Ein Interview zu den anstehenden Wahlen, dem neuen Gesellschaftsvertrag und den kommenden Veränderungen im politischen System in Nord- und Ostsyrien

Wir sind auf uns selbst gestellt

Das Rojava Information Center1 spricht mit Vertreter:innen der Autonomen Verwaltung von Kobanê.

»Als Individuen haben wir die ­historische, menschliche und ethische Pflicht, ­unsere ­Aufgabe als zivile Verwalter:innen zu ­erfüllen, so wie ­diejenigen, die die Last des militärischen ­Schutzes unerer ­Region tragen, die ihre erfüllen.«


Im Dezember 2023 verabschiedete und veröffentlichte die Demokratische Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) ihren mit Spannung erwarteten aktualisierten Gesellschaftsvertrag, der auf »demokratischen, ökologischen, gesellschaftlichen und frauenpolitischen Freiheiten« basiert. Zu den darin enthaltenen Reformen gehören eine Umstrukturierung des Stadtverwaltungs- und Ratssystems sowie der Plan zur Durchführung von Wahlen auf verschiedenen Verwaltungsebenen. Seit der Veröffentlichung des neuen Gesellschaftsvertrags wurde die Region Nord- und Ostsyrien (NES) zweimal schwer von der türkischen Luftwaffe bombardiert. Die Bomben richteten sich gegen Elektrizitäts-, Gas- und Ölstationen sowie zivile Arbeitsplätze und Infrastruktur.

In der Stadt Kobanê sprach das Rojava Information Center (RIC) mit Ferhan Haji Issa, dem Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats des Euphrat-Kantons, Rewshan Abdi, dem Ko-Vorsitzenden der Stadtverwaltung Kobanê, und Mohamed Hamdan al-Mohamed, dem Ko-Vorsitzenden des Volksrats des Euphrat-Kantons.

Wie sieht die Arbeit des Exekutivrats zur Zeit aus?

Ferhan Haji Issa: Wir – wie die gesamte Region Nord- und Ostsyrien und auch ganz Syrien – befinden uns derzeit in einer Krise. Wir leiden. Betrachten wir die Situation hier, müssen wir gleichzeitig alle Probleme Syriens betrachten. Das [syrische] Regime hat Syrien nicht demokratisiert, z.B. durch erstzunehmende Parlamentswahlen, und die syrische Opposition hat keine wirklich revolutionären Veränderungen erreicht. Traurigerweise haben die Volksaufstände nicht zu einem solchen Ergebnis geführt. Historisch gesehen haben wir es in Syrien immer mit Putschen zu tun gehabt. Milizen bekämpften andere Milizen. Im Jahr 1946 wurde Syrien von Frankreich befreit. Im Jahr 1949 gab es einen Putsch. Im Jahr 1961 gab es einen Putsch, auch in den Jahren 1963, 1966, 1970. Syrien befindet sich in einer massiven Krise. In der NES (Nord- und Ostsyrien) präsentieren und verfolgen wir ein neues Projekt, das sich völlig von den unterdrückerischen Mentalitäten unterscheidet, die Syrien aufgezwungen wurden. Aus diesem Grund hat dieses Projekt starke Gegner. Viele Staaten sind uns gegenüber feindlich eingestellt: Der syrische Staat, der russische Staat, der iranische Staat. Der türkische Staat hat es sich zur Aufgabe gemacht, für das Scheitern des Projekts zu sorgen.

Unser Ziel ist es, dass die Gesellschaft sich selbst regieren, sich selbst vertreten und ihrem eigenen Willen Ausdruck geben kann.

Gleichzeitig steht unsere Region und insbesondere der Euphrat-Kanton unter großem Druck. Er liegt direkt an der Grenze. Östlich von uns ist der türkische Staat, nördlich ist der türkische Staat, westlich ist der türkische Staat mit seinen Söldnern der Syrischen Nationalarmee. Der Euphrat-Kanton hat mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen – insbesondere Kobanê.

Kobanê ist ein Beispiel für den Widerstand gegen den Terror. Deshalb zielt die Türkei auf Kobanê und damit auf NES insgesamt. Folglich ist unsere erste Priorität, uns zu verteidigen und uns gleichzeitig selbst zu regieren.

Wir haben wirtschaftliche Probleme. Wir stehen wegen des Embargos gegen uns unter großem Druck. Unsere Dienstleistungseinrichtungen und unsere lebenswichtige Infrastruktur werden angegriffen. Wir haben eine Krise in den Außenbeziehungen. Ich sage es Ihnen ganz offen: Die Menschen in NES leben im Belagerungszustand. Wie können wir uns also verteidigen, unsere wirtschaftlichen, sozialen und viele andere Probleme lösen, unsere Räte und die autonome Verwaltung mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln aufbauen?

Wir werden diese Probleme offen und transparent mit unserer Bevölkerung kommunizieren und die Probleme, die wir lösen können, gemeinsam angehen. Wir verheimlichen nichts vor der Bevölkerung. Ich sehe unsere Arbeit in diesem Rahmen. Wir werden Probleme ansprechen, uns wehren und dann in Zukunft die sozialen Dienste verbessern. Wir sind wie eine Frontlinie gegen Ungerechtigkeit. Als Individuen haben wir die historische, menschliche und ethische Pflicht, unsere Aufgabe als zivile Verwalter:innen zu erfüllen, so wie diejenigen, die die Last des militärischen Schutzes unerer Region tragen, die ihre erfüllen.

An welchen konkreten Projekten arbeiten Sie zur Zeit?

Ferhan Haji Issa: In diesem Jahr, 2024, haben wir eine massive Finanzkrise und wir müssen uns auf das Wesentliche beschränken: Gesundheit, Wasser, Brot. Das sind die Dinge, die die Menschen am dringendsten zum Leben brauchen. Ein aktuelles Projekt ist der Bau einer Klinik. Die Versorgung von Kliniken mit Medikamenten ist ein vorrangiges Ziel, auch wenn wir nur über geringe Mittel verfügen. In der Region Nord- und Ostsyrien gibt es keine Möglichkeit Medikamente zu produzieren. Sie müssen importiert werden. Im Euphrat-Kanton haben wir das medizinische Problem »Leishmaniose«2, das durch das Wasser des Euphrat verursacht wird. Es werden dafür spezielle Gesundheitsstationen eingerichtet.

Trotz der Wasserkraftwerke am Euphrat haben wir nicht ausreichend Elektrizität, denn die Türkei lässt nicht ausreichend Wasser nach Syrien fließen. Wir brauchen alternative Stromquellen und bereiten entsprechende Projekte vor, aber in diesem Jahr sind wir wirtschaftlich wirklich eingeschränkt.

Der türkische Staat hat es auf unsere Dienstleistungseinrichtungen und wichtige Infrastruktur abgesehen, das ist offensichtlich. Der Schaden, der unserer Gesellschaft und unserer Infrastruktur durch türkische Bomben zugefügt wurde, ist so groß, dass es mindestens 10 Jahre dauern wird, bis wir uns davon erholt haben. Aber wir sind hartnäckig und entschlossen!

Wir sind eine landwirtschaftlich geprägte Region und arbeiten in Projekten an der Verbesserung der Erträge.

Wie ist die Rolle der Stadtverwaltung? Wie verändert sie sich mit dem neuen Gesellschaftsvertrag?

Rewshan Abdi: Im alten Gesellschaftsvertrag ist die Stadtverwaltung sowohl mit dem Bezirksrat als auch mit dem Stadtverwaltungskomitee des jeweiligen Kantonsrats verbunden. Das bedeutete die doppelte Anzahl an monatlichen Sitzungen und Berichten. Im neuen Gesellschaftsvertrag wird das Stadtverwaltungskomitee abgeschafft und die Gemeinden erhalten Autonomie in Bezug auf die Bezirksräte. Stattdessen wird ein Verband der Stadtverwaltungen gegründet. Die Bürger:innen werden ihre Ko-Bürgermeister:innen wählen, und diese sind automatisch Mitglieder des Verbands der Stadtverwaltungen.

Wir als Stadtverwaltung werden also weiterhin mit den Räten und Kommunen zusammenarbeiten, aber wir werden unabhängig sein. Wir treffen uns jeden Monat mit allen Kommunen. Auch wenn die Stadtverwaltung nicht eng mit den Kommunen verbunden ist, stimmen wir uns untereinander ab. Die Kommunen selbst sind weiterhin direkt mit dem Bezirksrat verbunden. Diese Änderungen sind noch in Arbeit und sind noch nicht in die Praxis umgesetzt.

Im alten Gesellschaftsvertrag hatte der Kantonsrat die Aufgabe mit einem dafür gebildeten Ausschuss die Arbeit der Stadtverwaltungen zu begleiten und zu überprüfen. Manchmal übernahm dieser Ausschuss die Aufgaben der Stadtverwaltung und erledigte damit die Arbeit anderer, statt die eigene. Dieses Problem sollte mit der Änderung des Systems im Rahmen des neuen Gesellschaftsvertrags behoben werden, da die Stadtverwaltung mehr Unabhängigkeit erhalten wird. Das gilt auch für die Finanzen. Es ist zu hoffen, dass der Prozess nun reibungsloser abläuft, mit weniger Bürokratie und weniger Einmischung seitens des Bezirksrats und des Kantonsrats

Darüber hinaus hat sich mit dem neuen Gesellschaftsvertrag der Aufgabenbereich der Stadtverwaltungen um einige Aufgaben erweitert. Bisher war ihre Arbeit auf die Erbringung von Dienstleistungen und die Instandhaltung der Infrastruktur ausgerichtet. Wir waren nicht in der Lage, zusätzliche Aufgaben anzupacken, z. B. in den Bereichen Kultur, Nothilfe, Soziales.

Es ist immer der Mangel an Ressourcen wie z.B. Geld, der es uns schwer macht über die Grundversorgung hinausgehende Aufgaben zu erfüllen. Wir hoffen, dass sich dieser Zustand bessert.

Natürlich sehen wir in den letzten Jahren Fortschritte. Im Jahr 2015 lag die Stadt Kobanê in Trümmern, und wir waren dabei, die Trümmer zu beseitigen und alles wieder aufzubauen. Das hat ein Jahr gedauert.

Die Arbeit heute kann nur so gut sein, wie das Budget reicht. Trotz geringer Finanzen konnten wir Dienstleistungen erbringen und, sagen wir mal, 70-80 % der Probleme der Menschen lösen. Es gibt zwar immer noch Dinge, die dringend benötigt werden, aber ein großer Teil der Infrastruktur wurde bereits aufgebaut. Die Menschen haben sie selbst wiederaufgebaut. Es gab keine Hilfe von außen, nicht von Europa, nicht von der Koalition (Internationale Koalition im Kampf gegen den IS)! Auch heute noch leben Menschen in gemieteten Häusern, weil sie ihre alten Wohnungen nicht wiederaufbauen konnten.

Welche Auswirkungen hatten die jüngsten türkischen Luftangriffe auf die wirtschaftliche Lage in der DAANES? Laut Mazloum Abdi (Generalkommandant der Demokratischen Kräfte Syriens – QSD auch SDF) ist die Hälfte des QSD-Budgets verloren gegangen ist. Wie sieht die Situation bei Ihnen aus?

Ferhan Haji Issa: Der Wirtschaftsausschuss der DAANES kann Ihnen die genauen Zahlen nennen. Ich kann Ihnen die aktuelle Situation anhand von Beispielen erläutern. Allein für den Wiederaufbau des zentralen Gaskraftwerks Siwêdiyê (arab. Suwaydiyah) wird eine Milliarde Dollar benötigt. Für eine Region, die unter einem Embargo steht, eine Region, die keine Hilfe von außen erhält, eine Region, die sich selbst regiert, ist 1 Milliarde Dollar ein gewaltiger Betrag. Unser Ansatz »nur das Nötigste« bedeutet, dass wir nur die Hälfte der Dinge tun können, die wir wollen.

Die amerikanischen Wirtschaftssanktionen wurden 2022 für Nord- und Ostsyrien aufgehoben. Gibt dadurch positive wirtschaftliche Auswirkungen?

Ferhan Haji Issa: Nein. Es war eine oberflächliche Veränderung, und nichts hat sich wirklich verbessert. Wenn Amerika hier wirklich wirtschaftlich helfen will, sollte es sich mit den Institutionen hier in Bezug auf Finanzen, Außenbeziehungen und Grenzübergänge abstimmen, aber es hat sich nichts getan. Der Grund dafür ist der politische Druck, den die Türkei ausübt.

Unsere Situation in NES ist besser verglichen mit den anderen Regionen Syriens. Wir verwalten uns selbst durch die DAANES. Aber unsere Grenzübergänge sind im Grunde genommen geschlossen und keine externe Hilfe von der internationalen Gemeinschaft kann uns erreichen. Wir sind auf uns selbst angewiesen. Die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen (Ceasar-Act) war ein Symbol der Unterstützung, in den Medien publiziert aber ohne praktische Auswirkung vor Ort. Amerika spielt innerhalb von NES keine verantwortungsvolle Rolle.

Wie wirken sich die gegen Assads Umfeld gerichteten Wirtschaftssanktionen auf NES aus?

Ferhan Haji Issa: Die Sanktionen gegen Syrien haben in erster Linie die Menschen in Syrien getroffen. Die Gesellschaft selbst war davon betroffen. Einige Personen – Geschäftsleute – wurden mit Sanktionen belegt, aber das Regime selbst hat nicht wirklich darunter gelitten. Das Regime sollte bestraft werden, denn das Regime war an den Massakern in Syrien beteiligt. Seit der Machtübernahme des Baath-Regimes zahlt das syrische Volk einen hohen Preis. Die Sanktionen sollten sich gegen das Regime richten und gleichzeitig die Gesellschaft schützen. Diese Sanktionen haben aber das Volk mehr getroffen als das Regime. Was immer in den Gebieten des Regimes geschieht, betrifft auch uns. Wenn der Wert des Dollars gegenüber dem syrischen Pfund steigt, leiden auch wir darunter.

Wir verwenden bewusst die syrische Währung. Der DAANES wird immer wieder Separatismus vorgeworfen, es wird unterstellt wir wollten uns von Syrien abspalten und einen eigenen Staat gründen. Wir versuchen, diese Unterstellung zu widerlegen.

Wie haben sich die jüngsten türkischen Angriffe auf die Stromversorgung in Kobanê im Unterschied zu anderen Kantonen ausgewirkt?

Ferhan Haji Issa: Die Türkei hat unsere Dienstleistungseinrichtungen und wichtige Infrastruktur angegriffen und unsere Stromtransformatoren zerstört. Wir haben jetzt drei oder vier Stunden Strom pro Tag. Das reicht nicht aus, um die Bedürfnisse der Menschen zu decken. 2014, als der IS angriff, wurde ein Großteil von Kobanê völlig zerstört. Nachdem der IS besiegt war, begann der türkische Staat, uns ins Visier zu nehmen. Wir haben das Gebiet um Kobanê vom IS befreit – aber die Türkei hat die Rolle des Angreifers übernommen. Gleichzeitig verfolgt die Türkei ein strategisches Konzept. Sie hat die Kontrolle über das Wasser des Euphrat, das in unsere Region fließt und für unsere Stromversorgung unabdingbar ist. Wir besprechen dies mit der DAANES und werden einen Weg finden. Vielleicht werden wir Stromgeneratoren hierher bringen. Das ist nicht das, was wir wollen, aber es ist notwendig. Die Menschen können ohne Strom nicht leben. Wir teilen uns den Strom auch kantonsübergreifend. Unser Bedarf ist höher als in den anderen Kantonen. In Qamişlo zum Beispiel gab es nicht diese massive Kriegszerstörung wie in Kobanê. In Raqqa wurde die zerstörte Strominfrastruktur aus dem Krieg gegen den IS recht schnell wieder aufgebaut, weil viele internationale Organisationen geholfen haben. Leider war das in Kobanê nicht so.

Die Kommunalwahlen stehen vor der Tür. Sie sollen im April stattfinden [nach diesem Interview gab die DAANES den 30. Mai als Wahltermin bekannt]. Welche Verantwortung tragen Sie in Bezug auf die Wahlen?

Ferhan Haji Issa: Es ist wichtig folgendes klarzustellen: In den Medien wurde zwar berichtet, dass die Wahlen im April stattfinden sollen, aber das ist noch nicht bestätigt. Wir müssen die Bedingungen in Bezug auf Sicherheit und Stabilität berücksichtigen. Wir müssen uns gut auf diese Wahlen vorbereiten. Wir befinden uns jetzt im März. Können wir uns rechtzeitig auf den April vorbereiten? Als Exekutivrat wollen wir sicherstellen, dass die Wahlen reibungslos und demokratisch ablaufen, aber wir sind nicht direkt daran beteiligt. Es wurde die Hohe Wahlkommission gebildet, die die Wahlen überwachen wird. Sie ist verantwortlich und wir unterstützen sie nach Bedarf.

Wer sind die Mitglieder der Hohen Wahlkommission?

Ferhan Haji Issa: Sie hat 20 Mitglieder. Der Volksrat der DAANES hat sie ausgewählt. Sie werden die Wahlen überwachen und auf Einmischungen oder Mängel achten. Diese Wahlen sind eine relativ neue Sache für uns in NES. Daher ist viel Arbeit nötig, um sicherzustellen, dass sie erfolgreich verlaufen. Als Exekutivrat werden wir diese Kommission unterstützen ohne uns einzumischen.

Gibt es eine Kommission für NES insgesamt oder hat jeder Kanton seine eigene?

Ferhan Haji Issa: In der Kommission sind Mitglieder aus jedem Kanton vertreten.

Es gab bereits Kommunalwahlen im Jahr 2017, richtig?

Rewshan Abdi: Ja. Vor 2012 hatte der syrische Staat auch hier Stadtverwaltungen. Nach dem Krieg in Kobanê haben wir unsere eigene Stadtverwaltung aufgebaut, aber es gab kein Geld und kein System. Im Jahr 2015 begann die Stadtverwaltung Kobanê offiziell mit Ko-Vorsitzenden zu arbeiten. Die ersten Wahlen fanden Ende 2017 statt und 2018 nahmen die gewählten Vertreter:innen ihre Arbeit auf. Die damals gewählten Ko-Vorsitzenden sind immer noch in ihren Positionen. Eigentlich sollten alle zwei Jahre Wahlen stattfinden, aber das konnte nicht umgesetzt werden. Das damalige System, vor der Verabschiedung des neuen Gesellschaftsvertrags, sah folgendermaßen aus: Jeder Stadtverwaltung gehörten 11 Mitglieder an, darunter zwei Ko-Vorsitzende und zwei Stellvertreter:innen, die vom Bezirksrat gewählt wurden. Nach dem alten Verwaltungssystem gab es 14 Stadtverwaltungen in der Euphratregion, die aus den Kantonen Kobanê und Girê Spî (Tel Abyad) bestand. Der neue Gesellschaftsvertrag ändert dieses System ein wenig. Das geografische Gebiet, das früher als Euphrat-Region bezeichnet wurde, heißt jetzt Euphrat-Kanton. In der gesamten NES werden alle früheren Regionen nun als Kantone bezeichnet, und die geografische Einheit, die früher als Kanton bezeichnet wurde, wurde administrativ abgeschafft. Wir werden auch die Verwaltungsgrenzen neu ziehen. Wie ich bereits sagte, hatte die Euphrat-Region 14 Verwaltungen – ursprünglich waren es mehr, aber durch die Invasion und Besatzung durch die Türkei 2019 haben wir einige verloren.

Für die Kommunalwahlen werden wir das ändern, aber es ist noch nicht klar, wie das aussehen wird. Vielleicht wird die Zahl der Stadtverwaltungen steigen, vielleicht sinken. Ich kann jetzt noch nicht sagen, wie viele kommunale Ko-Vorsitzende für den Euphrat-Kanton gewählt werden. Es sind noch viele Vorbereitungen für die Wahlen zu treffen. Auch die Volkszählung ist noch nicht abgeschlossen, so dass wir die Bevölkerungszahlen noch nicht geklärt haben.

Glauben Sie, dass Parteien des Kurdischen Nationalrats (ENKS) an den kommenden Wahlen teilnehmen werden?

Ferhan Hadschi Issa: Als Exekutivrat des Kantons Euphrat ist es nicht unsere Aufgabe, uns mit diesen Fragen zu befassen. Der Volksrat befasst sich mit Fragen der Zulassung von politischen Parteien zu den Wahlen. Ich glaube, dass der Volksrat den Beitritt der ENKS-Parteien positiv bewerten würde. Wenn sie eine politische Partei sind, die in dieser Region arbeitet, können sie zur Wahl antreten. Aber ich möchte etwas zur Situation des ENKS sagen. Seine Situation und seine Verbindungen zur syrischen Opposition und zum türkischen Staat lassen Zweifel an seiner ehrlichen Verbundenheit zu diesem Land aufkommen. Er sollte seine Position klären z.B. zur Besetzung Efrîns, wo täglich Menschen Misshandlungen ausgesetzt sind. Es gibt ein Sprichwort: »Man kann nicht beides haben.« Sie sind Freunde der syrischen Opposition und gleichzeitig präsentieren sie sich pro kurdisch. Das ist unehrlich. In der Realität ist die syrische Opposition eine Organisation, die den Terror und die Türkei, die unsere Regionen besetzt hält, unterstützt. Sie müssen sich entscheiden, was sie wollen. Wir verbieten keine Parteien. In NES ist das klar. Wir sind offen für den Dialog mit jedem. Aber wir können keine Doppelzüngigkeit dulden. Die Türkei beschießt und tötet uns mit Flugzeugen und Drohnen.

Und der ENKS sitzt neben der Türkei, isst mit ihr, nimmt Geld von ihr und unterstützt sie? Die Parteien des ENKS sollten klarstellen: Sind sie Menschen aus Rojava, Menschen aus der NES? Oder stellen sie sich auf die Seite derjenigen, die die Region und das Leben der Menschen hier zerstören? Ich glaube, die DAANES hat eine klare Haltung: Jeder kann an diesen Wahlen teilnehmen, aber ich denke, die Voraussetzungen müssen stimmen.

In den letzten 10 Jahren gab es hier nur einmal Kommunalwahlen. Wie werden Sie die Menschen über die bevorstehenden Wahlen informieren und aufklären, und wie werden die Wahlen ablaufen?

Rewshan Abdi: Wenn die Zeit reif ist, werden wir Informationsveranstaltungen durchführen, damit die Menschen das Wahlsystem verstehen. Wir als Stadtverwaltung werden nicht dafür verantwortlich sein diese Veranstaltungen durchzuführen. Vielleicht werden es die Kommunen, vielleicht die Hohe Wahlkommission übernehmen.

Wahlen sind ein Teil der Demokratie. Aber wenn jemand von 51 % der Wähler gewählt wird, gehen die Stimmen der 49 %, die für jemand anderen gestimmt haben, leer aus. Ihre Stimme wird bedeutungslos.

Dies wird thematisiert. Hier wollen wir, dass jeder Mensch seine Stimme hören kann und sich vertreten fühlt. Hier kann jede:r in die Stadtverwaltung kommen, mit den Ko-Vorsitzenden sprechen, sagen, dass jemand, der mit einer Aufgabe betraut ist, seine Rolle nicht richtig ausfüllt usw. Wir haben eine Art von Demokratie, in der man Kritik üben kann und angehört wird, und jeder Mensch kann zu uns kommen und uns alles sagen. Wir freuen uns, wenn die Menschen mit uns reden und Kritik üben.

Unterscheidet sich das Wahlverfahren für die Räte vom Verfahren für die Stadtverwaltungen?

Mohamed Hamdan al-Mohamed: Ja. Künftige Wahlen auf der Ebene der Unterbezirks-, Stadt- oder Kantonsräte werden nach einem 60/40-System durchgeführt. Die Stimmen der Einzelpersonen machen 60 % der Gesamtstimmen aus und die Stimmen der Organisationen der Zivilgesellschaft werden mit 40 % gewichtet. Dies ist im neuen Gesellschaftsvertrag festgelegt. Das 60/40-System soll die Vertretung von Minderheiten sicherstellen. Ich bin Türke, lebe aber in einem Gebiet, das von Araber:innen und Kurd:innen bewohnt wird. Meine Stimme würde bei einer reinen Direktwahl verloren gehen. Wir müssen die Rechte der Minderheiten wahren. Zivilgesellschaftliche Organisationen von ethnischen und religiösen Minderheiten und Frauen haben deshalb eine eigene Stimme.

Rewshan Abdi: Bei den Kommunalwahlen gilt jedoch das System »Eine Person – eine Stimme«.

 Fußnoten

1 https://rojavainformationcenter.org/2 Die Leishmaniose ist eine Infektionskrankheit, die durch Kleinstlebewesen – Leishmanien – verursacht wird. Übertragen werden sie mit dem Stich der Sand- oder Schmetterlingsmücke, die in warmen Regionen lebt.


Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024