Der Wandel der ethnischen und religiösen Identitäten in Rojava und Nord- und Ostsyrien durch die Revolution

Völker und Religionen in Nord- und Ostsyrien

Cihan Inan

Ethnizität und Glaube sind die historischen Identitäten einer Gesellschaft. Man kann sagen, dass die heute bekannten Identitäten und Kulturen auf diesen beiden Phänomenen beruhen. Denn fast jeder im gesellschaftlichen Leben verkörperte Wert ist direkt oder indirekt mit diesen beiden Identitäten verbunden. Alle gesellschaftlichen Werte bewegen sich entweder innerhalb der Grenzen dieser beiden Identitäten, speisen sich aus ihnen oder werden von ihnen gespeist.

Ethnische Identität ist die Kultur, die Gemeinsamkeiten im Bereich der materiellen und geistigen Werte, insbesondere der Sprache, zum Ausdruck bringt. Auch wenn diese Gemeinsamkeit in unserer Zeit vor allem im Bereich des Denkens und der Mentalität erlebt wird, ist dies die gültige Regel. Der unmittelbare Einfluss der geografischen Bedingungen auf die jahrtausendelange Herausbildung der ethnischen Identität hat eine entscheidende Rolle bei der Entstehung Tausender verschiedener ethnischer Identitäten in der Gesellschaft gespielt. Der Einfluss der Natur, d.h. der ökologischen Dimension der Gesellschaft, die das menschliche Leben bestimmt, ist ein weiteres unveränderliches Gesetz, das fortbesteht, wenn auch nicht mehr in dem Maße, wie noch vor einigen hundert Jahren.

Religion und Glaube sind ebenfalls ein wichtiges Element der ethnischen Identität. Religion formt und bereichert nicht nur die ethnische Identität, sondern wird auch durch ethnische Werte umgestaltet und neu geformt. Ein Beispiel dafür sind Sekten und Kulte. Die Tatsache, dass eine ethnische Identität Mitglieder hat, die mehr als einer Religion angehören, erfordert jedoch, dass wir die Religion an einer etwas anderen Stelle in der Definition der ethnischen Identität ansiedeln, als andere soziale Traditionen. Kurd:innen und Araber:innen sind heute Paradebeispiele für Völker mit dieser reichen Kultur. So ist zwar ein großer Teil der Kurd:innen muslimisch, aber nur ein kleiner Teil von ihnen sind Êzîden. Es gibt Millionen muslimischer Araber:innen und einige Hunderttausend christlicher Araber:innen. Diese Realität gilt auch für die Kurd:innen in Rojava. Die religiöse und konfessionelle Identität der syrisch-arabischen Bevölkerung umfasst auch kulturelle Unterschiede. In dieser Hinsicht kann Syrien sogar als ein kleiner Naher Osten betrachtet werden.

Der kulturelle Reichtum ergibt sich aus der Vielfalt des gesellschaftlichen Lebens und aus den Unterschieden in Identität und Werten. Jeder gesellschaftliche Reichtum ist das Ergebnis einer historischen Akkumulation. Unter diesem Gesichtspunkt muss ein Wert, um als sozialer Reichtum zu gelten, in Zeit und Raum erprobt worden sein. Man kann also sagen, dass ein Phänomen umso wertvoller ist, je historischer es ist, und daher ist es auch eine Quelle des Reichtums für heute. Man kann nicht im Voraus wissen, ob ein Phänomen, das in der jüngsten Vergangenheit ins Leben getreten ist, als Quelle des Reichtums betrachtet werden kann, d.h. ob es ihm gelingen wird, historisch zu werden. Nehmen wir zum Beispiel die Verstädterung in Form von Megapolen oder bestimmte technische Mittel, von denen fast täglich neue Formen auftauchen und von denen die meisten Gesellschaften noch nie etwas gehört haben. Der soziale Reichtum definiert also in Wirklichkeit kulturelle Werte, die seit Hunderten von Jahren bestehen und auch in Zukunft bestehen werden. Ethnische Identität und religiös-weltanschauliche Kultur sind im realen Sinne reich, weil sie seit Hunderten oder gar Tausenden von Jahren bestehen und weiter bestehen werden. Aufgrund dieser Realität sind beide Phänomene gleichzeitig der Ort und die Heimat, an denen sich die Vielfalt und Unterschiedlichkeit des sozialen Lebens verwirklicht. Alle anderen Identitäten wurden mehr oder weniger von diesen beiden Quellen des historischen Reichtums genährt und gepflegt oder wurden von diesen beiden Phänomenen unterdrückt und gezwungen, sich in andere Werte zu verwandeln. Dies geschah beispielsweise im Mittelalter, als die Kirche die sozialen Werte unterdrückte und damit den Weg für die Renaissance ebnete.

Diese einleitenden Sätze sollen helfen besser zu verstehen, was ich auf der Grundlage meines Demokratieverständnisses darlegen werde. Mit diesem Ansatz kann man konkreter auf den Wandel im sozialen und politischen Bereich eingehen, den die ethnischen und religiösen Identitäten in Rojava und Nord- und Ostsyrien durch die Revolution erfahren haben und der Gegenstand dieses Artikels ist.


Der Prozess des Aufbaus einer multi-identitären syrischen Identität ist im Gange

Die Menschen in Nord- und Ostsyrien leben mit der Revolution in einem demokratischen Umfeld, wie sie es noch nie erlebt haben. Zudem hat die Demokratie in dieser Region mehr Mittel erhalten, um ihr System zu etablieren, als die meisten anderen Regionen der Welt.

In seinem fünfbändigen Werk mit dem Titel »Manifest für eine demokratische Zivilisation« hat Abdullah Öcalan sehr weitreichende Bewertungen vorgenommen: »[...] je mehr Reichtum an einem Ort vorhanden ist, desto mehr Demokratie existiert dort als Kultur; wenn diese Kultur nicht in ein demokratisches politisches Regime umgewandelt wurde, dann sind die Gründe für ihre Etablierung viel stärker als anderswo«. Heute ist »Demokratie ist die Koexistenz von Unterschieden« ein Slogan und wird in allen Sprachen der Welt genauso skandiert wie »Jin, jiyan, azadî«. Aus dieser Perspektive können wir sagen, dass Syrien vor der Rojava-Revolution ein Land war, das auf die Demokratie gewartet hat. In der Tat ist nicht nur Syrien, sondern der Nahe Osten, von Afghanistan bis Marokko, von Kurdistan bis Jemen, die fruchtbarste Region der Welt, was den kulturellen Hintergrund betrifft, auf dem die Demokratie aufgebaut und ihr System etabliert werden wird. Auch Syrien hat seinen Anteil an diesem Reichtum gehabt.

Syrien ist die ethnische Heimat von Araber:innen, Kurd:in­nen, Assyrer:innenn und Syrer:innen, Armenier:innen, Tscher­kess:innen, Turkmen:innen und Griech:innen. Es gibt keinen Stamm, keinen Clan und keine Sippe, die Syrien heißt. Es gibt ein Stück Land namens Syrien. Dieses Stück Land wird von ethnischen Identitäten bewohnt, die Tausende von Jahren älter sind als der Name Syrien. Araber:innen, Kurd:innen und Assyr-Syrer:innen sind die Hauptgruppen dieser alten Kultur. Das Baath-Regime hatte jedoch das Ziel, all diese Identitäten mit dem arabischen Nationalismus zu verschmelzen und sie zu Parteikämpfern mit der Ideologie einer nationalistisch-religiösen Partei zu machen. Dadurch wurde auch der Reichtum der arabischen Gesellschaft zerstört und zersplittert. Andere ethnische Identitäten hatten keine Luft mehr zum Atmen. Die Revolution beendete in erster Linie diese Politik der Unterdrückung, der Aufzwingung und Assimilierung.

Elf Jahre sind seit der Revolution in Rojava vergangen. Die Region, die jetzt Nord- und Ostsyrien ist, wird seit vier Jahren von einem demokratischen konföderalen System regiert. Sie verfügt auch über eine autonome Regionalverwaltung, wie sie oft genannt wird. Die Frage, welche positiven Veränderungen im Leben der Völker und Glaubensgemeinschaften in dieser Zeit stattgefunden haben, erfordert eine faire Bewertung auf der Grundlage praktischer Beobachtungen. Dieser faire Ansatz sollte auch die Frage aufwerfen, von wem und warum der gegenwärtige Wandel und die Transformation gestört werden und sollte in der Lage sein, vergleichend zu reagieren. Um all dies zu erkennen, eine faire Bewertung vorzunehmen und ihr gerecht zu werden, müssen wir den Norden und Osten Syriens mit der Region vor elf Jahren vergleichen. Ohne den Krieg und die Angriffe, die Embargos und die Drohungen zu ignorieren, können die demokratische nationale Politik und die Merkmale des konföderalen Systems als Maßstab genommen werden, und es kann Rechenschaft darüber abgelegt werden, was getan werden hätte müssen, aber nicht getan wurde.

Das syrische Regime ist ein System, das auf dem Programm und den Statuten der Baath-Partei beruht. So wie die Republik Türkei ihr System in den ersten dreißig oder vierzig Jahren ihres Bestehens auf das Programm und die Statuten der CHP stützte. Trotz seiner reichen kulturellen Struktur hat Syrien unter dem Namen Syrische Arabische Republik offiziell erklärt, dass sie ein Staat ausschließlich für Araber sei. Da wir von der Zeit des Nationalstaates sprechen, stellt sich zweifellos die Frage welcher »Araber« hier gemeint ist. Von außen, vor allem aber von der Türkei aus betrachtet, scheint Syrien ein alawitisch-arabischer Staat zu sein. Genauer gesagt, die von der AKP geführten Kreise verwenden viele Worte darauf, ihn als solchen anzuerkennen. Im syrischen Staat haben die Alawiten keinen offiziellen Status. Er erkennt alle, außer den Christen, als Islam an. Es steht sogar in der Verfassung, dass das Staatsoberhaupt ein Muslim sein muss. In der Praxis hat er jedoch Alawiten bei Ernennungen, bei Stellen, die Vertrauen und Aufrichtigkeit erfordern, und nicht in allen Institutionen und Bereichen bevorzugt. Mit anderen Worten: Die arabischen Alawiten in Syrien genießen eine Freiheit, für die es keine verfassungsrechtlichen Garantien gibt. Das syrische Regime hat die sunnitischen Araber:innen je nach ihren politischen Vorstellungen und Tendenzen in Kategorien eingeteilt. Diese Kategorisierung spiegelt sich in Bereichen wie Politik, Wirtschaft, Gesundheit, Sicherheit und Bildung wider. Beispielsweise ist Deir ez-Zor eine Stadt, die aufgrund ihrer Sympathie für die irakische Baath-Partei immer mit Misstrauen betrachtet wurde. Ähnliche Skepsis und Misstrauen herrschen auch gegenüber vielen arabischen Stämmen an der irakischen Grenze. Diese Regionen sind bis auf eine partielle Montageindustrie wirtschaftlich nicht entwickelt worden. Sie sind immer in Angst gehalten worden. Die Politik des syrischen Regimes gegenüber den Kurd:innen ist beispiellos in der Welt. In der offiziellen und praktischen Politik gibt es keine Kurd:innen. Der Kurde existiert als Feind und als gefährliche Struktur. Sie haben nicht das Recht, sich zu organisieren und politisch zu engagieren, sondern werden ständig unter dem Vorwurf des Separatismus überwacht. Einige von ihnen sind in ihrem Heimatland als Ausländer und Flüchtlinge anerkannt. In offiziellen Papieren werden sie als Araber bezeichnet, in der Alltagssprache als Kurd:innen.

Die Kurd:innen hatten einen Status als eine Art Bürger zweiter Klasse. Ihre Sprache wurde als merkwürdig und unvollständig bezeichnet. Kurd:innen durften kein Eigentum besitzen, kein eigenes Land bearbeiten. All diese Dinge können die Kurd:innen nur vermittels Personen mit arabischer Identität erreichen. Die religiösen Identitäten der Êzîdischen und alevitischen Kurd:innen wurden verleugnet.

Die christlichen Völker wurden zwar in ihrer religiösen Identität anerkannt und erhielten das Recht, ihre Religion auszuüben und in ihren Schulen zu lernen, aber es wurde ihnen nicht gestattet, ihre ethnische Identität so zu leben, wie sie es wünschten. Diese Menschen wurden durch Angst unter Kontrolle gehalten, oft durch einige religiöse und kommunale Vertreter in Zusammenarbeit mit dem Regime. Ein wichtiger Pfeiler der Politik des syrischen Regimes gegenüber Menschen und Glaubensgruppen besteht darin, sie zu Feinden zu machen. So wird beispielsweise die Taktik verfolgt, als gäbe es ein Problem zwischen Kurd:innen und Araber:innen und nicht zwischen dem Regime und den Kurd:innen. Am 12. März 2004 war die Provokation gegen die Bevölkerung von Deir ez-Zor während eines Fußballspiels in Qamişlo das Ergebnis einer solchen Politik1. In der ersten Septemberwoche 2023 haben wir gesehen, dass diese nationalstaatliche Taktik, mit der die Völker getäuscht werden, von bewaffneten Kräften des Regimes gegen die QSD (Demokratische Kräfte Syriens) während deren Operation gegen Banden in Deir ez-Zor erneut angewandt wurde. Die armenische, assyrisch-syrische und arabische Bevölkerung in den kurdischen Städten hat immer befürchtet, dass die Kurd:innen sie unterdrücken und dass die Kurd:innen sie vertreiben werden, wenn das Regime nicht da ist. Diese Politik des Regimes hat zu Vorurteilen und Misstrauen gegenüber den Kurd:innen geführt, insbesondere unter der assyrisch-syrischen Bevölkerung.

Im Jahr 1960 wurden in Rojava-Kurdistan Ölvorkommen entdeckt. Im Jahr 1962 sollte das Gebiet von Serê Kaniyê bis Dêrik mit der sogenannten »Arabischen Gürtel«-Politik arabisiert werden. Diese Politik wurde in den letzten zehn Jahren vom türkischen Staat übernommen. Mit anderen Worten: Die AKP und ihr Vorsitzender Tayyip Erdoğan versuchen, die von der syrischen Baath-Partei initiierte Politik in die Praxis umzusetzen. Die syrische Baath-Partei setzt den Arabischen Gürtel um, indem sie Kurd:innen, unter dem Vorwand einer notwendigen Umsiedlung aufgrund der Überflutung durch den Tabqa-Damm, aus ihren Häusern vertreibt. Die türkische AKP macht das gleiche unter dem Vorwand einer Notlage durch Geflüchtete, die dort angesiedelt werden müssten.

Die Praktiken des syrischen Regimes, über deren Politik gegenüber Völkern und Glaubensgruppen hier ein kurzer Überblick gegeben wurde, zeigen hinreichend, dass der syrische Nationalstaat ein Staat ist, der kulturellen Völkermord begeht. Obwohl das Regime in den letzten zehn Jahren versucht, den Eindruck zu erwecken, dass es sich von dieser Realität losgesagt hat, können wir nicht sagen, ob dieser Diskurs prägnant und aufrichtig genug ist, um von Dauer zu sein. Denn von Zeit zu Zeit spricht das Regime die Kurd:innen mit Worten und Taten an, die über Kritik hinausgehen und die Araber:innen beleidigen und demütigen. Die Revolution von Rojava im Jahr 2012 hat allen Völkern und Glaubensrichtungen, Araber:innen wie Kurd:innen, ein Aufatmen ermöglicht. Allerdings könnten die Völker neuen und gefährlicheren Angriffen ausgesetzt sein, wie etwa den Angriffen der Türkei. Diese Angriffe verzögern den Aufbau des demokratischen Systems der multi-identitären, multi-religiösen und multi-lingualen Struktur der Gesellschaft in dem Umfeld, das sich mit der Revolution zu bilden begonnen hat. Gleichzeitig versucht sie, ihre Beziehungen und Bündnisse, ihre Pläne und Projekte für die Zukunft mit befreundeten Strukturen zu stören. In Wirklichkeit versucht die Türkei, das syrische Regime daran zu hindern, sich der Demokratie zu öffnen, sondern sich stattdessen auf seiner nationalistisch-religiösen Linie zu halten und seine inneren Widersprüche zu vertiefen. Dies ist die Quelle der Feindschaft zwischen den Völkern Nord- und Ostsyriens und der AKP-MHP-Türkei: Die Völker wollen ein demokratisches Syrien, während die AKP-MHP-Türkei ein geteiltes und ideologisch religiös-nationalistisches Syrien will.

Die Rojava-Revolution hat ein Umfeld geschaffen, in dem die Völker, die das Baath-Regime in Syrien unter schweren Problemen zu ersticken versuchte, ihre Anliegen leicht äußern können. Diese Feindschaft, die das Regime mit einer sehr bewussten und subtilen Politik zwischen den Völkern schuf, stand sogleich auf der Tagesordnung, sobald die Revolution stattfand. So wurde sich beispielsweise sofort mit dem Problem des konfiszierten Eigentums des assyrisch-syrischen Volkes, vor allem der Kurd:innen und der Araber:innen einiger Regionen, auseinandergesetzt. Die Revolution hat allen Völkern, unabhängig von ihrer ethnischen und religiösen Identität, die Freiheit gegeben, zu diskutieren, zu kritisieren, eigene Entscheidungen zu treffen und den Mut und das Vertrauen zu haben, sich zu äußern und ihre Anliegen und Probleme vorzubringen. Trotz gelegentlicher Spannungen gibt es Mechanismen, mit denen die Araber:innen die Kurd:innen und die Kurd:innen die Araber:innen auf demokratischer Basis kritisieren können. In den Gebieten der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien haben die Völker die Möglichkeit, die durch das Baath-Regime verursachten Probleme sehr einfach zu diskutieren, Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen.

Als die Kurd:innen, die ihr Land durch die Politik des Arabischen Gürtels verloren hatten, 2012 zu den Waffen griffen und versuchten, ihr Land zurückzufordern, wurden sie von den revolutionären Kräften daran gehindert. Denn die revolutionären Kräfte handelten in dem Wissen, dass die arabische Bevölkerung, die noch immer das kurdische Land nutzt, vom Regime dorthin gebracht und angesiedelt wurde. Dieser Ansatz stärkte das Vertrauen der arabischen Bevölkerung in die revolutionären Kräfte und ihre Politik. Die Assyrer-Syrer konnten nicht nur ihre Beschwerden vorbringen und ihre Forderungen an die Gesprächsmechanismen herantragen, sondern wurden auch in viel stärkerem Maße geschützt und unterstützt, als während der Zeit des Regimes. Neben bewaffneten Selbstverteidigungskräften gründete dieses Volk zum ersten Mal politische Parteien mit eigenem Willen und Bewusstsein und begann, auf den Verwaltungsebenen Verantwortung zu übernehmen, ohne seine Identität zu verleugnen. Es werden Schritte unternommen, um die strenge arabische Nationalstaatspolitik in der Revolutionszone zu ändern, insbesondere im Bereich der Bildung. Gegen den Nationalismus, den das Regime an die Stelle des arabischen Patriotismus gesetzt hat, ist der Prozess des Aufbaus einer syrischen Identität mit mehreren Identitäten im Gange, indem jedes Volk sich selbst organisiert und sein Leben entsprechend seiner eigenen Identität und Kultur gestaltet. Mit der Revolution wurde die Notwendigkeit, Araber zu sein, um Syrer zu sein, abgeschafft, und man begann, sich den Völkern mit dem Bewusstsein zu nähern, ein freier Bürger zu sein, basierend auf dem, was sie in ihrer historischen Vergangenheit sind. So sind die Araber:innen freier und bequemer geworden, während andere ethnische und religiöse Strukturen, trotz aller Probleme, ihre eigene Realität aufbauen konnten.

Die Revolution von Rojava sollte nicht wie die Revolutionen verstanden werden, die mit klassischen und klischeehaften Slogans ausgedrückt wurden. In der Tat ist es nicht korrekt, solche Entwicklungen als Revolution zu bezeichnen. Eine Revolution ist der Prozess, der beginnt, wenn die Völker ein Umfeld erschaffen, in dem sie ihre eigenen Probleme angehen und lösen können. Das ist es, was in Rojava, Nord- und Ostsyrien in den letzten elf Jahren geschehen ist. In diesen elf Jahren sind Probleme aufgetaucht, deren Wurzeln Hunderte und Tausende von Jahren zurückreichen. So hat beispielsweise die organisierte Beteiligung von Frauen an der Selbstverteidigung sowie im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereich, den Jahrtausende alten Geschlechterkonflikt und viele damit verbundene Probleme an die Oberfläche gebracht. So ist ein Umfeld entstanden, das diese Probleme in Widerspruch und Konflikt löst. Diese Entwicklungen lassen sich anhand der Bilder und Reden nachvollziehen, die in der Presse und den Medienorganen wiedergegeben werden. Zum ersten Mal hatte die Jugend die Möglichkeit, sich von dem kulturellen Druck der »Älteren, Ahnen und Erfahrenen« der traditionellen Gesellschaft zu befreien, und trotz ihrer Unerfahrenheit begann sie, mit Elan und Begeisterung voranzuschreiten und erreichte die Kraft, sehr mutige Positionen einzunehmen. Von nun an wird die Gerontokratie besser verstanden, und dem Willen der Jugend Gehör geschenkt.

Eine der besten Entwicklungen seit der Revolution ist die Suche, die sich in allen Segmenten und Schichten der Gesellschaft vollzieht, auch wenn sie viele negative Verhaltensweisen und Tendenzen beinhaltet. Die Existenz dieser Suche unterscheidet die Zeit des Regimes und die Zeit seit der Revolution und sie bereitet den Boden für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft. Zu dieser Suche gehört auch, sich mehr an das zu erinnern, was das Regime uns vergessen machen wollte und es durch eine Neubewertung zu verstehen. Die Vergangenheit richtig und ausreichend zu analysieren und Schlussfolgerungen zu ziehen, ist für den Aufbau einer soliden Zukunft unerlässlich. Diese soziale Realität ist bei den Völkern in Nord- und Ostsyrien besonders ausgeprägt. So haben sich beispielsweise die kurdischen Alawiten und Êzîden zum ersten Mal seit den 1960er Jahren wieder zusammengefunden. Sie verehren und definieren die Werte ihrer Kultur neu, die ihre soziale Bedeutung verloren hatten, beleben ihre Kultur neu und geben und erschaffen so etwas, das dem Leben Sinn verleihen kann.

Der Wert dessen, dass vor Ort alle Glaubens- und Volksgruppen die Möglichkeit haben werden sich leichter und ohne Angst zu äußern und ihre Probleme zu diskutieren, darf nicht unterschätzt werden. Denn kein Nationalstaat in unserer Region war in den letzten hundert Jahren in der Lage, den Völkern unter seiner Souveränität ein solches Umfeld zu bieten. Obwohl in der irakischen Verfassung durchaus demokratische Artikel verankert sind und der syrische Staat das Konzept des Sozialismus verwendet hat, wurden diese relativ positiven Aspekte nie verwirklicht. Der Vergleich mit dem Nahen Osten des 20. Jahrhunderts zeigt, dass die Entwicklungen in Nord- und Ostsyrien ein Beweis für die Stärke und Vitalität der demokratischen Kultur des Nahen Ostens sind und dass sie sich schnell entwickeln kann, wenn sie die Gelegenheit dazu findet. Es ist unbestreitbar, dass dies der größte Gewinn für unsere Völker ist.

Es gibt Organisationen, die von allen ethnischen und religiösen Gruppen in der Region gemeinsam gegründet wurden. Bei diesen Organisationen handelt es sich sowohl um Frauen- und Jugend-, soziale und politische als auch um Glaubensorganisationen. So gibt es beispielsweise die Mesopotamische Union der Religionen, die von allen Glaubensrichtungen gemeinsam gegründet wurde. Diese Union hielt dieses Jahr ihre zweite Konferenz mit internationaler Beteiligung ab und traf wichtige Entscheidungen. Die Syrische Demokratische Versammlung ist die politische Dachorganisation aller Völker. Nicht nur im Bereich der politischen und religiösen Organisationen, sondern auch kulturell und gesellschaftlich hat es unter den Gruppen positive Entwicklungen gegeben, die mit der Zeit des Baath-Regimes nicht vergleichbar sind. Für alle Glaubens- und Volksgruppen ist es inzwischen zur Lebensroutine geworden, die wichtigen Feste und Gedenkfeiern der anderen zu respektieren und sich in einer Sprache einander anzunähern, in der man sich gegenseitig versteht. Die Haltung gegenüber den Êzîden, die vor allem durch die Muslime am meisten verachtet, ignoriert und verleumdet wurden, hat sich um hundertachtzig Grad gedreht. Auf gemeinsamen Plattformen konnten die Êzîden ihren Glauben ohne Zurückhaltung zum Ausdruck bringen und ihre Kritikpunkte darlegen.

Es gibt weitere wichtige Entwicklungen im kulturellen Austausch zwischen Glaubens- und Volksgemeinschaften. Diese Gruppen, die sich früher gegenseitig misstrauten, können nun an den Festen der jeweils anderen teilnehmen. Muslimische Geistliche besuchen Kirchen. Die Feste sind auch zu Tagen geworden, an denen alle Glaubensgemeinschaften einander leichter anrufen, sich nach dem Befinden des anderen erkundigen und sich gegenseitig feiern können. Aufrichtige Beileidsbekundungen, das Teilen des Schmerzes und der Trauer des anderen und Solidarität können ebenfalls als eine neue Entwicklung betrachtet werden. All diese kulturellen und sozialen Verhaltensweisen erhöhen das Gefühl der Solidarität zwischen den Völkern, stärken die Bande der Brüderlichkeit und vergrößern die gemeinsame Basis. Anfang September 2023 wurde dieses Gefühl der Solidarität auf die Probe gestellt, als die Türkei und ähnliche bösartige Gruppierungen, eine Operation gegen einige Bandengruppen in Deir ez-Zor als kurdisch-arabischen Widerspruch und Konflikt darstellten, um einen kurdisch-arabischen Krieg heraufzubeschwören. Dass es dennoch nicht zu einem Aufruhr unter der arabischen Bevölkerung kam, ist eines der praktischen Ergebnisse der Freundschafts- und geschwisterlichen Beziehungen zwischen den Völkern und Überzeugungen, die wir zu erklären versuchen. Denn in der gegenwärtigen Situation können die Gemeinschaften trotz aller Probleme und Schwierigkeiten sehen, was der andere durchmacht, seine Probleme und Bedürfnisse nachvollziehen und sich bemühen, ihn zu verstehen und zu unterstützen.

All diese gesellschaftlichen Entwicklungen bauen, dank des Paradigmas, auf dem sie beruhen, Tag für Tag ihr eigenes demokratisches, ökologisches und frauenfreundliches Leben in der demokratischen Nation auf. Wenn wir uns an die Völkermorde erinnern, die auf der Grundlage des religiösen, nationalistischen und faschistischen Systems und der Lebensgewohnheiten der herrschenden Moderne, die unsere Region seit Tausenden von Jahren gefangen halten, verübt wurden, werden wir den Wert und die Bedeutung dessen, was in Nord- und Ostsyrien geschieht, im Hinblick auf den Gewinn für die Menschheit besser verstehen.

1Am 12. März 2004 wurden bei vom syrischen Baath-Regime organisierten Auseinandersetzungen nach einem Fußballspiel in Qamişlo 32 Kurd:innen getötet. Nach diesem Massaker brach ein Aufstand aus, der sich in ganz Rojava und sogar in Aleppo und Damaskus ausbreitete. Der »Serhildan von Qamişlo« gilt als erster Massenaufstand in Rojava und fiel in eine Zeit, in der Saddam Hussein im Irak gestürzt wurde und gemeinsame Kabinetts­sitzungen der Türkei und Syriens stattfanden.


Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024