Türkische Besatzungs- und Kriegspolitik in Nord- und Ostsyrien
Fabian Beimler, freier Journalist
Es sind nun 13 Jahre vergangen, seit der Bürgerkrieg in Syrien begann und sich in Nord- und Ostsyrien im Zuge der Revolution eine Selbstverwaltung etablieren konnte. Der IS als eine Bedrohung für die junge Revolution wurde physisch geschlagen. Mit seinen Überresten und Folgen hat die Region jedoch nach wie vor zu kämpfen. Grund dafür ist besonders die Türkei, die von Beginn an die von Kurd:innen angeführte Revolution angegriffen hat und seither mit unterschiedlichen Strategien für Destabilisierung in der Region sorgt. Die Existenz der DAANES1, die ein Konzept außerstaatlicher Selbstorganisierung darstellt, sieht die Türkei als Bedrohung. Besonders, da sie auch den Kurd:innen in der Türkei Hoffnung gibt, eines Tages selbstbestimmt leben zu können.
30 km »Sicherheitszone« – Besetzte Gebiete
Die wiederholte Forderung Erdoğans nach einer »Sicherheitszone«, an der südlichen Grenze der Türkei hat das Ziel, die demokratische autonome Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien unmöglich zu machen. Die Umsetzung des neo-osmanischen Besatzungsprojekts begann mit der Operation »Schutzschild Euphrat«, im Jahr 2016, die das Ziel hatte, die Verbindung der Kantone Efrîn und Minbic zu verhindern. In beiden hatte die Gesellschaft schon in den Jahren zuvor begonnen, sich nach dem Konzept des demokratischen Konföderalismus zu organisieren und Strukturen aufzubauen.
In den Jahren darauf folgte die Besatzung von Efrîn (2018) sowie von Serêkaniyê und Girê Spî (2019). Diese wurden durch die türkische Armee, Hand in Hand mit jihadistischen Söldnern, eingenommen. Bis heute herrscht in der vermeintlichen »Sicherheitszone« Chaos. Tägliche Gewalt, Bedrohungen, Plünderung, Entführungen, Zerstörung der Natur dienen den jihadistischen Söldnern der Türkei als Grundlage für ihre Finanzierung. Ein Großteil der Bevölkerung ist schon mit Beginn der Invasion geflohen. Nach und nach sollen auch möglichst viele kurdischstämmige Menschen aus ihrem Zuhause vertrieben werden.
Die aktuelle Lage in den besetzten Gebieten ist nur schwer nachzuvollziehen. Manchmal besteht noch Kontakt zu Nachbar:innen oder Verwandten, die nach der Invasion geblieben oder zurückgekehrt sind. Diese haben jedoch Angst, selbst am Telefon, offen über die Geschehnisse zu berichten. Denn wer sich gegen die Besatzer ausspricht, hat mit weiterer Gewalt zu rechnen.
Auf die Vertreibung der kurdischstämmigen Bevölkerung folgt die Ansiedelung vorwiegend arabisch- und turkmenischstämmiger Menschen. Oft sind es Geflüchtete aus unterschiedlichen Regionen. Die Siedlungen werden sowohl vom türkischen Staat als auch von NGOs finanziert. Diese NGOs haben teilweise ihren Sitz in Europa, Katar oder anderen Ländern und propagieren eine islamistische Ideologie. Der so herbeigeführte demografische Wandel ist Teil genozidaler Politik, die sich gegen Kurd:innen richtet.
Dieser findet auch Ausdruck in Form eines kulturellen Genozids. Es werden von den jihadistischen Besatzern kurdische Symbole entfernt bzw. ersetzt. In der seit 2018 besetzten Stadt Efrîn finden sich hierfür zahlreiche Beispiele. So wurde die an einem Kreisverkehr errichtete Statue von »Kawa dem Schmied« vor kurzem entfernt und durch eine Statue einer Olive ersetzt. Kawa ist dabei mythologisch mit dem kurdischen Neujahrsfest Newroz, verbunden und steht symbolisch für den Kampf gegen Unterdrückung. In der Stadt werden ebenso Namen von Straßen und Kreisverkehren geändert. Ein Beispiel ist dafür der »Azadî-Kreisverkehr«, der in »Atatürk-Kreisverkehr«, umbenannt wurde. Weiterhin werden gezielt türkische Fahnen ins Stadtbild eingebracht und anstatt der kurdischen Sprache wird nun Türkisch an den Schulen unterrichtet.
Des Weiteren wurden die besetzten Gebiete von der Türkei aufgeteilt und auch verwaltungstechnisch an die in der Türkei liegenden Verwaltungskreise angeschlossen. So sehen wir, dass auch auf offizieller Verwaltungsebene eine Annexion stattfindet.
Die besetzten Gebiete sind, wie ein sich ständig ändernder Flickenteppich, auf die jeweiligen Milizen aufgeteilt. Diese bekämpfen sich zeitweise auch untereinander. Die Gründe für die Auseinandersetzungen sind oft ökonomisch. Es geht um Checkpoints, Olivenfelder oder auch Häuser.
Die Checkpoints, die von den Söldnern betrieben werden, sind eine konstante Einnahmequelle, um von der lokalen Bevölkerung Geld zu erpressen. Auch werden dort Fahrzeuge nach Waren durchsucht, die teilweise oder vollständig beschlagnahmt werden. Besonders in den Erntesaisons ist dies zu beobachten. Jede Miliz erhebt Steuern und bestimmt, wieviel Geld pro Olivenbaum, pro geerntetes Kilo Oliven oder Olivenöl abgegeben werden muss. Müssen Menschen mehrere Gebiete unterschiedlicher Milizen mit ihren Waren passieren, bleibt am Ende nicht viel übrig, um den eigenen Unterhalt zu sichern.
Zudem werden die Olivenpressen zum Herstellen des Öls von den Milizen kontrolliert. So ist die lokale Bevölkerung gezwungen, die Oliven zu erhöhten Preisen weiterzuverarbeiten und einen höheren Anteil abzugeben. Den Olivenölhandel können die Milizen so voll kontrollieren, und es besteht für sie die Möglichkeit des Exports in die Türkei und über sie in andere Länder. Auch beschlagnahmen die Milizen ganze Olivenhaine, ernten sie ab oder fällen die Bäume, um das Holz zu verkaufen. Letzteres ist besonders im Winter häufig zu beobachten, da auch Diesel zum Heizen knapp ist. Die Olivenhaine sind oft sehr alt, sind seit Generationen im Besitz lokaler Familien und – einmal zerstört – nicht zu ersetzen. So wird die Natur und auch die Lebensweise der Bevölkerung zerstört. Wird das Projekt der 30 km-»Sicherheitszone« weiterverfolgt, so ist auch klar, dass ein weiterer Invasionsversuch kommen wird. Eine Verbindung der besetzten Gebiete zwischen dem Gebiet »Schutzschild Euphrat«, und der Straße M4 (von Girê Spî/Tel Abyad bis Serêkaniyê) ist eine mögliche Option. Dazwischen liegt die Stadt Kobanê. Etwas südlich liegt die Stadt Minbic, die schon in den Invasionsplänen im November 2021 als strategisches Ziel von der Türkei ausgemacht wurde. Um Minbic kommt es auch durchgehend, jedoch aktuell wieder in höherer Intensität, zu massiven Artillerieangriffen und Infiltrationsversuchen der jihadistischen Söldner aus den besetzten Gebieten. Eine Invasion in diese Gebiete wäre ein Novum, da die Türkei hier große Städte einnehmen müsste, was sehr hohe Verluste zur Folge hätte. Moderne Kriegsstrategien zur Einnahme von Städten sehen wir aktuell in Gaza. Diese erfordern den massiven Einsatz von Kampfflugzeugen und Bomben, um die Städte vor der Invasion dem Erdboden gleich zu machen. Dies führt zu sehr hohen Zahlen ziviler Opfer. Auch würden sich die Kämpfe in der Stadt über längere Zeit hinziehen.
Dies würde jedoch auch wieder für Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit sorgen, was Erdoğan zwingend vermeiden möchte und in den letzten Jahren mit der Strategie des »Low Intensity Warfare2«, perfektioniert hat. Die Stadt Kobanê hat zusätzlich einen so großen symbolischen Wert für den Widerstand der Kurd:innen, da sie den Wendepunkt im Krieg gegen den IS darstellt, dass die Türkei bis heute vor einem Angriff zurückschreckt.
Ein anderer Bereich zur Erweiterung der 30 km-»Sicherheitszone« ist das Gebiet östlich von Serêkaniyê bis zur Grenze zum Irak. Dieser beinhaltet, neben der größeren Stadt Qamişlo, auch den einzigen Grenzübergang »Sêmalka«, der sowohl der einzige Zugang für Zivilist:innen aus Richtung des Irak ist, über den jedoch auch für die Region notwendige Waren, wie Lebensmittel, die nicht vor Ort produziert werden können, eingeführt werden. Des weiteren befinden sich in diesem Gebiet auch viele Öl- und Gasfelder. Diese ermöglichen aktuell, dass DAANES sich selbst mit Treibstoff für Autos und Heizungen, Gas zum Kochen und auch Strom versorgt. Durch den Handel mit Öl ist es ebenso möglich, Einnahmen zu generieren um die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen so gut wie möglich zu befriedigen. Somit besteht für die Türkei ein doppeltes Interesse an diesen Gebieten: zum einen den Zugang zur Region zu kontrollieren, zum anderen eine der wenigen Einnahmequellen der DAANES abzuschneiden und somit selbst zu kontrollieren. Dies bedeutet somit nicht nur eine Destabilisierungspolitik gegen die DAANES, sondern auch eine auf Kolonialisierung ausgerichtete Politik, um die besetzten Gebiete auszuweiten und mehr Einfluss auf die gesamte Region zu erlangen.
Schon seit Jahren ist die Türkei dabei, Mauern an ihren Außengrenzen in Richtung Nord- und Ostsyrien aber auch zum Iran, zu errichten. Diese werden zum Teil von EU-Geldern finanziert.
Die Mauern sind Ausdruck des schmutzigen Flüchtlingsdeals zwischen der Türkei und den EU Staaten. In den letzten Monaten konnte jedoch erneut beobachtet werden, dass Vorbereitungen für neue Grenzmauern getroffen werden. Dieses Mal in der Nähe der Stadt Serêkaniyê, jedoch 15 km innerhalb der besetzten Gebiete. So werden weiter Fakten für den illegalen Besatzungszustand geschaffen.
Aktuelle Angriffe
In den letzten Jahren waren weitere Invasionen seitens der Türkei nicht möglich, da dafür die Zustimmung von Russland und den USA fehlte. Beide Akteure haben ihre eigenen Interessen in der Region, die oft nicht mit den Plänen der Türkei übereinstimmen.
Damit erfolgte seitens der Türkei ein Wechsel zu einem »Low Intensity Warfare«, bis sich wieder die Möglichkeit einer Invasion ergibt.
Dies zeigt sich durch eine Normalisierung des Kriegszustandes. Nahe den Kontaktlinien zwischen den von der DAANES kontrollierten Gebieten und den durch jihadistische Söldner und der Türkei besetzten Gebieten kommt es fast täglich zu Artilleriebeschuss.
Dies ist eine besondere Form, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und ihr das Leben in diesen Gebieten zu verunmöglichen. Immer wieder gibt es dabei intensivere Phasen, wie aktuell in der Umgebung von Minbic. So wurden an manchen Tagen über 100 Einschläge von Artilleriegeschossen in bewohnten Dörfern gezählt. Dabei sterben regelmäßig Zivilist:innen, darunter oft Kinder und Frauen, oder sie werden zum Teil schwer verletzt. Dies führt dazu, dass die Landbevölkerung unter ständiger Gefahr leben muss und nur schwer der für sie lebenswichtigen Feldarbeit nachgehen kann.
Besonders jetzt im beginnenden Sommer haben die Artillerieangriffe jedoch noch ein weiteres Ziel: das gezielte in Brand setzen der Getreidefelder.
Mit den steigenden Temperaturen herrscht ohnehin eine hohe Brandgefahr. So wird mit den Granaten oder auch nur mit »Flairs« (Leuchtraketen) in kürzester Zeit ein Landstrich in Flammen gesetzt. Die Lebensgrundlage wird so zerstört. Die sowieso durch das Embargo angespannte Versorgungslage wird somit noch prekärer. Durch Ausfälle von Ernten kann im schlimmsten Fall die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln wie Brot nicht mehr sichergestellt werden, was zu Hunger in der Bevölkerung führen wird. Hunger wird somit Teil einer Kriegsstrategie, die auf Belagerung und Besatzung ausgelegt ist.
Das Anzünden der Felder wurde schon vor mehreren Jahren von IS-Schläferzellen in der Region praktiziert. Die sowieso vorhandene Wasserknappheit und ein Mangel an Material zum Löschen von Flächenbränden erschweren die Lage noch zusätzlich.
Wassersituation und weitere Entwicklungen
Das Wasserembargo der Türkei gegen die Region Nord- und Ostsyrien ist ebenso eine ernste Bedrohung. Besonders im Sommer zeigt dies seine volle Wirkung.
Die türkische Staudammpolitik lässt die Region gezielt austrocknen. Dies führt neben Problemen für die Landwirtschaft auch zu gesundheitlichen Problemen, da sich Krankheiten schneller ausbreiten.
In den letzten Jahren kam es zum Beispiel zu einem Choleraausbruch. Aktuell werden steigende Zahlen von Leishmaniose, die zu Geschwüren auf der Haut führt, gemeldet. Eine Behandlung ist möglich. Jedoch werden durch die Embargos auch die medizinischen Möglichkeiten deutlich geringer, und es fehlt an Medikamenten.
Ein neuer Faktor für dieses Jahr war das Ausmaß der Angriffe seitens der Türkei auf die zivile Infrastruktur, die die Strom- und Wasserversorgung zusammenbrechen ließen.
Diese konnten nicht in vollem Maße wiederhergestellt werden. Der Strom wird fast überall für das Betreiben von Pumpen für Trinkwasser benötigt. Da aufgrund der langsamen Austrocknung der Region auch der Grundwasserspiegel immer weiter sinkt, werden immer tiefere Brunnen benötigt. Mit einer Verschärfung der Wassersituation ist also in den kommenden Monaten zu rechnen. Die Türkei benutzt Wasser als Waffe gegen die Bevölkerung.
Die Flüsse Euphrat und Tigris, die Hauptwasserquellen der Region, verlaufen jedoch auch noch durch den Irak und führen auch dort zu schweren Problemen für Mensch und Umwelt.
Kürzlich abgehaltene Treffen zwischen der Türkei und dem Irak hatten dies zum Thema.
Ergebnis dessen war ein Deal: Die Türkei hat zugesagt, für den Irak mehr Wasser durch ihre Staudämme zu lassen, das somit vor Erreichen des Irak die Gebiete der DAANES passieren muss, und so könnte sich die Situation vielleicht verbessern.
Im Gegenzug listete der Irak die PKK als »unerwünschte« Organisation und sagte Unterstützung bei deren Bekämpfung im Norden des Irak zu. So nutzt die Türkei das Wasser ebenfalls als Druckmittel um ihre antikurdische Politik in den Nachbarstaaten umzusetzen. Sie muss sich lediglich entscheiden, worauf sie ihren Fokus legt: Bekämpfung der PKK in den Bergen Südkurdistans (Nordirak) oder der Zivilbevölkerung in Nord- und Ostsyrien den Wasserhahn weiter zudrehen.
Ebenso lässt sich über die militärischen Aktionen beobachten, dass meist die Intensität für eine gewisse Zeit auf eines der Gebiete gerichtet ist. Zwar ist die türkische Armee die zweitgrößte innerhalb der NATO, doch strebt sie danach, ihre Position noch weiter auszubauen, um die materiellen Einschränkungen zu beseitigen. Zu Beginn des Jahres wurden von der US-Regierung der Verkauf von 40 weiteren F16-Kampfjets an die Türkei bewilligt. Es ist vorhersehbar, dass die Türkei wieder gegen die Zivilbevölkerung Nord- und Ostsyriens vorgehen wird – sei es indem sie eine neue Invasion und somit eine weitere Besatzung vorbereitet, sei es, dass sie im Rahmen des »Low Intensity Warfare« weitere Kriegsverbrechen begeht und zivile Infrastruktur zerstört.
Fußnoten
1 Demokratische Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien
2 »Krieg niedriger Intensität«. Kriegführung… »unterhalb der Schwelle konventioneller [zwischenstaatlicher] Kriege, [aber bereits] oberhalb des üblichen [Levels] friedlichen Wettbewerbs.… « (United States Army Field Manual 100-20 der United States Army)
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024