Editorial

Liebe Leser:innen

ganze zwölf Jahre sind seit dem Ausbruch der Revolution in Rojava vergangen. Hatten vor der Revolution nur wenige Menschen die politischen Entwicklungen im kleinsten Teil Kurdistans auf dem Schirm, so änderte sich dies mit dem 19. Juli 2012 schlagartig. Seit nunmehr zwölf Jahren sind unsere Augen auf die selbstverwalteten Gebiete im Norden und Osten Syriens gerichtet.

Auf den ersten Blick sind es Themen wie Krieg, permanente Bedrohung, Verbrechen und Vertreibung, aber auch der Widerstand der Gesellschaft, die uns beschäftigen, wenn wir auf die Region schauen. Kein Wunder, denn seit Beginn der Revolution sind diese Gebiete permanenten Angriffen ausgesetzt, durch islamistische Gruppen wie den IS, immer wieder auch durch das Baath-Regime, vor allem aber durch die Türkei und ihre dschihadistischen Partner. Das ist die sichtbare Seite der ­Revolution, die uns auch in diesen Tagen Sorge bereitet. Denn die Bedrohungslage für die Selbstverwaltungsgebiete im Norden und Osten Syriens ist nach wie vor akut.

Aber es gibt auch eine andere Seite dieser Revolution, die vielleicht erst auf den zweiten Blick sichtbar wird, aber mindestens genauso wichtig ist: Und das ist der Prozess des Aufbaus eines alternativen, demokratischen und gleichberechtigten Gesellschaftssystems. Dieser Prozess zeigt sich im Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen jenseits des Nationalstaates und nach dem Vorbild des demokratischen Konföderalismus. Er zeigt sich im Aufbau der Frauenrevolution, die weit über die Grenzen Nord- und Ostsyriens hinaus Wellen geschlagen hat. Er zeigt sich auch im Aufbau einer demokratischen Nation, die langsam aber sicher das jahrzehntelange Misstrauen zwischen den Völkern und Religionsgemeinschaften überwindet. Er zeigt sich aber auch im Aufbau eines demokratischen Wirtschaftssystems, einer demokratischen Justiz, eines demokratischen Bildungssystems und so vielem mehr.

All dies macht die Bedeutung dieser Revolution aus. Und doch müssen wir uns immer wieder bewusst machen, dass dieser Aufbau eben ein Prozess ist. Es braucht Zeit, um inmitten einer Region, die von Krieg, jahrzehntelang geschürtem Nationalismus sowie starren patriarchalen Strukturen geprägt ist, ein demokratisches und gleichberechtigtes Gesellschaftssystem zu etablieren. Der Aufbau alternativer gesellschaftlicher Strukturen ist die eine Ebene, um Neues zu schaffen. Die andere Ebene ist der Aufbau eines demokratischen Bewusstseins in der Gesellschaft. Es geht darum, Menschen, die nie die Möglichkeit hatten, demokratisch und frei über ihr eigenes Leben zu bestimmen, ein Bewusstsein dafür zu geben, warum genau das der Schlüssel zur Lösung ihrer Probleme ist.

Zwölf Jahre sind keine lange Zeit, um einen so grundlegenden Bewusstseinswandel in der Gesellschaft herbeizuführen. Umso schwieriger, wenn dieses einzigartige Projekt von so vielen Seiten permanenten Angriffen ausgesetzt ist. Und doch feiert die Revolution ihren zwölften Jahrestag, und der Aufbauprozess schreitet voran…

Es gibt also eine ganze Reihe wichtiger Gründe, warum wir uns entschieden haben, die Revolution in Rojava zum ersten Schwerpunktthema des Kurdistan Reports zu machen. Der zwölfte Jahrestag der Revolution ist nur einer davon. Der Kurdistan Report wird fortan im dreimonatlichen Rhythmus, also insgesamt vier Mal im Jahr erscheinen. Dafür haben wir uns entschieden, dass jede Ausgabe ein eigenes Schwerpunktthema haben wird, das wir aus verschiedensten Blickwinkeln näher beleuchten werden.

Nun wünschen wir euch viel Spaß mit der ersten Ausgabe des Kurdistan Reports mit einem Schwerpunktthema: Der Rojava-Revolution.

Eure Redaktion


 Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024