhäuser kontaktiert und Patient:innen dorthin gebracht. Das Personal ist ausgebildet für die Triage am Telefon und das Personal in den Emergency Centren für die Triage vor Ort z.B. im Falle von Massenverletzungen.
Unser größtes Problem ist, dass es kaum Krankenhäuser gibt in welche wir die Patient:innen bringen können und die gut ausgestatteten Krankenhäuser sind meistens Privatkrankenhäuser und mit hohen Kosten für die Patient:innen verbunden. In Hesekê ist die Situation besonders schlimm, denn unter den schwierigen Lebensbedingungen in den vielen Camps in der Umgebung der Stadt leidet der Gesundheitszustand der Campbewohner und es kommt außerdem häufig zu Unfällen. Bis vor kurzem hatte die WHO noch einen Vertrag mit einem Privatkrankenhaus, um alle Patient:innen aus den Camps zu versorgen, koordiniert von Heyva Sor a Kurd. Dieses System war problematisch, da das Krankenhaus trotz vertraglicher Verpflichtung nicht zuverlässig alle Patient:innen aufgenommen hat, denn die WHO hat eine Pauschale bezahlt, die dem Krankenhaus nicht kostendeckend schien. Darunter hat die Behandlung der Patient:innen gelitten. Wir mussten oft Druck über die WHO ausüben, damit die Patient:innen auch akzeptiert wurden. Nun wurde der Vertrag durch die WHO nicht verlängert, was uns vor ein sehr großes Problem stellt. Jetzt bleibt nur noch das technisch mangelhaft ausgestattete öffentliche Krankenhaus, betrieben durch die DAANES, das auch noch unter Fachpersonalmangel leidet. Die Gehälter sind so gering, dass alle Zweitjobs annehmen müssen und das in erster Linie in Privatkliniken. Das führt zu massiven Personalmangel.
Der WHO fehlen wohl die finanziellen Mittel, um den Vertrag mit dem Privatkrankenhaus zu verlängern. Aber es ist auch ein politisches Problem. Es wäre von Anfang an sinnvoller gewesen das öffentliche Krankenhaus der DAANES zu unterstützen und eine technisch gute Ausstattung, die Instandhaltung des Gebäudes (es wurde stark beschädigt im Kampf gegen den IS) und die Fortbildungen für das Personals zu gewährleisten. Stattdessen hat die WHO ein Privatkrankenhaus finanziert, das der syrischen Regierung nahesteht. Es ist naheliegend, dass diese Entscheidung auf Druck aus Damaskus zurückgeht. Die UN-Organisationen dürfen es sich natürlich nicht mit dem Regime in Damaskus »verscherzen« um den Zugang zu ganz Syrien nicht zu verlieren. Aus diesem Grund ist die UN in Nord- und Ostsyrien grundsätzlich schlecht vertreten und nur in einzelnen Camps aktiv, solange Damaskus dies erlaubt.
Noch ein Beispiel für wenig nachhaltige Unterstützung: Eine internationale NGO hat für einen begrenzten Zeitraum im öffentlichen Krankenhaus der Stadt Hesîçe gearbeitet. Statt direkt im Krankenhaus zu arbeiten und die Lage dort zu verbessern haben sie sehr gut ausgestattete Container auf dem Gelände aufgestellt, Personal vom Krankenhaus abgezogen und fortgebildet. Dieses Personal hat für lokale Verhältnisse sehr hohe Gehälter bekommen. Von einem Tag auf den anderen hat diese NGO dann aber alles abgebrochen (aus Sicherheitsgründen) und hat das Krankenhaus und das Personal in einem sehr desolaten Zustand hinterlassen. Alles neuwertige Equipment wurde abtransportiert statt es zu spenden. Der größte Teil des gut fortgebildeten Personals hat aus verständlichen Gründen dann für andere NGOs gearbeitet um das Gehaltsniveau zu halten.
Die eben erwähnte NGO hat sich schlicht an ihr Neutralitätsgebot gehalten und deshalb nicht im Krankenhaus, sondern davor gearbeitet. Im Prinzip ist dieses Neutralitätsgebot sinnvoll, richtet aber in dem beschriebenen Fall auf längere Sicht Schaden an. Auch dass internationale NGOs höhere Gehälter an ihre lokalen Mitarbeiter:innen zahlen wollen ist auf den ersten Blick nicht verwerflich. Sie ziehen aber damit das Fachpersonal aus den öffentlichen Einrichtungen ab. Damit werden ganze Regionen abhängig gehalten von internationalen NGOs und deren Geldgeber:innen. Bricht die Finanzierung humanitärer Aufgaben plötzlich weg entstehen größere Lücken als vorher. Es ist ein Irrglaube, dass das Personal zurück in die öffentlichen Einrichtungen kommt. Stattdessen kämpfen alle um die verbliebenen Jobs bei internationalen NGOs oder versuchen die Region zu verlassen. Hier muss sich dringend und grundlegend die Arbeitsweise internationaler NGOs und deren Geldgeber:innen ändern. Nicht nur in Rojava!
Um wieder zurück zu unserem Problem zu kommen … Wir werden in diesem Sommer vor großen Herausforderungen stehen und es ist sehr wahrscheinlich, dass wir mehr Todesfälle haben werden als sonst, vor allem Babys und Kleinkinder. Das Problem beginnt schon mit der Unterversorgung der Mütter während der Schwangerschaft.
Aber die Krankenhäuser sind derzeit tatsächlich unser größtes Problem. Leider wurden auch bei uns die Mittel gekürzt und einer der wichtigsten Geldgeber, der Fond der europäischen humanitären Hilfen (ECHO) hat unseren letzten Antrag abgewiesen. Seit 2017 waren sie verlässliche Geldgeber. Dieses fehlende Geld gefährdet auch die Versorgung in den Camps. Wir können die Versorgung in den Camps und auch die übrige Notfallversorgung nur noch für die nächsten 5 Monate zuverlässig aufrechterhalten. Danach werden wir großflächig Einrichtungen schließen müssen, da uns nicht mehr genügend Mittel zur Verfügung stehen. Das führt unweigerlich zur nächsten Katastrophe, wenn sich nicht andere Lösungen finden.
Wie ist die Lage der medizinischen Versorgung in den Camps? Wie viele Menschen müssen dort versorgt werden? Wie ist die physische und psychische Gesundheitssituation der Menschen in den Camps?
Insgesamt gibt es etwa 17 offizielle Camps, offiziell registriert von der Selbstverwaltung. Es gibt aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit noch einige inoffizielle bzw. provisorische Camps, denn in der Region herrscht eine hohe Fluktuation. Die Menschen wechseln von einem Ort zum anderen auf der Suche nach einem leerstehenden Haus als vorübergehende Unterkunft. Nicht alle von der Selbstverwaltung offiziell registrierten Camps sind auch offiziell bei der UN bzw. in Damaskus registriert, und die die UN kann deshalb nicht aktiv werden.
In den 17 Camps, registriert von der Selbstverwaltung, leben etwa 145.239 Menschen, das sind etwa 30.885 Familien. Allerdings herrscht auch hier eine hohe Fluktuation. Aber insgesamt betrachtet sind diese Zahlen durchschnittlich gleichbleibend. Soweit ich weiß, war die UN bis jetzt nur in zwei, vielleicht drei Camps aktiv. Die anderen Camps sind zwar bei der UN registriert, aber nicht in Damaskus. Deshalb hat die UN keine Berechtigung in diesen Camps zu arbeiten. Sie können, und das tun sie soweit ich weiß auch, lediglich die Koordinaten der Camps beim UN-Sicherheitsrat registrieren um zu verhindern, dass diese Camps durch Drittstaaten wie die Türkei angegriffen werden. Aber das funktioniert auch nicht immer – erinnern wir uns an das ehemalige Camp in Ain Issa, nahe der türkischen Grenze, wo 2019 gezielt um das Camp herum angegriffen wurde, mit beachtlichen Schäden im Camp. Dadurch sind einige IS-Anhänger:innen über die türkische Grenze entkommen. Auch werden die Sicherheitsstrukturen um das Camp Al Hol immer wieder angegriffen. Al Hol mit »nur noch« 45.402 Bewohner:innen gilt wohl mittlerweile weltweit als eines der gefährlichsten Camps. Hier leben überwiegend irakische und internationale IS-Anhänger:innen. Das Camp (gegründet 2015) war ursprünglich für 10.000 syrische Geflüchtete geplant. Nach der Befreiung von Raqqa und Deir ez Zour 2018/2019 stieg die Zahl rapide auf ca 70.000 Bewohner:innen an. Vor allem die Familien der IS-Kämpfer kamen hier unter. Nachweislich direkt in IS-Aktivitäten involvierte Frauen und Männer wurden in Gefängnissen interniert. Die Infrastruktur des Camps war niemals auf diese hohe Anzahl Menschen ausgelegt. Es wurde offiziell durch die UN eingerichtet und auch von Damaskus gebilligt und UNICEF, UNHCR, WHO und die WFP hatten die Leitung. Die große Zahl der Internierten hat die UN-Strukturen komplett überfordert. Es gab nicht genügend Lebensmittel, Zelte, Schulen, medizinische Versorgung etc. Erst nach und nach sind internationale NGOs nachgerückt. Der kurdische rote Halbmond war neben der UN einer der ersten, die in dem Camp gearbeitet haben. Das Ort hat sich schnell zu einer Kleinstadt aus Zelten entwickelt in der die Bereiche mit den internationalen IS-Anhänger:innen (hauptsächlich Frauen und Kinder) besonders abgesichert werden. Viele der Frauen kamen im Teenageralter aus westlichen Ländern. Die miserablen Lebensbedingungen sind ein guter Nährboden für fortdauernde Radikalisierung. Menschen, die Zweifel an der IS-Ideologie durchblicken lassen werden umgebracht. Die Todesrate in diesem Camp war immens hoch in den letzten Jahren. Vermutlich sind immer noch Waffenlager im Camp, Schmuggeltunnel werden gefunden und neue Waffen in das Camp geschmuggelt. Leider sind vermutlich die Kinder sehr gefährlich. Sie werden als die neuen Gotteskrieger erzogen und sind die Hauptinformationsquelle für alles, was im Camp passiert. Sie schlüpfen überall durch.
Das Camp ist zu Recht eines der am stärksten bewachten Camps und trotzdem immer noch eines der gefährlichsten. Das Roj Camp, ausschließlich von internationalen IS- Anhänger:innen bzw. ehemaligen Anhänger:innen bewohnt, ist relativ sicher. Aber natürlich ist auch dieses Camp stark bewacht. Hier wohnen zur Zeit etwa 2.600 Menschen. Dieses Camp wurde nie offiziell durch UN-Strukturen anerkannt, die Selbstverwaltung hat dieses Camp eingerichtet und von Anfang an den größten Wert auf psychologische Rehabilitation gesetzt. Die Versorgung war in Ordnung. Anfangs waren keine internationalen Strukturen involviert, nur der Kurdische Rote Halbmond hatte hier eine relativ gut ausgestattete Klinik. Nach und nach sind andere NGOs nachgerückt, weil sie die Notwendigkeit, das Camp Al Hol durch Verlegung von Menschen in das Roj Camp zu entlasten, erkannt haben.
Auch im Arêşa Camp mit über 12.000 Bewohner:innen sind überwiegend ehemalige IS-Anhänger:innen untergebracht.
Vergessen wir nicht die anderen Camps mit Flüchtlingen aus den durch die Türkei besetzen Gebieten Serê Kaniyê/Tell Abiad und Efrîn. In der Region Şehba, in der viele Geflüchtete aus Efrîn in verschiedenen Camps leben, arbeitet außer uns keine internationale NGO, denn das syrische Regime verwehrt den Zugang. Die Camps mussten nach dem Erdbeben im letzten Jahr nochmals erweitert werden.
Für die Camps, in denen Geflüchtete aus syrischen Gebieten wie Idlib oder Homs untergekommen sind gibt es fast keine Unterstützung, auch nicht für unsere oder die Arbeit internationaler NGOs. Der Grund ist auch hier: sie sind nicht anerkannt von Damaskus. Hier ist die Versorgungslage wohl am schlimmsten. Die ohnehin knappe finanzielle Unterstützung durch die Selbstverwaltung wird durch die andauernden Angriffe auf die Infrastruktur der Region gefährdet.
Und wieder: eines der größten Probleme in allen Camps ist die Versorgung mit sauberem Trinkwasser. Im Sommer drohen wieder mehr Todesfälle durch Durchfallerkrankungen vor allem bei Säuglingen, Kleinkindern und alten Menschen.
Auch in den von der UN unterstützten Camps drohen Versorgungsengpässe, denn die UN hat Gelder gestrichen.
Das und die gezielten Angriffe auf die Sicherheitsstrukturen, sowie die Unterversorgung in der Bevölkerung wird nochmals die Sicherheitslage verschärfen. Angriffe und mangelnde Versorgung stärken den IS und sind ein Nährboden für weitere Radikalisierungen, sowohl in den Camps als auch außerhalb.
Haben sie Pläne und Projekte für die Zukunft?
Grundsätzlich versuchen wir entsprechend unseren Möglichkeiten die medizinische Versorgung aufrecht zu erhalten, das öffentliche Gesundheitssystem zu stärken und zu unterstützen. Wir wollen verstärkt im WaSH (Water, Sanitation and Hygiene) beziehungsweise im Umweltsektor aktiv werden. Eines der dringendsten Probleme ist die Wasser und Stromversorgung, um den Gesundheitszustand der Bevölkerung nicht weiter zu gefährden. Auch für die gesundheitlichen Folgen der Klimaveränderung versuchen wir nachhaltige Lösungen zu finden. Es wird sich allerdings zeigen, ob wir das tatsächlich schaffen können, wenn gleichzeitig die medizinische Grundversorgung stark gefährdet bzw. noch kritischer ist als zuvor. Außerdem steht ganz oben auf der Liste unsere Kapazitäten so auszubauen, dass wir in der Lage sind, direkte finanzielle Unterstützung durch große Geldgeber:innen zu bekommen. Eines der Hauptprobleme bei der Verteilung der Gelder für humanitäre Zwecke ist die Vergabe der Gelder nur an internationale NGOs. Das ist der Grundsatz westlicher Geldgeber:innen. Damit wird der größte Teil der Gelder für den Aufbau der NGO-Strukturen vor Ort und für hohe Gehälter für internationale Mitarbeiter:innen verwendet. Diese übersteigen übrigens weit den Verdienst der lokalen Mitarbeiter:innen. Wir sind die sogenannten Implementierungspartner der internationalen NGOs. Und auch wir müssen unsere Strukturen aufrechterhalten, damit wir arbeitsfähig bleiben. Wir setzen darauf, dass die Geldgeber:innen diese Mängel auch erkennen und anfangen, verstärkt lokale Strukturen direkt zu finanzieren. Das birgt natürlich einige Risiken für die Geldgeber:innen, aber das derzeitige System ist nicht mehr tragfähig angesichts der zunehmenden Krisen und der geringeren humanitären Geldmittel. Wir wissen nicht, ob es entsprechende Änderungen geben wird, aber wir bereiten uns darauf vor. Das heißt, dass wir vor allem im administrativen Bereich besser werden und klare und transparente Strukturen aufzeigen müssen. Es ist wichtig unserer Sorgfaltspflicht nachzukommen und sie transparent zu machen. Obwohl es unklar bleibt, ob die Geldgeber:innen einlenken werden, ist es doch unsere einzige Chance. An sich sind diese Verbesserungen kein Problem für uns, aber letztendlich ist es doch auch eine Frage des Vertrauens.
Es gibt hier kein funktionierendes Bankensystem. Das heißt wir zahlen hier alles in bar, auch die Gehälter. Wir können zwar durch die Abrechnungen beweisen, dass wir die Gehälter auch tatsächlich ausgezahlt haben, allerdings geht das einigen Geldgeber:innen nicht weit genug. Es gibt ein relativ neues System hier, was vergleichbar wäre mit einem Bankensystem: Eine Karte auf die das Geld geladen wird. Allerdings ist es für uns immer noch unklar, was mit den Daten passiert. Wir tragen eine große Verantwortung für unsere Mitarbeiter:innen, da die politische Situation wohl auch längerfristig instabil bleiben wird. Solange unklar ist, ob die DAANES sich durchsetzen kann oder die Türkei noch mehr Gebiete besetzen oder das syrische Regime die Kontrolle zurückgewinnen wird, können wir nicht leichtfertig mit den Daten unserer Mitarbeiter:innen umgehen. Sowohl durch das syrische Regime als auch durch die Türkei würden wir unsere Mitarbeiter:innen gefährlichen Repressionen aussetzen. Daher können wir an einigen Punkten leider nicht darauf eingehen, was die Geldgeber:innen von uns erwarten. Aber wir sind zuversichtlich auch hierfür Lösungen zu finden.
Unsere oberste Priorität bleibt die Notfallversorgung der Bevölkerung. Ein neues Projekt ist dementsprechend schon in den Startlöchern. Hier geht es darum, den Zivilschutz zu stärken. Das heißt wir werden neben und mit unseren Emergency Zentren eine Civil Defense Unit in der gesamten Region aufbauen. Hauptsächlich durch trainierte Ehrenamtler:innen soll sie in Notfällen, wie zum Beispiel einem Erdbeben wie im letzten Jahr, sofort einsatzbereit sein. Das Vorbild dafür sind die Weißhelme.
Wie sieht aktuell die Finanzierung ihrer Arbeit aus? Von welchen Seiten werden sie unterstützt?
Die meisten und wichtigsten Gelder sind öffentliche humanitäre Gelder. Das heißt zum Beispiel durch den Europäischen Funding Pool (ECHO), zumindest bis Anfang des Jahres. Damit vergleichbar ist der USAID. Aber auch aus einzelnen europäischen Staaten kommt Unterstützung in Form von öffentlichen Geldern (nicht von Deutschland) und von privaten Spendern und Stiftungen. Die privaten Geldspenden könnten bei weitem größer sein, wenn wir zum Beispiel ein Spendenkonto in Europa eröffnen könnten. Aber auch das ist nicht einfach, da wir nirgendwo registriert sind, Registrierungen sind teuer und wir müssten dann auch unserer Sorgfaltspflicht nachkommen und Stellen in Europa finanzieren. Privatspenden sind sehr wichtig, da sie flexibler einsetzbar sind. Die öffentlichen Gelder sind immer projektgebunden. Zudem werden einige strukturelle und administrative Positionen nicht von Projektgeldern getragen, weil sie nicht unmittelbar an das eine, bestimmte Projekt angebunden sind. Daher sind wir hier auch auf Privatspenden angewiesen, um auch die strukturell notwendigen Positionen zu besetzen und zu finanzieren.
Welche Wünsche haben sie an die Menschen in Deutschland, an unsere Leser:innen?
In erster Linie wünschen wir uns, dass das Interesse an dieser Region nicht weniger wird! Das ist angesichts der ganzen Krisen auf dieser Welt nicht ganz einfach. Aber wenn das demokratische Projekt in Nord- und Ostsyrien funktionieren soll, brauchen wir auch eine starke Lobby in Europa bzw. in den westlichen Ländern.
Auch aus humanitärer Perspektive benötigen wir eine Stärkung der lokalen Strukturen hier. Das kann auf viele verschiedene Arten geschehen z.B. indem man den Menschen hier von Zeit zu Zeit zeigt, dass sie nicht vergessen sind. Unabhängig davon müssen aber Demokratien offenbar zurzeit überall verteidigt und erkämpft werden und dieser Kampf sollte niemals aufgegeben werden, sonst ist nicht nur die DAANES als Projekt gefährdet.
Es gibt aber auch konkrete Möglichkeiten, wie Menschen uns unterstützen können. Zum Beispiel wird es am 24.06.2024 eine Auftaktveranstaltung im SO36 in Berlin geben, um eine neue große Kampagne zu starten: Unterstützung für den Aufbau von Solaranlagen in Rojava. An der Kampagne sind auch wir beteiligt und verantwortlich für die Durchführung der Projekte. Hier wird in erster Linie dringend benötigtes Geld gesammelt und in der Unterstützung liegt ein großes Potential.
Des weiteren sind Netzwerke und Strukturen immer wieder wertvoll, vor allem angesichts der gesunkenen humanitären Geldmittel müssen dringend andere Netzwerke aufgebaut werden, denn allein und ohne Fremdfinanzierungen werden wir diese enormen Herausforderungen nicht meistern können.
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Der Wandel der ethnischen und religiösen Identitäten in Rojava und Nord- und Ostsyrien durch die Revolution
Völker und Religionen in Nord- und Ostsyrien
Cihan Inan
Ethnizität und Glaube sind die historischen Identitäten einer Gesellschaft. Man kann sagen, dass die heute bekannten Identitäten und Kulturen auf diesen beiden Phänomenen beruhen. Denn fast jeder im gesellschaftlichen Leben verkörperte Wert ist direkt oder indirekt mit diesen beiden Identitäten verbunden. Alle gesellschaftlichen Werte bewegen sich entweder innerhalb der Grenzen dieser beiden Identitäten, speisen sich aus ihnen oder werden von ihnen gespeist.
Ethnische Identität ist die Kultur, die Gemeinsamkeiten im Bereich der materiellen und geistigen Werte, insbesondere der Sprache, zum Ausdruck bringt. Auch wenn diese Gemeinsamkeit in unserer Zeit vor allem im Bereich des Denkens und der Mentalität erlebt wird, ist dies die gültige Regel. Der unmittelbare Einfluss der geografischen Bedingungen auf die jahrtausendelange Herausbildung der ethnischen Identität hat eine entscheidende Rolle bei der Entstehung Tausender verschiedener ethnischer Identitäten in der Gesellschaft gespielt. Der Einfluss der Natur, d.h. der ökologischen Dimension der Gesellschaft, die das menschliche Leben bestimmt, ist ein weiteres unveränderliches Gesetz, das fortbesteht, wenn auch nicht mehr in dem Maße, wie noch vor einigen hundert Jahren.
Religion und Glaube sind ebenfalls ein wichtiges Element der ethnischen Identität. Religion formt und bereichert nicht nur die ethnische Identität, sondern wird auch durch ethnische Werte umgestaltet und neu geformt. Ein Beispiel dafür sind Sekten und Kulte. Die Tatsache, dass eine ethnische Identität Mitglieder hat, die mehr als einer Religion angehören, erfordert jedoch, dass wir die Religion an einer etwas anderen Stelle in der Definition der ethnischen Identität ansiedeln, als andere soziale Traditionen. Kurd:innen und Araber:innen sind heute Paradebeispiele für Völker mit dieser reichen Kultur. So ist zwar ein großer Teil der Kurd:innen muslimisch, aber nur ein kleiner Teil von ihnen sind Êzîden. Es gibt Millionen muslimischer Araber:innen und einige Hunderttausend christlicher Araber:innen. Diese Realität gilt auch für die Kurd:innen in Rojava. Die religiöse und konfessionelle Identität der syrisch-arabischen Bevölkerung umfasst auch kulturelle Unterschiede. In dieser Hinsicht kann Syrien sogar als ein kleiner Naher Osten betrachtet werden.
Der kulturelle Reichtum ergibt sich aus der Vielfalt des gesellschaftlichen Lebens und aus den Unterschieden in Identität und Werten. Jeder gesellschaftliche Reichtum ist das Ergebnis einer historischen Akkumulation. Unter diesem Gesichtspunkt muss ein Wert, um als sozialer Reichtum zu gelten, in Zeit und Raum erprobt worden sein. Man kann also sagen, dass ein Phänomen umso wertvoller ist, je historischer es ist, und daher ist es auch eine Quelle des Reichtums für heute. Man kann nicht im Voraus wissen, ob ein Phänomen, das in der jüngsten Vergangenheit ins Leben getreten ist, als Quelle des Reichtums betrachtet werden kann, d.h. ob es ihm gelingen wird, historisch zu werden. Nehmen wir zum Beispiel die Verstädterung in Form von Megapolen oder bestimmte technische Mittel, von denen fast täglich neue Formen auftauchen und von denen die meisten Gesellschaften noch nie etwas gehört haben. Der soziale Reichtum definiert also in Wirklichkeit kulturelle Werte, die seit Hunderten von Jahren bestehen und auch in Zukunft bestehen werden. Ethnische Identität und religiös-weltanschauliche Kultur sind im realen Sinne reich, weil sie seit Hunderten oder gar Tausenden von Jahren bestehen und weiter bestehen werden. Aufgrund dieser Realität sind beide Phänomene gleichzeitig der Ort und die Heimat, an denen sich die Vielfalt und Unterschiedlichkeit des sozialen Lebens verwirklicht. Alle anderen Identitäten wurden mehr oder weniger von diesen beiden Quellen des historischen Reichtums genährt und gepflegt oder wurden von diesen beiden Phänomenen unterdrückt und gezwungen, sich in andere Werte zu verwandeln. Dies geschah beispielsweise im Mittelalter, als die Kirche die sozialen Werte unterdrückte und damit den Weg für die Renaissance ebnete.
Diese einleitenden Sätze sollen helfen besser zu verstehen, was ich auf der Grundlage meines Demokratieverständnisses darlegen werde. Mit diesem Ansatz kann man konkreter auf den Wandel im sozialen und politischen Bereich eingehen, den die ethnischen und religiösen Identitäten in Rojava und Nord- und Ostsyrien durch die Revolution erfahren haben und der Gegenstand dieses Artikels ist.
Der Prozess des Aufbaus einer multi-identitären syrischen Identität ist im Gange
Die Menschen in Nord- und Ostsyrien leben mit der Revolution in einem demokratischen Umfeld, wie sie es noch nie erlebt haben. Zudem hat die Demokratie in dieser Region mehr Mittel erhalten, um ihr System zu etablieren, als die meisten anderen Regionen der Welt.
In seinem fünfbändigen Werk mit dem Titel »Manifest für eine demokratische Zivilisation« hat Abdullah Öcalan sehr weitreichende Bewertungen vorgenommen: »[...] je mehr Reichtum an einem Ort vorhanden ist, desto mehr Demokratie existiert dort als Kultur; wenn diese Kultur nicht in ein demokratisches politisches Regime umgewandelt wurde, dann sind die Gründe für ihre Etablierung viel stärker als anderswo«. Heute ist »Demokratie ist die Koexistenz von Unterschieden« ein Slogan und wird in allen Sprachen der Welt genauso skandiert wie »Jin, jiyan, azadî«. Aus dieser Perspektive können wir sagen, dass Syrien vor der Rojava-Revolution ein Land war, das auf die Demokratie gewartet hat. In der Tat ist nicht nur Syrien, sondern der Nahe Osten, von Afghanistan bis Marokko, von Kurdistan bis Jemen, die fruchtbarste Region der Welt, was den kulturellen Hintergrund betrifft, auf dem die Demokratie aufgebaut und ihr System etabliert werden wird. Auch Syrien hat seinen Anteil an diesem Reichtum gehabt.
Syrien ist die ethnische Heimat von Araber:innen, Kurd:innen, Assyrer:innenn und Syrer:innen, Armenier:innen, Tscherkess:innen, Turkmen:innen und Griech:innen. Es gibt keinen Stamm, keinen Clan und keine Sippe, die Syrien heißt. Es gibt ein Stück Land namens Syrien. Dieses Stück Land wird von ethnischen Identitäten bewohnt, die Tausende von Jahren älter sind als der Name Syrien. Araber:innen, Kurd:innen und Assyr-Syrer:innen sind die Hauptgruppen dieser alten Kultur. Das Baath-Regime hatte jedoch das Ziel, all diese Identitäten mit dem arabischen Nationalismus zu verschmelzen und sie zu Parteikämpfern mit der Ideologie einer nationalistisch-religiösen Partei zu machen. Dadurch wurde auch der Reichtum der arabischen Gesellschaft zerstört und zersplittert. Andere ethnische Identitäten hatten keine Luft mehr zum Atmen. Die Revolution beendete in erster Linie diese Politik der Unterdrückung, der Aufzwingung und Assimilierung.
Elf Jahre sind seit der Revolution in Rojava vergangen. Die Region, die jetzt Nord- und Ostsyrien ist, wird seit vier Jahren von einem demokratischen konföderalen System regiert. Sie verfügt auch über eine autonome Regionalverwaltung, wie sie oft genannt wird. Die Frage, welche positiven Veränderungen im Leben der Völker und Glaubensgemeinschaften in dieser Zeit stattgefunden haben, erfordert eine faire Bewertung auf der Grundlage praktischer Beobachtungen. Dieser faire Ansatz sollte auch die Frage aufwerfen, von wem und warum der gegenwärtige Wandel und die Transformation gestört werden und sollte in der Lage sein, vergleichend zu reagieren. Um all dies zu erkennen, eine faire Bewertung vorzunehmen und ihr gerecht zu werden, müssen wir den Norden und Osten Syriens mit der Region vor elf Jahren vergleichen. Ohne den Krieg und die Angriffe, die Embargos und die Drohungen zu ignorieren, können die demokratische nationale Politik und die Merkmale des konföderalen Systems als Maßstab genommen werden, und es kann Rechenschaft darüber abgelegt werden, was getan werden hätte müssen, aber nicht getan wurde.
Das syrische Regime ist ein System, das auf dem Programm und den Statuten der Baath-Partei beruht. So wie die Republik Türkei ihr System in den ersten dreißig oder vierzig Jahren ihres Bestehens auf das Programm und die Statuten der CHP stützte. Trotz seiner reichen kulturellen Struktur hat Syrien unter dem Namen Syrische Arabische Republik offiziell erklärt, dass sie ein Staat ausschließlich für Araber sei. Da wir von der Zeit des Nationalstaates sprechen, stellt sich zweifellos die Frage welcher »Araber« hier gemeint ist. Von außen, vor allem aber von der Türkei aus betrachtet, scheint Syrien ein alawitisch-arabischer Staat zu sein. Genauer gesagt, die von der AKP geführten Kreise verwenden viele Worte darauf, ihn als solchen anzuerkennen. Im syrischen Staat haben die Alawiten keinen offiziellen Status. Er erkennt alle, außer den Christen, als Islam an. Es steht sogar in der Verfassung, dass das Staatsoberhaupt ein Muslim sein muss. In der Praxis hat er jedoch Alawiten bei Ernennungen, bei Stellen, die Vertrauen und Aufrichtigkeit erfordern, und nicht in allen Institutionen und Bereichen bevorzugt. Mit anderen Worten: Die arabischen Alawiten in Syrien genießen eine Freiheit, für die es keine verfassungsrechtlichen Garantien gibt. Das syrische Regime hat die sunnitischen Araber:innen je nach ihren politischen Vorstellungen und Tendenzen in Kategorien eingeteilt. Diese Kategorisierung spiegelt sich in Bereichen wie Politik, Wirtschaft, Gesundheit, Sicherheit und Bildung wider. Beispielsweise ist Deir ez-Zor eine Stadt, die aufgrund ihrer Sympathie für die irakische Baath-Partei immer mit Misstrauen betrachtet wurde. Ähnliche Skepsis und Misstrauen herrschen auch gegenüber vielen arabischen Stämmen an der irakischen Grenze. Diese Regionen sind bis auf eine partielle Montageindustrie wirtschaftlich nicht entwickelt worden. Sie sind immer in Angst gehalten worden. Die Politik des syrischen Regimes gegenüber den Kurd:innen ist beispiellos in der Welt. In der offiziellen und praktischen Politik gibt es keine Kurd:innen. Der Kurde existiert als Feind und als gefährliche Struktur. Sie haben nicht das Recht, sich zu organisieren und politisch zu engagieren, sondern werden ständig unter dem Vorwurf des Separatismus überwacht. Einige von ihnen sind in ihrem Heimatland als Ausländer und Flüchtlinge anerkannt. In offiziellen Papieren werden sie als Araber bezeichnet, in der Alltagssprache als Kurd:innen.
Die Kurd:innen hatten einen Status als eine Art Bürger zweiter Klasse. Ihre Sprache wurde als merkwürdig und unvollständig bezeichnet. Kurd:innen durften kein Eigentum besitzen, kein eigenes Land bearbeiten. All diese Dinge können die Kurd:innen nur vermittels Personen mit arabischer Identität erreichen. Die religiösen Identitäten der Êzîdischen und alevitischen Kurd:innen wurden verleugnet.
Die christlichen Völker wurden zwar in ihrer religiösen Identität anerkannt und erhielten das Recht, ihre Religion auszuüben und in ihren Schulen zu lernen, aber es wurde ihnen nicht gestattet, ihre ethnische Identität so zu leben, wie sie es wünschten. Diese Menschen wurden durch Angst unter Kontrolle gehalten, oft durch einige religiöse und kommunale Vertreter in Zusammenarbeit mit dem Regime. Ein wichtiger Pfeiler der Politik des syrischen Regimes gegenüber Menschen und Glaubensgruppen besteht darin, sie zu Feinden zu machen. So wird beispielsweise die Taktik verfolgt, als gäbe es ein Problem zwischen Kurd:innen und Araber:innen und nicht zwischen dem Regime und den Kurd:innen. Am 12. März 2004 war die Provokation gegen die Bevölkerung von Deir ez-Zor während eines Fußballspiels in Qamişlo das Ergebnis einer solchen Politik1. In der ersten Septemberwoche 2023 haben wir gesehen, dass diese nationalstaatliche Taktik, mit der die Völker getäuscht werden, von bewaffneten Kräften des Regimes gegen die QSD (Demokratische Kräfte Syriens) während deren Operation gegen Banden in Deir ez-Zor erneut angewandt wurde. Die armenische, assyrisch-syrische und arabische Bevölkerung in den kurdischen Städten hat immer befürchtet, dass die Kurd:innen sie unterdrücken und dass die Kurd:innen sie vertreiben werden, wenn das Regime nicht da ist. Diese Politik des Regimes hat zu Vorurteilen und Misstrauen gegenüber den Kurd:innen geführt, insbesondere unter der assyrisch-syrischen Bevölkerung.
Im Jahr 1960 wurden in Rojava-Kurdistan Ölvorkommen entdeckt. Im Jahr 1962 sollte das Gebiet von Serê Kaniyê bis Dêrik mit der sogenannten »Arabischen Gürtel«-Politik arabisiert werden. Diese Politik wurde in den letzten zehn Jahren vom türkischen Staat übernommen. Mit anderen Worten: Die AKP und ihr Vorsitzender Tayyip Erdoğan versuchen, die von der syrischen Baath-Partei initiierte Politik in die Praxis umzusetzen. Die syrische Baath-Partei setzt den Arabischen Gürtel um, indem sie Kurd:innen, unter dem Vorwand einer notwendigen Umsiedlung aufgrund der Überflutung durch den Tabqa-Damm, aus ihren Häusern vertreibt. Die türkische AKP macht das gleiche unter dem Vorwand einer Notlage durch Geflüchtete, die dort angesiedelt werden müssten.
Die Praktiken des syrischen Regimes, über deren Politik gegenüber Völkern und Glaubensgruppen hier ein kurzer Überblick gegeben wurde, zeigen hinreichend, dass der syrische Nationalstaat ein Staat ist, der kulturellen Völkermord begeht. Obwohl das Regime in den letzten zehn Jahren versucht, den Eindruck zu erwecken, dass es sich von dieser Realität losgesagt hat, können wir nicht sagen, ob dieser Diskurs prägnant und aufrichtig genug ist, um von Dauer zu sein. Denn von Zeit zu Zeit spricht das Regime die Kurd:innen mit Worten und Taten an, die über Kritik hinausgehen und die Araber:innen beleidigen und demütigen. Die Revolution von Rojava im Jahr 2012 hat allen Völkern und Glaubensrichtungen, Araber:innen wie Kurd:innen, ein Aufatmen ermöglicht. Allerdings könnten die Völker neuen und gefährlicheren Angriffen ausgesetzt sein, wie etwa den Angriffen der Türkei. Diese Angriffe verzögern den Aufbau des demokratischen Systems der multi-identitären, multi-religiösen und multi-lingualen Struktur der Gesellschaft in dem Umfeld, das sich mit der Revolution zu bilden begonnen hat. Gleichzeitig versucht sie, ihre Beziehungen und Bündnisse, ihre Pläne und Projekte für die Zukunft mit befreundeten Strukturen zu stören. In Wirklichkeit versucht die Türkei, das syrische Regime daran zu hindern, sich der Demokratie zu öffnen, sondern sich stattdessen auf seiner nationalistisch-religiösen Linie zu halten und seine inneren Widersprüche zu vertiefen. Dies ist die Quelle der Feindschaft zwischen den Völkern Nord- und Ostsyriens und der AKP-MHP-Türkei: Die Völker wollen ein demokratisches Syrien, während die AKP-MHP-Türkei ein geteiltes und ideologisch religiös-nationalistisches Syrien will.
Die Rojava-Revolution hat ein Umfeld geschaffen, in dem die Völker, die das Baath-Regime in Syrien unter schweren Problemen zu ersticken versuchte, ihre Anliegen leicht äußern können. Diese Feindschaft, die das Regime mit einer sehr bewussten und subtilen Politik zwischen den Völkern schuf, stand sogleich auf der Tagesordnung, sobald die Revolution stattfand. So wurde sich beispielsweise sofort mit dem Problem des konfiszierten Eigentums des assyrisch-syrischen Volkes, vor allem der Kurd:innen und der Araber:innen einiger Regionen, auseinandergesetzt. Die Revolution hat allen Völkern, unabhängig von ihrer ethnischen und religiösen Identität, die Freiheit gegeben, zu diskutieren, zu kritisieren, eigene Entscheidungen zu treffen und den Mut und das Vertrauen zu haben, sich zu äußern und ihre Anliegen und Probleme vorzubringen. Trotz gelegentlicher Spannungen gibt es Mechanismen, mit denen die Araber:innen die Kurd:innen und die Kurd:innen die Araber:innen auf demokratischer Basis kritisieren können. In den Gebieten der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien haben die Völker die Möglichkeit, die durch das Baath-Regime verursachten Probleme sehr einfach zu diskutieren, Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen.
Als die Kurd:innen, die ihr Land durch die Politik des Arabischen Gürtels verloren hatten, 2012 zu den Waffen griffen und versuchten, ihr Land zurückzufordern, wurden sie von den revolutionären Kräften daran gehindert. Denn die revolutionären Kräfte handelten in dem Wissen, dass die arabische Bevölkerung, die noch immer das kurdische Land nutzt, vom Regime dorthin gebracht und angesiedelt wurde. Dieser Ansatz stärkte das Vertrauen der arabischen Bevölkerung in die revolutionären Kräfte und ihre Politik. Die Assyrer-Syrer konnten nicht nur ihre Beschwerden vorbringen und ihre Forderungen an die Gesprächsmechanismen herantragen, sondern wurden auch in viel stärkerem Maße geschützt und unterstützt, als während der Zeit des Regimes. Neben bewaffneten Selbstverteidigungskräften gründete dieses Volk zum ersten Mal politische Parteien mit eigenem Willen und Bewusstsein und begann, auf den Verwaltungsebenen Verantwortung zu übernehmen, ohne seine Identität zu verleugnen. Es werden Schritte unternommen, um die strenge arabische Nationalstaatspolitik in der Revolutionszone zu ändern, insbesondere im Bereich der Bildung. Gegen den Nationalismus, den das Regime an die Stelle des arabischen Patriotismus gesetzt hat, ist der Prozess des Aufbaus einer syrischen Identität mit mehreren Identitäten im Gange, indem jedes Volk sich selbst organisiert und sein Leben entsprechend seiner eigenen Identität und Kultur gestaltet. Mit der Revolution wurde die Notwendigkeit, Araber zu sein, um Syrer zu sein, abgeschafft, und man begann, sich den Völkern mit dem Bewusstsein zu nähern, ein freier Bürger zu sein, basierend auf dem, was sie in ihrer historischen Vergangenheit sind. So sind die Araber:innen freier und bequemer geworden, während andere ethnische und religiöse Strukturen, trotz aller Probleme, ihre eigene Realität aufbauen konnten.
Die Revolution von Rojava sollte nicht wie die Revolutionen verstanden werden, die mit klassischen und klischeehaften Slogans ausgedrückt wurden. In der Tat ist es nicht korrekt, solche Entwicklungen als Revolution zu bezeichnen. Eine Revolution ist der Prozess, der beginnt, wenn die Völker ein Umfeld erschaffen, in dem sie ihre eigenen Probleme angehen und lösen können. Das ist es, was in Rojava, Nord- und Ostsyrien in den letzten elf Jahren geschehen ist. In diesen elf Jahren sind Probleme aufgetaucht, deren Wurzeln Hunderte und Tausende von Jahren zurückreichen. So hat beispielsweise die organisierte Beteiligung von Frauen an der Selbstverteidigung sowie im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereich, den Jahrtausende alten Geschlechterkonflikt und viele damit verbundene Probleme an die Oberfläche gebracht. So ist ein Umfeld entstanden, das diese Probleme in Widerspruch und Konflikt löst. Diese Entwicklungen lassen sich anhand der Bilder und Reden nachvollziehen, die in der Presse und den Medienorganen wiedergegeben werden. Zum ersten Mal hatte die Jugend die Möglichkeit, sich von dem kulturellen Druck der »Älteren, Ahnen und Erfahrenen« der traditionellen Gesellschaft zu befreien, und trotz ihrer Unerfahrenheit begann sie, mit Elan und Begeisterung voranzuschreiten und erreichte die Kraft, sehr mutige Positionen einzunehmen. Von nun an wird die Gerontokratie besser verstanden, und dem Willen der Jugend Gehör geschenkt.
Eine der besten Entwicklungen seit der Revolution ist die Suche, die sich in allen Segmenten und Schichten der Gesellschaft vollzieht, auch wenn sie viele negative Verhaltensweisen und Tendenzen beinhaltet. Die Existenz dieser Suche unterscheidet die Zeit des Regimes und die Zeit seit der Revolution und sie bereitet den Boden für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft. Zu dieser Suche gehört auch, sich mehr an das zu erinnern, was das Regime uns vergessen machen wollte und es durch eine Neubewertung zu verstehen. Die Vergangenheit richtig und ausreichend zu analysieren und Schlussfolgerungen zu ziehen, ist für den Aufbau einer soliden Zukunft unerlässlich. Diese soziale Realität ist bei den Völkern in Nord- und Ostsyrien besonders ausgeprägt. So haben sich beispielsweise die kurdischen Alawiten und Êzîden zum ersten Mal seit den 1960er Jahren wieder zusammengefunden. Sie verehren und definieren die Werte ihrer Kultur neu, die ihre soziale Bedeutung verloren hatten, beleben ihre Kultur neu und geben und erschaffen so etwas, das dem Leben Sinn verleihen kann.
Der Wert dessen, dass vor Ort alle Glaubens- und Volksgruppen die Möglichkeit haben werden sich leichter und ohne Angst zu äußern und ihre Probleme zu diskutieren, darf nicht unterschätzt werden. Denn kein Nationalstaat in unserer Region war in den letzten hundert Jahren in der Lage, den Völkern unter seiner Souveränität ein solches Umfeld zu bieten. Obwohl in der irakischen Verfassung durchaus demokratische Artikel verankert sind und der syrische Staat das Konzept des Sozialismus verwendet hat, wurden diese relativ positiven Aspekte nie verwirklicht. Der Vergleich mit dem Nahen Osten des 20. Jahrhunderts zeigt, dass die Entwicklungen in Nord- und Ostsyrien ein Beweis für die Stärke und Vitalität der demokratischen Kultur des Nahen Ostens sind und dass sie sich schnell entwickeln kann, wenn sie die Gelegenheit dazu findet. Es ist unbestreitbar, dass dies der größte Gewinn für unsere Völker ist.
Es gibt Organisationen, die von allen ethnischen und religiösen Gruppen in der Region gemeinsam gegründet wurden. Bei diesen Organisationen handelt es sich sowohl um Frauen- und Jugend-, soziale und politische als auch um Glaubensorganisationen. So gibt es beispielsweise die Mesopotamische Union der Religionen, die von allen Glaubensrichtungen gemeinsam gegründet wurde. Diese Union hielt dieses Jahr ihre zweite Konferenz mit internationaler Beteiligung ab und traf wichtige Entscheidungen. Die Syrische Demokratische Versammlung ist die politische Dachorganisation aller Völker. Nicht nur im Bereich der politischen und religiösen Organisationen, sondern auch kulturell und gesellschaftlich hat es unter den Gruppen positive Entwicklungen gegeben, die mit der Zeit des Baath-Regimes nicht vergleichbar sind. Für alle Glaubens- und Volksgruppen ist es inzwischen zur Lebensroutine geworden, die wichtigen Feste und Gedenkfeiern der anderen zu respektieren und sich in einer Sprache einander anzunähern, in der man sich gegenseitig versteht. Die Haltung gegenüber den Êzîden, die vor allem durch die Muslime am meisten verachtet, ignoriert und verleumdet wurden, hat sich um hundertachtzig Grad gedreht. Auf gemeinsamen Plattformen konnten die Êzîden ihren Glauben ohne Zurückhaltung zum Ausdruck bringen und ihre Kritikpunkte darlegen.
Es gibt weitere wichtige Entwicklungen im kulturellen Austausch zwischen Glaubens- und Volksgemeinschaften. Diese Gruppen, die sich früher gegenseitig misstrauten, können nun an den Festen der jeweils anderen teilnehmen. Muslimische Geistliche besuchen Kirchen. Die Feste sind auch zu Tagen geworden, an denen alle Glaubensgemeinschaften einander leichter anrufen, sich nach dem Befinden des anderen erkundigen und sich gegenseitig feiern können. Aufrichtige Beileidsbekundungen, das Teilen des Schmerzes und der Trauer des anderen und Solidarität können ebenfalls als eine neue Entwicklung betrachtet werden. All diese kulturellen und sozialen Verhaltensweisen erhöhen das Gefühl der Solidarität zwischen den Völkern, stärken die Bande der Brüderlichkeit und vergrößern die gemeinsame Basis. Anfang September 2023 wurde dieses Gefühl der Solidarität auf die Probe gestellt, als die Türkei und ähnliche bösartige Gruppierungen, eine Operation gegen einige Bandengruppen in Deir ez-Zor als kurdisch-arabischen Widerspruch und Konflikt darstellten, um einen kurdisch-arabischen Krieg heraufzubeschwören. Dass es dennoch nicht zu einem Aufruhr unter der arabischen Bevölkerung kam, ist eines der praktischen Ergebnisse der Freundschafts- und geschwisterlichen Beziehungen zwischen den Völkern und Überzeugungen, die wir zu erklären versuchen. Denn in der gegenwärtigen Situation können die Gemeinschaften trotz aller Probleme und Schwierigkeiten sehen, was der andere durchmacht, seine Probleme und Bedürfnisse nachvollziehen und sich bemühen, ihn zu verstehen und zu unterstützen.
All diese gesellschaftlichen Entwicklungen bauen, dank des Paradigmas, auf dem sie beruhen, Tag für Tag ihr eigenes demokratisches, ökologisches und frauenfreundliches Leben in der demokratischen Nation auf. Wenn wir uns an die Völkermorde erinnern, die auf der Grundlage des religiösen, nationalistischen und faschistischen Systems und der Lebensgewohnheiten der herrschenden Moderne, die unsere Region seit Tausenden von Jahren gefangen halten, verübt wurden, werden wir den Wert und die Bedeutung dessen, was in Nord- und Ostsyrien geschieht, im Hinblick auf den Gewinn für die Menschheit besser verstehen.
1Am 12. März 2004 wurden bei vom syrischen Baath-Regime organisierten Auseinandersetzungen nach einem Fußballspiel in Qamişlo 32 Kurd:innen getötet. Nach diesem Massaker brach ein Aufstand aus, der sich in ganz Rojava und sogar in Aleppo und Damaskus ausbreitete. Der »Serhildan von Qamişlo« gilt als erster Massenaufstand in Rojava und fiel in eine Zeit, in der Saddam Hussein im Irak gestürzt wurde und gemeinsame Kabinettssitzungen der Türkei und Syriens stattfanden.
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Ein Interview zu den anstehenden Wahlen, dem neuen Gesellschaftsvertrag und den kommenden Veränderungen im politischen System in Nord- und Ostsyrien
Wir sind auf uns selbst gestellt
Das Rojava Information Center1 spricht mit Vertreter:innen der Autonomen Verwaltung von Kobanê.
»Als Individuen haben wir die historische, menschliche und ethische Pflicht, unsere Aufgabe als zivile Verwalter:innen zu erfüllen, so wie diejenigen, die die Last des militärischen Schutzes unerer Region tragen, die ihre erfüllen.«
Im Dezember 2023 verabschiedete und veröffentlichte die Demokratische Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) ihren mit Spannung erwarteten aktualisierten Gesellschaftsvertrag, der auf »demokratischen, ökologischen, gesellschaftlichen und frauenpolitischen Freiheiten« basiert. Zu den darin enthaltenen Reformen gehören eine Umstrukturierung des Stadtverwaltungs- und Ratssystems sowie der Plan zur Durchführung von Wahlen auf verschiedenen Verwaltungsebenen. Seit der Veröffentlichung des neuen Gesellschaftsvertrags wurde die Region Nord- und Ostsyrien (NES) zweimal schwer von der türkischen Luftwaffe bombardiert. Die Bomben richteten sich gegen Elektrizitäts-, Gas- und Ölstationen sowie zivile Arbeitsplätze und Infrastruktur.
In der Stadt Kobanê sprach das Rojava Information Center (RIC) mit Ferhan Haji Issa, dem Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats des Euphrat-Kantons, Rewshan Abdi, dem Ko-Vorsitzenden der Stadtverwaltung Kobanê, und Mohamed Hamdan al-Mohamed, dem Ko-Vorsitzenden des Volksrats des Euphrat-Kantons.
Wie sieht die Arbeit des Exekutivrats zur Zeit aus?
Ferhan Haji Issa: Wir – wie die gesamte Region Nord- und Ostsyrien und auch ganz Syrien – befinden uns derzeit in einer Krise. Wir leiden. Betrachten wir die Situation hier, müssen wir gleichzeitig alle Probleme Syriens betrachten. Das [syrische] Regime hat Syrien nicht demokratisiert, z.B. durch erstzunehmende Parlamentswahlen, und die syrische Opposition hat keine wirklich revolutionären Veränderungen erreicht. Traurigerweise haben die Volksaufstände nicht zu einem solchen Ergebnis geführt. Historisch gesehen haben wir es in Syrien immer mit Putschen zu tun gehabt. Milizen bekämpften andere Milizen. Im Jahr 1946 wurde Syrien von Frankreich befreit. Im Jahr 1949 gab es einen Putsch. Im Jahr 1961 gab es einen Putsch, auch in den Jahren 1963, 1966, 1970. Syrien befindet sich in einer massiven Krise. In der NES (Nord- und Ostsyrien) präsentieren und verfolgen wir ein neues Projekt, das sich völlig von den unterdrückerischen Mentalitäten unterscheidet, die Syrien aufgezwungen wurden. Aus diesem Grund hat dieses Projekt starke Gegner. Viele Staaten sind uns gegenüber feindlich eingestellt: Der syrische Staat, der russische Staat, der iranische Staat. Der türkische Staat hat es sich zur Aufgabe gemacht, für das Scheitern des Projekts zu sorgen.
Unser Ziel ist es, dass die Gesellschaft sich selbst regieren, sich selbst vertreten und ihrem eigenen Willen Ausdruck geben kann.
Gleichzeitig steht unsere Region und insbesondere der Euphrat-Kanton unter großem Druck. Er liegt direkt an der Grenze. Östlich von uns ist der türkische Staat, nördlich ist der türkische Staat, westlich ist der türkische Staat mit seinen Söldnern der Syrischen Nationalarmee. Der Euphrat-Kanton hat mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen – insbesondere Kobanê.
Kobanê ist ein Beispiel für den Widerstand gegen den Terror. Deshalb zielt die Türkei auf Kobanê und damit auf NES insgesamt. Folglich ist unsere erste Priorität, uns zu verteidigen und uns gleichzeitig selbst zu regieren.
Wir haben wirtschaftliche Probleme. Wir stehen wegen des Embargos gegen uns unter großem Druck. Unsere Dienstleistungseinrichtungen und unsere lebenswichtige Infrastruktur werden angegriffen. Wir haben eine Krise in den Außenbeziehungen. Ich sage es Ihnen ganz offen: Die Menschen in NES leben im Belagerungszustand. Wie können wir uns also verteidigen, unsere wirtschaftlichen, sozialen und viele andere Probleme lösen, unsere Räte und die autonome Verwaltung mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln aufbauen?
Wir werden diese Probleme offen und transparent mit unserer Bevölkerung kommunizieren und die Probleme, die wir lösen können, gemeinsam angehen. Wir verheimlichen nichts vor der Bevölkerung. Ich sehe unsere Arbeit in diesem Rahmen. Wir werden Probleme ansprechen, uns wehren und dann in Zukunft die sozialen Dienste verbessern. Wir sind wie eine Frontlinie gegen Ungerechtigkeit. Als Individuen haben wir die historische, menschliche und ethische Pflicht, unsere Aufgabe als zivile Verwalter:innen zu erfüllen, so wie diejenigen, die die Last des militärischen Schutzes unerer Region tragen, die ihre erfüllen.
An welchen konkreten Projekten arbeiten Sie zur Zeit?
Ferhan Haji Issa: In diesem Jahr, 2024, haben wir eine massive Finanzkrise und wir müssen uns auf das Wesentliche beschränken: Gesundheit, Wasser, Brot. Das sind die Dinge, die die Menschen am dringendsten zum Leben brauchen. Ein aktuelles Projekt ist der Bau einer Klinik. Die Versorgung von Kliniken mit Medikamenten ist ein vorrangiges Ziel, auch wenn wir nur über geringe Mittel verfügen. In der Region Nord- und Ostsyrien gibt es keine Möglichkeit Medikamente zu produzieren. Sie müssen importiert werden. Im Euphrat-Kanton haben wir das medizinische Problem »Leishmaniose«2, das durch das Wasser des Euphrat verursacht wird. Es werden dafür spezielle Gesundheitsstationen eingerichtet.
Trotz der Wasserkraftwerke am Euphrat haben wir nicht ausreichend Elektrizität, denn die Türkei lässt nicht ausreichend Wasser nach Syrien fließen. Wir brauchen alternative Stromquellen und bereiten entsprechende Projekte vor, aber in diesem Jahr sind wir wirtschaftlich wirklich eingeschränkt.
Der türkische Staat hat es auf unsere Dienstleistungseinrichtungen und wichtige Infrastruktur abgesehen, das ist offensichtlich. Der Schaden, der unserer Gesellschaft und unserer Infrastruktur durch türkische Bomben zugefügt wurde, ist so groß, dass es mindestens 10 Jahre dauern wird, bis wir uns davon erholt haben. Aber wir sind hartnäckig und entschlossen!
Wir sind eine landwirtschaftlich geprägte Region und arbeiten in Projekten an der Verbesserung der Erträge.
Wie ist die Rolle der Stadtverwaltung? Wie verändert sie sich mit dem neuen Gesellschaftsvertrag?
Rewshan Abdi: Im alten Gesellschaftsvertrag ist die Stadtverwaltung sowohl mit dem Bezirksrat als auch mit dem Stadtverwaltungskomitee des jeweiligen Kantonsrats verbunden. Das bedeutete die doppelte Anzahl an monatlichen Sitzungen und Berichten. Im neuen Gesellschaftsvertrag wird das Stadtverwaltungskomitee abgeschafft und die Gemeinden erhalten Autonomie in Bezug auf die Bezirksräte. Stattdessen wird ein Verband der Stadtverwaltungen gegründet. Die Bürger:innen werden ihre Ko-Bürgermeister:innen wählen, und diese sind automatisch Mitglieder des Verbands der Stadtverwaltungen.
Wir als Stadtverwaltung werden also weiterhin mit den Räten und Kommunen zusammenarbeiten, aber wir werden unabhängig sein. Wir treffen uns jeden Monat mit allen Kommunen. Auch wenn die Stadtverwaltung nicht eng mit den Kommunen verbunden ist, stimmen wir uns untereinander ab. Die Kommunen selbst sind weiterhin direkt mit dem Bezirksrat verbunden. Diese Änderungen sind noch in Arbeit und sind noch nicht in die Praxis umgesetzt.
Im alten Gesellschaftsvertrag hatte der Kantonsrat die Aufgabe mit einem dafür gebildeten Ausschuss die Arbeit der Stadtverwaltungen zu begleiten und zu überprüfen. Manchmal übernahm dieser Ausschuss die Aufgaben der Stadtverwaltung und erledigte damit die Arbeit anderer, statt die eigene. Dieses Problem sollte mit der Änderung des Systems im Rahmen des neuen Gesellschaftsvertrags behoben werden, da die Stadtverwaltung mehr Unabhängigkeit erhalten wird. Das gilt auch für die Finanzen. Es ist zu hoffen, dass der Prozess nun reibungsloser abläuft, mit weniger Bürokratie und weniger Einmischung seitens des Bezirksrats und des Kantonsrats
Darüber hinaus hat sich mit dem neuen Gesellschaftsvertrag der Aufgabenbereich der Stadtverwaltungen um einige Aufgaben erweitert. Bisher war ihre Arbeit auf die Erbringung von Dienstleistungen und die Instandhaltung der Infrastruktur ausgerichtet. Wir waren nicht in der Lage, zusätzliche Aufgaben anzupacken, z. B. in den Bereichen Kultur, Nothilfe, Soziales.
Es ist immer der Mangel an Ressourcen wie z.B. Geld, der es uns schwer macht über die Grundversorgung hinausgehende Aufgaben zu erfüllen. Wir hoffen, dass sich dieser Zustand bessert.
Natürlich sehen wir in den letzten Jahren Fortschritte. Im Jahr 2015 lag die Stadt Kobanê in Trümmern, und wir waren dabei, die Trümmer zu beseitigen und alles wieder aufzubauen. Das hat ein Jahr gedauert.
Die Arbeit heute kann nur so gut sein, wie das Budget reicht. Trotz geringer Finanzen konnten wir Dienstleistungen erbringen und, sagen wir mal, 70-80 % der Probleme der Menschen lösen. Es gibt zwar immer noch Dinge, die dringend benötigt werden, aber ein großer Teil der Infrastruktur wurde bereits aufgebaut. Die Menschen haben sie selbst wiederaufgebaut. Es gab keine Hilfe von außen, nicht von Europa, nicht von der Koalition (Internationale Koalition im Kampf gegen den IS)! Auch heute noch leben Menschen in gemieteten Häusern, weil sie ihre alten Wohnungen nicht wiederaufbauen konnten.
Welche Auswirkungen hatten die jüngsten türkischen Luftangriffe auf die wirtschaftliche Lage in der DAANES? Laut Mazloum Abdi (Generalkommandant der Demokratischen Kräfte Syriens – QSD auch SDF) ist die Hälfte des QSD-Budgets verloren gegangen ist. Wie sieht die Situation bei Ihnen aus?
Ferhan Haji Issa: Der Wirtschaftsausschuss der DAANES kann Ihnen die genauen Zahlen nennen. Ich kann Ihnen die aktuelle Situation anhand von Beispielen erläutern. Allein für den Wiederaufbau des zentralen Gaskraftwerks Siwêdiyê (arab. Suwaydiyah) wird eine Milliarde Dollar benötigt. Für eine Region, die unter einem Embargo steht, eine Region, die keine Hilfe von außen erhält, eine Region, die sich selbst regiert, ist 1 Milliarde Dollar ein gewaltiger Betrag. Unser Ansatz »nur das Nötigste« bedeutet, dass wir nur die Hälfte der Dinge tun können, die wir wollen.
Die amerikanischen Wirtschaftssanktionen wurden 2022 für Nord- und Ostsyrien aufgehoben. Gibt dadurch positive wirtschaftliche Auswirkungen?
Ferhan Haji Issa: Nein. Es war eine oberflächliche Veränderung, und nichts hat sich wirklich verbessert. Wenn Amerika hier wirklich wirtschaftlich helfen will, sollte es sich mit den Institutionen hier in Bezug auf Finanzen, Außenbeziehungen und Grenzübergänge abstimmen, aber es hat sich nichts getan. Der Grund dafür ist der politische Druck, den die Türkei ausübt.
Unsere Situation in NES ist besser verglichen mit den anderen Regionen Syriens. Wir verwalten uns selbst durch die DAANES. Aber unsere Grenzübergänge sind im Grunde genommen geschlossen und keine externe Hilfe von der internationalen Gemeinschaft kann uns erreichen. Wir sind auf uns selbst angewiesen. Die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen (Ceasar-Act) war ein Symbol der Unterstützung, in den Medien publiziert aber ohne praktische Auswirkung vor Ort. Amerika spielt innerhalb von NES keine verantwortungsvolle Rolle.
Wie wirken sich die gegen Assads Umfeld gerichteten Wirtschaftssanktionen auf NES aus?
Ferhan Haji Issa: Die Sanktionen gegen Syrien haben in erster Linie die Menschen in Syrien getroffen. Die Gesellschaft selbst war davon betroffen. Einige Personen – Geschäftsleute – wurden mit Sanktionen belegt, aber das Regime selbst hat nicht wirklich darunter gelitten. Das Regime sollte bestraft werden, denn das Regime war an den Massakern in Syrien beteiligt. Seit der Machtübernahme des Baath-Regimes zahlt das syrische Volk einen hohen Preis. Die Sanktionen sollten sich gegen das Regime richten und gleichzeitig die Gesellschaft schützen. Diese Sanktionen haben aber das Volk mehr getroffen als das Regime. Was immer in den Gebieten des Regimes geschieht, betrifft auch uns. Wenn der Wert des Dollars gegenüber dem syrischen Pfund steigt, leiden auch wir darunter.
Wir verwenden bewusst die syrische Währung. Der DAANES wird immer wieder Separatismus vorgeworfen, es wird unterstellt wir wollten uns von Syrien abspalten und einen eigenen Staat gründen. Wir versuchen, diese Unterstellung zu widerlegen.
Wie haben sich die jüngsten türkischen Angriffe auf die Stromversorgung in Kobanê im Unterschied zu anderen Kantonen ausgewirkt?
Ferhan Haji Issa: Die Türkei hat unsere Dienstleistungseinrichtungen und wichtige Infrastruktur angegriffen und unsere Stromtransformatoren zerstört. Wir haben jetzt drei oder vier Stunden Strom pro Tag. Das reicht nicht aus, um die Bedürfnisse der Menschen zu decken. 2014, als der IS angriff, wurde ein Großteil von Kobanê völlig zerstört. Nachdem der IS besiegt war, begann der türkische Staat, uns ins Visier zu nehmen. Wir haben das Gebiet um Kobanê vom IS befreit – aber die Türkei hat die Rolle des Angreifers übernommen. Gleichzeitig verfolgt die Türkei ein strategisches Konzept. Sie hat die Kontrolle über das Wasser des Euphrat, das in unsere Region fließt und für unsere Stromversorgung unabdingbar ist. Wir besprechen dies mit der DAANES und werden einen Weg finden. Vielleicht werden wir Stromgeneratoren hierher bringen. Das ist nicht das, was wir wollen, aber es ist notwendig. Die Menschen können ohne Strom nicht leben. Wir teilen uns den Strom auch kantonsübergreifend. Unser Bedarf ist höher als in den anderen Kantonen. In Qamişlo zum Beispiel gab es nicht diese massive Kriegszerstörung wie in Kobanê. In Raqqa wurde die zerstörte Strominfrastruktur aus dem Krieg gegen den IS recht schnell wieder aufgebaut, weil viele internationale Organisationen geholfen haben. Leider war das in Kobanê nicht so.
Die Kommunalwahlen stehen vor der Tür. Sie sollen im April stattfinden [nach diesem Interview gab die DAANES den 30. Mai als Wahltermin bekannt]. Welche Verantwortung tragen Sie in Bezug auf die Wahlen?
Ferhan Haji Issa: Es ist wichtig folgendes klarzustellen: In den Medien wurde zwar berichtet, dass die Wahlen im April stattfinden sollen, aber das ist noch nicht bestätigt. Wir müssen die Bedingungen in Bezug auf Sicherheit und Stabilität berücksichtigen. Wir müssen uns gut auf diese Wahlen vorbereiten. Wir befinden uns jetzt im März. Können wir uns rechtzeitig auf den April vorbereiten? Als Exekutivrat wollen wir sicherstellen, dass die Wahlen reibungslos und demokratisch ablaufen, aber wir sind nicht direkt daran beteiligt. Es wurde die Hohe Wahlkommission gebildet, die die Wahlen überwachen wird. Sie ist verantwortlich und wir unterstützen sie nach Bedarf.
Wer sind die Mitglieder der Hohen Wahlkommission?
Ferhan Haji Issa: Sie hat 20 Mitglieder. Der Volksrat der DAANES hat sie ausgewählt. Sie werden die Wahlen überwachen und auf Einmischungen oder Mängel achten. Diese Wahlen sind eine relativ neue Sache für uns in NES. Daher ist viel Arbeit nötig, um sicherzustellen, dass sie erfolgreich verlaufen. Als Exekutivrat werden wir diese Kommission unterstützen ohne uns einzumischen.
Gibt es eine Kommission für NES insgesamt oder hat jeder Kanton seine eigene?
Ferhan Haji Issa: In der Kommission sind Mitglieder aus jedem Kanton vertreten.
Es gab bereits Kommunalwahlen im Jahr 2017, richtig?
Rewshan Abdi: Ja. Vor 2012 hatte der syrische Staat auch hier Stadtverwaltungen. Nach dem Krieg in Kobanê haben wir unsere eigene Stadtverwaltung aufgebaut, aber es gab kein Geld und kein System. Im Jahr 2015 begann die Stadtverwaltung Kobanê offiziell mit Ko-Vorsitzenden zu arbeiten. Die ersten Wahlen fanden Ende 2017 statt und 2018 nahmen die gewählten Vertreter:innen ihre Arbeit auf. Die damals gewählten Ko-Vorsitzenden sind immer noch in ihren Positionen. Eigentlich sollten alle zwei Jahre Wahlen stattfinden, aber das konnte nicht umgesetzt werden. Das damalige System, vor der Verabschiedung des neuen Gesellschaftsvertrags, sah folgendermaßen aus: Jeder Stadtverwaltung gehörten 11 Mitglieder an, darunter zwei Ko-Vorsitzende und zwei Stellvertreter:innen, die vom Bezirksrat gewählt wurden. Nach dem alten Verwaltungssystem gab es 14 Stadtverwaltungen in der Euphratregion, die aus den Kantonen Kobanê und Girê Spî (Tel Abyad) bestand. Der neue Gesellschaftsvertrag ändert dieses System ein wenig. Das geografische Gebiet, das früher als Euphrat-Region bezeichnet wurde, heißt jetzt Euphrat-Kanton. In der gesamten NES werden alle früheren Regionen nun als Kantone bezeichnet, und die geografische Einheit, die früher als Kanton bezeichnet wurde, wurde administrativ abgeschafft. Wir werden auch die Verwaltungsgrenzen neu ziehen. Wie ich bereits sagte, hatte die Euphrat-Region 14 Verwaltungen – ursprünglich waren es mehr, aber durch die Invasion und Besatzung durch die Türkei 2019 haben wir einige verloren.
Für die Kommunalwahlen werden wir das ändern, aber es ist noch nicht klar, wie das aussehen wird. Vielleicht wird die Zahl der Stadtverwaltungen steigen, vielleicht sinken. Ich kann jetzt noch nicht sagen, wie viele kommunale Ko-Vorsitzende für den Euphrat-Kanton gewählt werden. Es sind noch viele Vorbereitungen für die Wahlen zu treffen. Auch die Volkszählung ist noch nicht abgeschlossen, so dass wir die Bevölkerungszahlen noch nicht geklärt haben.
Glauben Sie, dass Parteien des Kurdischen Nationalrats (ENKS) an den kommenden Wahlen teilnehmen werden?
Ferhan Hadschi Issa: Als Exekutivrat des Kantons Euphrat ist es nicht unsere Aufgabe, uns mit diesen Fragen zu befassen. Der Volksrat befasst sich mit Fragen der Zulassung von politischen Parteien zu den Wahlen. Ich glaube, dass der Volksrat den Beitritt der ENKS-Parteien positiv bewerten würde. Wenn sie eine politische Partei sind, die in dieser Region arbeitet, können sie zur Wahl antreten. Aber ich möchte etwas zur Situation des ENKS sagen. Seine Situation und seine Verbindungen zur syrischen Opposition und zum türkischen Staat lassen Zweifel an seiner ehrlichen Verbundenheit zu diesem Land aufkommen. Er sollte seine Position klären z.B. zur Besetzung Efrîns, wo täglich Menschen Misshandlungen ausgesetzt sind. Es gibt ein Sprichwort: »Man kann nicht beides haben.« Sie sind Freunde der syrischen Opposition und gleichzeitig präsentieren sie sich pro kurdisch. Das ist unehrlich. In der Realität ist die syrische Opposition eine Organisation, die den Terror und die Türkei, die unsere Regionen besetzt hält, unterstützt. Sie müssen sich entscheiden, was sie wollen. Wir verbieten keine Parteien. In NES ist das klar. Wir sind offen für den Dialog mit jedem. Aber wir können keine Doppelzüngigkeit dulden. Die Türkei beschießt und tötet uns mit Flugzeugen und Drohnen.
Und der ENKS sitzt neben der Türkei, isst mit ihr, nimmt Geld von ihr und unterstützt sie? Die Parteien des ENKS sollten klarstellen: Sind sie Menschen aus Rojava, Menschen aus der NES? Oder stellen sie sich auf die Seite derjenigen, die die Region und das Leben der Menschen hier zerstören? Ich glaube, die DAANES hat eine klare Haltung: Jeder kann an diesen Wahlen teilnehmen, aber ich denke, die Voraussetzungen müssen stimmen.
In den letzten 10 Jahren gab es hier nur einmal Kommunalwahlen. Wie werden Sie die Menschen über die bevorstehenden Wahlen informieren und aufklären, und wie werden die Wahlen ablaufen?
Rewshan Abdi: Wenn die Zeit reif ist, werden wir Informationsveranstaltungen durchführen, damit die Menschen das Wahlsystem verstehen. Wir als Stadtverwaltung werden nicht dafür verantwortlich sein diese Veranstaltungen durchzuführen. Vielleicht werden es die Kommunen, vielleicht die Hohe Wahlkommission übernehmen.
Wahlen sind ein Teil der Demokratie. Aber wenn jemand von 51 % der Wähler gewählt wird, gehen die Stimmen der 49 %, die für jemand anderen gestimmt haben, leer aus. Ihre Stimme wird bedeutungslos.
Dies wird thematisiert. Hier wollen wir, dass jeder Mensch seine Stimme hören kann und sich vertreten fühlt. Hier kann jede:r in die Stadtverwaltung kommen, mit den Ko-Vorsitzenden sprechen, sagen, dass jemand, der mit einer Aufgabe betraut ist, seine Rolle nicht richtig ausfüllt usw. Wir haben eine Art von Demokratie, in der man Kritik üben kann und angehört wird, und jeder Mensch kann zu uns kommen und uns alles sagen. Wir freuen uns, wenn die Menschen mit uns reden und Kritik üben.
Unterscheidet sich das Wahlverfahren für die Räte vom Verfahren für die Stadtverwaltungen?
Mohamed Hamdan al-Mohamed: Ja. Künftige Wahlen auf der Ebene der Unterbezirks-, Stadt- oder Kantonsräte werden nach einem 60/40-System durchgeführt. Die Stimmen der Einzelpersonen machen 60 % der Gesamtstimmen aus und die Stimmen der Organisationen der Zivilgesellschaft werden mit 40 % gewichtet. Dies ist im neuen Gesellschaftsvertrag festgelegt. Das 60/40-System soll die Vertretung von Minderheiten sicherstellen. Ich bin Türke, lebe aber in einem Gebiet, das von Araber:innen und Kurd:innen bewohnt wird. Meine Stimme würde bei einer reinen Direktwahl verloren gehen. Wir müssen die Rechte der Minderheiten wahren. Zivilgesellschaftliche Organisationen von ethnischen und religiösen Minderheiten und Frauen haben deshalb eine eigene Stimme.
Rewshan Abdi: Bei den Kommunalwahlen gilt jedoch das System »Eine Person – eine Stimme«.
Fußnoten
1 https://rojavainformationcenter.org/2 Die Leishmaniose ist eine Infektionskrankheit, die durch Kleinstlebewesen – Leishmanien – verursacht wird. Übertragen werden sie mit dem Stich der Sand- oder Schmetterlingsmücke, die in warmen Regionen lebt.
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Zwölf Jahre Revolution in Rojava – Ein Rückblick
Müslüm Örtülü, Mitarbeiter von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit
Die zwölfjährige Geschichte der Revolution in Rojava ist eine zwölfjährige Geschichte von Krieg und Widerstand, von Zerstörung und Wiederaufbau, aber vor allem von der Umsetzung eines alternativen, demokratischen und inklusiven Gesellschaftssystems inmitten einer Region, die von Krisen und Hoffnungslosigkeit geprägt ist. Diese Revolution ist zu einem Hoffnungsschimmer für die Menschen in der Region und in der ganzen Welt geworden, weil sie mit dem vorherrschenden System in der Region bricht, das den Menschen über 100 Jahre hinweg Krieg und Unterdrückung gebracht hat. In diesem Beitrag wollen wir einen Blick zurück auf die letzten zwölf Jahre dieser Revolution werfen.
Die Revolution in Rojava begann in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012, als die Bevölkerung von Kobanê gemeinsam mit den Volksverteidigungseinheiten das syrische Regime aus der Stadt vertrieben und die Kontrolle übernahmen. Dies war der Höhepunkt einer langen Geschichte des Widerstands. Viele sehen jedoch den Aufstand von Qamişlo im Jahr 2004 als den eigentlichen Ausgangspunkt. Nach einem Fußballspiel eskalierten die Spannungen und mündeten in landesweite Aufstände, die vom syrischen Regime blutig niedergeschlagen wurden. Diese Ereignisse verstärkten die Bemühungen der kurdischen Parteien, die Gesellschaft zu organisieren und klandestine Strukturen aufzubauen. Die kurdische Bevölkerung war nicht mehr bereit, die jahrzehntelange Unterdrückungspolitik des syrischen Baath-Regimes hinzunehmen.
Die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) spielte eine Schlüsselrolle in diesen Entwicklungen. Gegründet im Jahr 2003, orientierte sie sich an den Ideen Abdullah Öcalans und seinem Konzept des demokratischen Konföderalismus. Ein weiterer wichtiger Akteur war der kurdische Frauendachverband Yekîtiya Star, der sich ebenfalls im Untergrund organisierte und später eine tragende Säule der Revolution wurde.
Als der Arabische Frühling Syrien im März 2011 erreichte, traten die bisher geheimen Rätestrukturen in Rojava öffentlich auf. Die Gründung der Selbstverteidigungseinheiten des Volkes (YXG) folgte bald darauf. Während Syrien in einen Bürgerkrieg versank, blieben die kurdischen Gebiete vorerst vergleichsweise ruhig. Die kurdische Bevölkerung organisierte sich weiter, unterstützt von der Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM), gegründet von Mitgliedern der PYD.
Der Aufbau autonomer Selbstverwaltungsstrukturen
Das Baath-Regime beobachtete die Entwicklungen in Rojava mit Besorgnis, jedoch wurde der Konflikt im Rest des Landes vorerst priorisiert. Um die kurdische Bevölkerung zu besänftigen, versprach Bashar al-Assad, einem Teil der staatenlosen Kurd:innen die syrische Staatsbürgerschaft zu geben.
Der Rückzug des Regimes ermöglichte es ab Mitte 2012 den kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen, die Kontrolle über drei geographisch voneinander getrennte »Inseln« zu erlangen, bekannt als Kantone Cizîrê, Kobanê und Efrîn. Obwohl diese Gebiete nicht miteinander verbunden waren, gelang es TEV-DEM, in allen drei Kantonen Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen und eine koordinierte Basis zu schaffen.
Durch die Selbstorganisierung unter TEV-DEM konnte die Gesellschaft die lebenswichtige Infrastruktur aufrechterhalten und weiterentwickeln. Tägliche Stromversorgung und die Sicherstellung der Lebensmittelversorgung waren einige der Errungenschaften dieser Bewegung. Doch das Herzstück der Revolution bildeten die Rätestrukturen in den Stadtteilen und Dörfern. TEV-DEM forcierte den Aufbau dieser Strukturen und verfolgte von Anfang an das Ziel, alle gesellschaftlichen Komponenten in die Selbstverwaltung einzubinden.
Die Rolle des Kurdischen Nationalrats und der »syrischen Opposition« sowie die Politik des »Dritten Weges«
Neben der PYD und TEV-DEM sind zahlreiche weitere kurdische Parteien in Rojava aktiv, darunter etwa 20, die auf die Demokratische Partei Kurdistans in Syrien zurückgehen. Einige dieser Parteien schlossen sich 2011 zum Encûmena Niştimanî ya Kurdî li Sûriyeyê (ENKS, Kurdischen Nationalrat) zusammen, hatten jedoch nicht den gleichen Einfluss wie PYD und TEV-DEM. Der ENKS wurde international beachtet, erhielt aber wenig Unterstützung in der Bevölkerung. In Rojava wurde der Versuch unternommen, die kurdischen Akteur:innen zusammenbringen, auch um den Einfluss externer Kräfte auf die Revolution zu unterbinden. Die Zusammenarbeit zwischen TEV-DEM und ENKS war allerdings hauptsächlich aufgrund interner Differenzen kurzlebig. Die PYD lehnte Vorschläge des ENKS ab, Rojava ähnlich wie Südkurdistan in zwei Einflusssphären aufzuteilen. Ein Teil der ENKS-nahen Parteien spaltete sich später ab und entschied sich, Teil der Selbstverwaltung zu werden. Die restlichen Teile des ENKS stellen den Anspruch auf Inklusivität aller ethnischer Gemeinschaften, insbesondere der Araber:innen, durch die Selbstverwaltung in Frage, während die Selbstverwaltung eine Einbindung dieser Bevölkerung anstrebt.
Ebenso komplex gestalteten sich die Beziehungen zwischen der Selbstverwaltung in Rojava und der »syrischen Opposition«. Während anfänglich Aktivist:innen in den »Lokalen Koordinationskomitees« die treibende Kraft der Aufstände im restlichen Syrien waren, übernahmen bald darauf politische Strukturen hauptsächlich aus dem Exil die Führung im Kampf gegen das Baath-Regime. Der Syrische Nationalrat, der in der Türkei tagte und Unterstützung von westlichen Ländern und den Golfstaaten erhielt, war einer dieser politischen Zusammenschlüsse. In Syrien selbst trat die Freie Syrische Armee (FSA) als bewaffnete Struktur auf, die jedoch keiner einheitlichen Kommandostruktur unterlag. Die sogenannte »syrische Opposition« verfolgte ähnlich wie das Baath-Regime eine feindliche Politik gegenüber der Selbstverwaltung, vor allem aufgrund des Einflusses der Türkei auf den Syrischen Nationalrat, der die PYD als Terrororganisation betrachtet.
Die Türkei versuchte zunächst, Einfluss auf Rojava zu nehmen, lud sogar den Co-Vorsitzenden der PYD, Salih Muslim, zu Gesprächen ein. Doch die Bemühungen von Muslim, die Türkei von einer neutralen Haltung gegenüber der Selbstverwaltung in Rojava zu überzeugen, scheiterten. Im Gegensatz dazu unterhielt die Türkei wohlwollende Beziehungen zu den kurdischen Parteien des ENKS, da sie hoffte, dass diese gegenüber der PYD an Einfluss in Rojava gewinnen würden.
Die Selbstverwaltung verfolgte eine Politik des »Dritten Weges«, um nicht in den Bürgerkrieg zwischen dem Baath-Regime und der »syrischen Opposition« hineingezogen zu werden. Im Fokus standen der Aufbau und Schutz des eigenen Gesellschaftssystems. Diese Strategie wurde jedoch nach dem Angriff des IS auf Kobanê im Herbst 2014 vor eine neue Herausforderung gestellt. Die Politik des »Dritten Weges« machte die Akteur:innen Rojavas weniger anfällig für externe Einflüsse, führte aber auch dazu, dass sie in den Anfangsjahren der Revolution im Gegensatz zur »syrischen Opposition« keine internationale Unterstützung erhielten.
Der islamistische Terror erreicht Rojava
Im Verlauf des syrischen Bürgerkrieges gewannen islamistische Gruppierungen innerhalb der Opposition und insbesondere in ihren bewaffneten Strukturen zunehmend an Einfluss. Die Muslimbrüder im Syrischen Nationalrat sowie verschiedene islamistische Gruppen in der Freien Syrischen Armee dominierten bald das Geschehen. Die islamistische Al-Nusra Front, der syrische Ableger von Al-Qaida, trat ab 2012 offen als eigenständige Kraft auf, gefolgt vom Aufkommen des Islamischen Staates (IS) im Jahr 2013.
Die ersten Angriffe dschihadistischer Gruppen auf die Gebiete der Selbstverwaltung in Rojava ereigneten sich bereits Ende 2012, darunter die Attacke der Al-Nusra Front auf die Stadt Serê Kaniyê. Der erfolgreiche Widerstand der Kräfte von YPG und YPJ gegen diese Gruppierungen stärkte die Sympathien für die Selbstverwaltung in den kurdischen Gebieten. Die Angriffe des IS auf Kobanê und der heldenhafte Widerstand der kurdischen Verteidigungseinheiten brachten die Revolution von Rojava erstmals umfassend in die westlichen Medien.
Der Kampf um Kobanê als Schlüsselmoment
Das öffentliche Interesse und weltweite Solidaritätsaktionen für Kobanê führten dazu, dass die internationale Koalition im Kampf gegen den IS den Verteidiger:innen der Stadt zur Seite sprang. Die internationale Koalition unter der Führung der USA sah sich aufgrund des öffentlichen Drucks letztlich gezwungen, IS-Stellungen in Nordsyrien anzugreifen und die Kräfte der YPG und YPJ zu unterstützen.
Nach dem Sieg über den IS in Kobanê setzte die internationale Koalition ihre Zusammenarbeit mit den kurdischen Kräften fort, um weitere Städte vom IS-Kalifat zu befreien. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) wurden gegründet, unter deren Dach neben den Einheiten der YPG und YPJ auch verschiedene arabische bewaffnete Strukturen zusammenkamen. Die QSD befreite Städte wie Minbic und Raqqa, was schließlich im März 2019 zur vollständigen Zerschlagung der Territorialherrschaft des IS in Syrien führte.
Die Türkei greift aktiv ins Kriegsgeschehen ein
Die Türkei beobachtete mit Sorge die wachsende Legitimation und das Territorium der politischen Akteur:innen in Nord- und Ostsyrien. Trotz des Kampfes gegen den IS verfolgte Ankara weiterhin eine feindliche Haltung gegenüber der Selbstverwaltung und griff Ende 2016 selbst militärisch in den Syrienkonflikt ein. Die Operation »Schutzschild Euphrat« sollte verhindern, dass die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) weitere Gebiete unter ihre Kontrolle bringen.
Im Januar 2018 intensivierte die Türkei ihre Angriffe mit der »Operation Olivenzweig«, die sich direkt gegen die Selbstverwaltung in Efrîn richtete. Die Offensive führte zur Vertreibung von YPG- und YPJ-Einheiten sowie zu Massenvertreibungen der Bevölkerung und gezielter Ansiedlung von arabischen Geflüchteten in der Stadt. Islamistische Fraktionen, auch ehemalige IS-Kämpfer, beteiligten sich an der Besetzung von Efrîn.
Eine weitere Militäroffensive, die »Operation Friedensquelle«, folgte im Oktober 2019. Die Türkei besetzte Gebiete zwischen den Städten Serê Kaniyê und Girê Spî in Nordsyrien und zwang mehr als 200.000 Menschen zur Flucht, während rund 450 Zivilist:innen ihr Leben verloren. Diese Besatzungen bedrohen weiterhin die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien und gefährden die Aufbaubemühungen des demokratischen Konföderalismus in der Region bis heute.
Andauernde Bedrohung und Zerstörung der Infrastruktur
Seit Oktober vergangenen Jahres hat der türkische Staat zudem in mehreren Angriffswellen weite Teile der zivilen Infrastruktur Nord- und Ostsyriens zerstört. Den Menschen in der Region soll die Lebensgrundlage entzogen werden. Die internationale Staatengemeinschaft schweigt hingegen zu diesen Kriegsverbrechen.
Die Angriffe im Januar 2024 führten dazu, dass rund zwei Millionen Menschen keine Elektrizität hatten. Die Zerstörung der Energieversorgung beeinträchtigte auch die Trinkwasserversorgung. Die Treibstoffknappheit stellt zudem ein erhebliches Risiko für die humanitäre Hilfe dar und beeinträchtigt die Mobilität des Personals, den Transport lebenswichtiger Güter sowie die Funktionsfähigkeit lebensrettender Gesundheitseinrichtungen und medizinischer Geräte. Im Frühjahr haben zudem türkeitreue Milizen damit begonnen, gezielt landwirtschaftliche Flächen zu bombardieren. Die Angriffe zielen darauf ab, die Selbstversorgung der Bevölkerung mit Weizen und anderem Getreide zu unterbrechen. Während der türkische Staat einerseits mit weiteren Militäroffensiven in der Region droht, setzt er auf eine Zermürbungsstrategie, mit der die Lebensgrundlagen der Bevölkerung zerstört werden sollen, um sie in die Flucht zu treiben.
Allen Angriffen zum Trotz: Der Aufbau der Selbstverwaltung schreitet voran
Trotz der bestehenden militärischen Bedrohung setzt die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien den Aufbau gesellschaftlicher Strukturen fort. Nach der Etablierung der Selbstverwaltungen in den Kantonen Cizîrê, Kobanê und Efrîn wurde ab November 2013 eine Übergangsregierung geschaffen, die die Koordination zwischen den drei Kantonen übernahm. Dies mündete in die Ausrufung der »Autonomen Administration von Rojava« und die Verabschiedung des ersten Gesellschaftsvertrags.
Nach der Ausdehnung des Kampfes gegen den IS auf mehrheitlich arabische Gebiete wurde der Demokratische Syrienrat (MSD) gegründet, eine multiethnische und multireligiöse Struktur, die eine demokratische Nachkriegsordnung für Syrien anstrebt. Die Namensänderung zur »Demokratischen Föderation von Nord- und Ostsyrien« im Dezember 2016 betonte die multiethnische Natur der Selbstverwaltung.
Mit der Zerschlagung der Territorialherrschaft des IS wurden die Selbstverwaltungsstrukturen erneut reformiert. Die »Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien« wurde ausgerufen und die Selbstverwaltungsgebiete in sieben Regionen unterteilt. Die Umstrukturierungsarbeiten in Nord- und Ostsyrien dauerten auch in der Folgezeit an. Es ging nun darum, die Rätestrukturen in den befreiten Gebieten aufzubauen und das Gesellschaftsmodell im Austausch mit den Teilen der Bevölkerung, die vom IS befreit worden waren, zu vertiefen. Dieser Prozess dauerte bis zum Dezember 2023, als schließlich die bislang letzte Version des Gesellschaftsvertrags ratifiziert wurde.
»Er [der Gesellschaftsvertrag] wurde mit der Zustimmung aller Segmente der Gesellschaft und unter Beteiligung der Vertreter:innen aller Institutionen, Organisationen, Religionen, Konfessionen und Völker umgesetzt. Es war inakzeptabel, dass nur eine nationale Identität herrscht und andere Nationen in einer Minderheitenposition bleiben. Mit dem Gesellschaftsvertrag wurden die Rechte der verschiedenen ethnischen, religiösen und konfessionellen Identitäten gesichert.« (Stêr Bişar Qasim, Mitglied des Frauenrates von Nord- und Ostsyrien) Stêr Bişar Qasim war Mitglied der Vorbereitungskommission für den Gesellschaftsvertrag. Die intensive Aushandlungsphase des Gesellschaftsvertrags führte unter anderem zu einer Reform der regionalen Organisierung in Form von Kantonen. Die Kantone Cizîrê, Firat, Raqqa, Tabqa, Deir ez-Zor, Minbic und Efrîn-Şehba sind das Ergebnis.
Der Gesellschaftsvertrag soll zudem eine Blaupause für ein zukünftiges, dezentrales und demokratisches Gesamtsyrien darstellen, wie Qasim betont: »Wir schaffen ein Modell, das weit von einem autokratischen System entfernt ist. Die Ergebnisse des zentralistischen Systems in Syrien liegen uns offen vor Augen. Die Rechte der verschiedenen ethnischen, religiösen und konfessionellen Identitäten wurden verletzt. Aus diesem Grund haben wir sowohl in unseren Diskussionen als auch im vorliegenden Gesellschaftsvertrag die Demokratische Syrische Republik als unser Ziel benannt.«
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024