Die Beziehung zwischen der Nahost-Ordnung seit 1923 und der Kolonisierung Kurdistans

Über Kurd:innen und die Republik Türkei

Çağrı Kurt

Wäre es möglich, mit einer Zeitmaschine durch die Zeit zu reisen, um einen beliebigen Zeitpunkt in der Vergangenheit zu ändern, würden Kurd:innen wahrscheinlich zu den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg reisen. In allen Büchern über die Geschichte Kurdistans, die diesen Zeitraum als Wendepunkt behandeln, wird häufig der Satz gesagt: »Kurdistan wurde aufgrund der nach dem Ersten Weltkrieg getroffenen Vereinbarungen in vier Teile geteilt.«1 Diese Teilung hat jedoch dazu geführt, dass eine Situation entstanden ist, die weit über den Inhalt internationaler Abkommen hinausgeht. Denn die Menschen, die in Kurdistan leben, waren noch nie so weit davon entfernt, ihr eigenes Land zu regieren und ihre eigene Kultur zu bewahren, wie im letzten Jahrhundert.

Durch diese Feststellung soll hervorgehoben werden, dass die Gesellschaft Kurdistans als Ganzes in den Zeiten vor dem 20. Jahrhundert durchaus glückliche Zeiten erlebt hat. Die Abkommen nach dem Ersten Weltkrieg führten jedoch zu einer beispiellosen Verschlechterung, insbesondere in Bezug auf die soziale Struktur und die geografische Integrität, in der Geschichte Kurdistans. Die alleinige Existenz als kurdischer Mensch lässt sich seither als eine Form des Kampfes beschreiben. Ein Kampf gegen verschiedene koloniale Verwaltungen, ganz zu schweigen von den Feudalherren, Provinzen, Koranschulen und institutionalisierten kurdischen Einheiten des vorigen Jahrhunderts. Das vergangene Jahrhundert seit dem Ersten Weltkrieg trägt in sich die Summe der Momente, die dazu geführt haben, dass die beiden Grundpfeiler einer Nation, nämlich Land und Identität, in der Wahrnehmungswelt von durchschnittlichen Kurd:innen auf den Kopf gestellt wurden.

Die Beziehung zwischen den nationalstaatlichen Praktiken der Nahost-Ordnung, die aus dem Ersten Weltkrieg hervorging und der Kolonisierung Kurdistans soll hier genauer betrachtet werden. Die Folgen des Scheiterns jeglichen Widerstands, um die kollektiven Rechte des kurdischen Volkes gegen die imperialen Nachkriegs-Reststaaten (Iran-Türkei-Irak-Syrien) zu verteidigen, waren gravierend: Unter dem persischen Kolonialismus im Osten, dem arabischen Kolonialismus im Westen und Süden und dem türkischen Kolonialismus im Norden4 wurde das kurdische Volk verschiedenen physischen und kulturellen Völkermordmaßnahmen in unterschiedlicher Intensität ausgesetzt. Während das Territorium Kurdistans durch internationale Konflikte und Siedlungsdynamiken unsichtbar gemacht wurde, wurde die Verleugnung der kurdischen Identität durch nationalstaatliche Strukturen realisiert, die durch eine einzigartige historisch-gesellschaftlich-kulturelle Geschichtserzählung geprägt waren.

Nach Gründung der türkischen Republik trat diese, mit ihrem Erbe der Staatstraditionen des Osmanischen Reiches, schneller als andere Länder in den Prozess der Nationalstaatsbildung ein, was weitreichende Folgen für die politische Dynamik und Projektionen auf Kurdistan hatte, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Wie lassen sich also die Kurd:innen und die Republik im historischen Rahmen des letzten Jahrhunderts zueinander in Beziehung setzen?

Allgemeine Grundlagen

In seinem 1941 veröffentlichten Buch »Der Doppelstaat« hat Ernst Fraenkel das Deutschland der Hitlerzeit auf staatlicher Ebene »durchleuchtet« und grob argumentiert, dass Deutschland nicht von einem absoluten Zentralstaat, sondern von einer dualen Staatsstruktur regiert wurde. Er definiert eine dieser beiden Strukturen als Normenstaat und die andere als Maßnahmenstaat. Der Maßnahmenstaat wird als variable Struktur definiert, die keiner rechtlichen Beschränkung unterliegt, von ungezügelter Willkür, Gewalt und einer Politik der Straflosigkeit bestimmt wird und auf die Kontrolle und Neutralisierung des anderen abzielt. Der Normstaat hingegen stellt eine berechenbare Rechtsordnung dar, um das kapitalistische Wirtschaftssystem funktionsfähig zu machen und die öffentliche Ordnung, die Eigentumsrechte und die allgemeinen Interessen zu schützen.

Betrachtet man den von Fraenkel vorgestellten Rahmen, so war es seit ihrer Gründung der Republik Türkei möglich, durch die Unterscheidung zwischen der Türkei und Nordkurdistan duale Geographie, duales Rechtssystem, und duale Staatsverwaltung als Kategorien von Herrschaft durchzusetzen. Es ist anzumerken, dass diese doppelte Praxis in der Republik, anders als in Deutschland, nicht nur mit einem Fokus auf Individuen oder Gemeinschaften, sondern auch auf einer territorialen Basis formuliert wurde. Es sei darauf hingewiesen, dass diese Form der Herrschaft mit ihren spezifischen Komplikationen ein Kolonialismus türkischer Prägung ist. Bemerkenswert ist, dass diese Art Herrschaftssystem sich in allen Gesellschaftsbereichen auf eine Art und Weise festgesetzt hat, dass es auch bei wechselnden Regierungen bestehen bleibt. Der spekulativste Grund dafür ist der folgende: Es gibt eine Art Schattenstaat in der Türkei, es gibt einen Staatsgeist und eine verdeckte Struktur, die diesen Geist begleitet. Solange die Bindungen zwischen der Staatsräson und dem tiefen Staat nicht gelöst werden, wird sich die duale Staatsverwaltung der Republik nicht ändern.2

Die »grenzenlosen Gewaltpraktiken« des türkischen Staats unmittelbar nach der Ausrufung der Republik, die sich ­gegen alle kurdische Bewegungen richteten, die sich zwischen 1925 und 1938 gegen das Projekt der Nationalstaatsbildung formierten, sind der Ausgangspunkt einer lebendigen Erinnerung, die die Beziehung zwischen Kurd:innen und der türkischen Republik bis heute prägen. Die Praktiken grenzenloser Gewalt, die zum Massaker an mehr als fünfzigtausend Menschen, zur Verbrennung von Zehntausenden von Häusern, zur Zerstörung von Hunderten von Dörfern und zur Vertreibung oder Zwangsmigration unzähliger Menschen führten, entsprechen den militärischen Besatzungsversuchen, die ein Staat unternimmt, um sich durch Krieg ein Stück Land anzueignen, das ihm nicht gehört. Diese Jahre, an die sich die kurdische Gemeinschaft mit einem Fluch erinnert, werden im Rahmen einer heiligen Geschichtserzählung behandelt, in der Kriegsverbrechen, die einem Völkermord gleichkommen, der türkischen Republik zugeschrieben werden.3

Während die kurdische Identität politisch verleugnet wurde, waren die Kurd:innen unverzichtbare Werkzeuge für den Aufbau eines Nationalstaates, indem sie dessen kulturellem4 und demografischem5 »Dasein« als Rohmaterial dienen sollten. Die Tatsache, dass das kurdische Volk trotz einer umfassenden Politik des physischen und kulturellen Völkermords seine kurdischen Gebiete nicht aufgab und dieses Beharren im Laufe der Zeit in einen grenzüberschreitenden organisierten Kampf umwandelte, führte dazu, dass die klassische Formation des türkischen Kolonialismus eine Transformation erfuhr. Die immer komplexer werdende Kurdistanfrage wird auf lokaler, regionaler und globaler Ebene zunehmend sichtbarer. Grund dafür ist, neben der Störung des Nationalstaatsbildungsprozesses der Republik Türkei, genau diese, sich fortlaufend entwickelnde Struktur des kurdischen Freiheitskampfes.

Es ist daher klar, dass der koloniale Ansatz, den die Republik Türkei seit 2015 auf der Nord-West-Süd-Achse Kurdistans verfolgt, auf einen historischen Unterschied in Bezug auf die geopolitische Vorstellungskraft und das räumliche Verständnis hinweist.6 Die Tatsache, dass der räumliche und geopolitische Charakter des türkischen Kolonialismus sichtbarer ist, hängt damit zusammen, dass die kurdische Gesellschaft als Ganzes zwar nicht das gewünschte Nationalbewusstsein erlangt hat, dass aber die otherisierenden7 Haltungen des klassischen Kolonialismus oder die Haltungen, die die Existenz von Identität leugnen, in der kurdischen Gesellschaft nicht überleben können. Es entsteht jedoch der Eindruck, dass die aktuelle Version des türkischen Kolonialismus nicht die Perspektive hat, den Raum in Kurdistan zu transformieren und neu zu organisieren. Er scheint vielmehr darauf ausgelegt zu sein, einen riesigen Scherbenhaufen zu hinterlassen, der für immer zerstört bleiben soll. Die Modellrepublik 2023 ist keine Einladung an das kurdische Volk für ein »gutes Leben«. Anstatt Krieg und Frieden in Kurdistan besondere Bedeutung beizumessen, besteht das Hauptziel der Republik darin, Kurdistan durch diese Phänomene militärisch beherrschbar und psychologisch manipulierbar zu halten.


Auswertung

Im vergangenen Jahrhundert haben die militärisch-politisch-bürokratischen Eliten der Republik Türkei durch den ideologischen Apparat, den sie als Mittel zur Legitimierung der Verweigerung des Kurdischen einsetzten, eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Kurden-/Kurdistanfrage gespielt. Daher ist die Kurden-/Kurdistanfrage auch ein Problem der Zeit im weiteren Sinne.

Von den Eliten der Staatsgründung wurde Zeit als eine doppelte Strategie konstruiert und umgesetzt. Die erste war die Zeit, die für die Vollendung des künstlich konstruierten Prozesses der Nationenbildung benötigt wurde. Die zweite war die Zeit, die für die Auflösung und Assimilierung der Bevölkerung benötigt wurde, die sich weigerte, in die neuen nationalen Definitionen und Grenzen einbezogen zu werden. Die staatlichen Institutionen kalkulierten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, dass diese »Restbevölkerung«, die sie in der Dichotomie von Assimilation und Eliminierung bewerteten, erschöpft, verbraucht und ihre Identität vergessen sein würde, so dass sich auf diese Weise die Zahl der Individuen erhöhen würden, die die neue Nation benötigt. Teilweise (vor allem in Bezug auf andere Gruppen als die Kurd:innen) haben sie erreicht, was sie wollten. Es ist evident, dass diese jahrhundertealte Strategie insgesamt angesichts der anhaltenden Präsenz der Kurd:innen nicht erfolgreich war, aber dennoch hält die Republik Türkei an dieser zersetzenden Zeitstrategie in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft als bewusste staatliche Politik fest. Die Reaktion der kurdischen Bevölkerung, die das von den staatlichen Institutionen mit Hilfe des Zwangsapparates aufgezwungene »ethnische Asyl« zum Türkentum ablehnt, war meist Widerstand.8

 

 Fußnoten

1 Denise Natali, Kürtler ve Devlet, Avesta Yayınları, 2009.

2 Ayhan Işık, Devlet Aklı + Derin Millet Simbiyozu, 1+1 Express, 2023. Link: https://birartibir.org/devlet-akli-derin-millet-simbiyozu/

3 Tarık Zafer Tunaya. Türkiye’de Siyasi Partiler: 1859-1952. Doğan Kardeş Yayınları. 1952. S. 614

4 Abdullah Öcalan, Kürdistan Devriminin Yolu (Manifesto), Weşanên Serxwebûn, 24, 1993.

5 Hamit Bozarslan, Kendi Geleceklerini Kürtler Tahayyül Etmeli, Duvar Gazetesi, 2019. Link: https://www.gazeteduvar.com.tr/gundem/2019/11/04/hamit-bozarslan-kendi-geleceklerini-kurtler-tahayyul-etmeli

6 Renas Cudi, Kürdistan–Türkiye İlişkilerine Yönelik Eleştirel Bir Okuma, Yeni Özgür Politika, 2021. Link: https://www.ozgurpolitika.com/haberi-kurdistan-turkiye-iliskilerine-yonelik-elestirel-bir-okuma-156972

7 Der Begriff Othering (engl. other = »andersartig« – Andersmachung) beschreibt im Kontext der postkolonialen Theorie die Distanzierung und Differenzierung zu anderen Gruppen, um seine eigene »Normalität« zu bestätigen.

8 Ayhan Işık A, Gülay Kılıçarslan, Behzat Hiroğlu, Kübra Sağır, Çağrı Kurt. Kürtler ve Cumhuriyet. Dipnot Yayınları. Ankara. 2024.


Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024