Soziologie der Freiheit – Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage
Das Mentalitätsproblem der Gesellschaft
Abdullah Öcalan
In den letzten Ausgaben des Kurdistan Reports haben wir angefangen, Texte aus dem Kapitel »Die gesellschaftliche Frage« in Band 3 der »Gefängnisschriften – Manifest der demokratischen Zivilisation« von Abdullah Öcalan abzudrucken. Wir begannen mit »Das Problem von Macht und Staat« und fuhren mit »Das gesellschaftliche Problem von Moral und Politik«, dem zweiten Teil des Kapitels in der letzten Ausgabe fort. In dieser Ausgabe des Kurdistan Reports wird »Das Mentalitätsproblem der Gesellschaft« reflektiert, der dritte Teil des Kapitels.
Eine der ersten Voraussetzungen dafür, eine Gesellschaft der Ausbeutung zu öffnen, ist zweifellos, sie der Moral und Politik zu berauben. Ohne den Niedergang der gesellschaftlichen Mentalität, der Basis dieser beiden Gefüge, herbeizuführen, kann dieser Raub nicht durchgeführt werden. Aus diesem Grund konstruierten die Herrschenden und die ausbeuterischen Monopole im Laufe der Geschichte immer zuerst die ›Hegemonie über die Mentalität‹. Dass die sumerischen Priester, um in der sumerischen Gesellschaft für Produktivität zu sorgen, also um sie der Ausbeutung zu öffnen, als Erstes Tempel (Zikkurate) errichteten, ist ein eindeutiger Beweis dieser Tatsache. Es ist von großer Wichtigkeit, sich die Funktion des sumerischen Tempels als heute noch fortwirkenden historischen Ursprung der Entstellung und Eroberung des gesellschaftlichen Verstandes vor Augen zu halten.
Ich habe mit Nachdruck betont, dass die gesellschaftliche Natur eine äußerst flexible geistige Struktur ist. Ohne vollständig zu begreifen, dass die Gesellschaft die intelligenteste Natur ist, kann man keine sinnvolle Soziologie entwickeln. Deswegen betrachteten es die Despoten, Herrschenden und Hinterlistigen als ihre oberste Aufgabe, zuerst die Intelligenz und das Denkvermögen der Gesellschaft zu schwächen und als erstes Monopol das Mentalitätsmonopol, also den Tempel, zu errichten. Dieser ursprüngliche Tempel erfüllte zwei Funktionen zugleich. Erstens war er als Mittel der geistigen Herrschaft, als hegemoniales Mittel äußerst wichtig. Zweitens stellte er ein geeignetes Mittel dar, um der Gesellschaft ihre ureigenen geistigen Werte zu entreißen.
Die ureigene Mentalität der Gesellschaft, als Begriff, bedarf eines guten Verständnisses. Als die Menschheit den ersten Stein und den ersten Stock in die Hand nahm, hatte sie eine Arbeit im Kopf. Es handelte sich dabei nicht um einen Instinkt, sondern um den Keim des analytischen Denkens. Der gesellschaftliche Fortschritt durch das Sammeln von Erfahrungen ist im Wesentlichen diese Konzentration des Denkens. Je mehr Erfahrungen eine Gesellschaft sammelt und je mehr sie folglich ihr Denken intensiviert, desto mehr gewinnt sie an Fähigkeiten und Kraft. Sie ernährt, schützt und reproduziert sich effektiver. Dieser Prozess erklärt, was gesellschaftlicher Fortschritt ist und warum ihm eine große Bedeutung zukommt. Indem die Gesellschaft sich selbst ständig zum Denken bringt, bildet sie ihre moralische Tradition, die wir auch als kollektive Intelligenz oder Gewissen bezeichnen, also ihr kollektives Denken. Die Moral ist aus diesem Grund sehr wichtig, denn sie ist der wertvollste Schatz und der Erfahrungsreichtum der Gesellschaft, der Grund ihres Weiterbestehens, das Hauptorgan ihres Überlebens und Fortschritts. Die Gesellschaft weiß sehr genau, dass sie zerfallen würde, sobald sie dies verliert. Deswegen legt sie mit der Schärfe ihrer Instinkte großen Wert auf die Moral. In den alten Klan- und Stammesgesellschaften stand auf das Nichteinhalten der moralischen Regeln entweder die Todesstrafe oder der Ausschluss aus der Gesellschaft, wodurch die Gesellschaftsmitglieder dem Tod ausgeliefert waren. Selbst dem ›Ehrenmord‹ liegen – wenn auch in sehr verzerrter Form – diese Regeln zugrunde.
Während die Moral die Tradition des kollektiven Denkens repräsentiert, erfüllt die Politik eine etwas andere Funktion. Um über aktuelle kollektive Angelegenheiten zu diskutieren und zu entscheiden, bedarf es der Denkkraft. Für die Politik ist die Produktion aktueller, kreativer Gedanken unabdingbar. Die Gesellschaft weiß wiederum sehr genau, dass man weder politisches Denken schaffen noch Politik betreiben kann, ohne sich als Quelle und Gedankenreichtum auf die Moral zu stützen. Die Politik ist ein unerlässliches Aktionsfeld für alltägliche kollektive Angelegenheiten (Gemeinwohl). Auch wenn es unterschiedliche, ja sogar konträre Meinungen gibt, muss man diskutieren, um über gesellschaftliche Angelegenheiten Entscheidungen zu treffen. Eine Gesellschaft ohne Politik ist eine, die entweder wie eine Tierherde sich an die Regeln anderer hält oder wie ein enthauptetes Huhn herumspringt. Die Denkfähigkeit ist keine Überbauinstitution, sondern das Gehirn der Gesellschaft, wobei Moral und Politik ihre Organe bilden.
Ein weiteres gesellschaftliches Organ ist selbstverständlich der Tempel als heiliger Ort. Allerdings war dieser Tempel nicht der der hegemonialen Macht (Hierarchie und Staat), sondern der heilige Ort der Gesellschaft selbst. Dieser heilige Ort der Gesellschaft selbst nimmt bei archäologischen Funden einen Ehrenplatz ein. Er ist vielleicht das einzige bedeutende Gebäude, das bis heute bestehen blieb. Das kann kein Zufall sein. Der erste heilige Ort der Gesellschaft ist der Ort, wo die ganze Vergangenheit, alle Ahnen, die Identität und das ihr Gemeinsame vertreten werden. Er ist ein Ort gemeinsamen Andenkens und Betens. Er ist ein Ort des sich an sich selbst Erinnerns und des Gedenkens, ein Zeichen dafür, dass man Zukunftsweisendes schafft, und ein wichtiger Grund des Beisammenseins. Die Gesellschaft war sich dessen bewusst, dass der Tempel eine umso größere Repräsentationsfähigkeit und Bedeutung erlangte, je auffälliger und prachtvoller er gebaut, je mehr seine Lage eines schönen Lebens würdig war. Deswegen wurde Pracht am meisten an Tempeln zur Schau gestellt. Wie es auch am sumerischen Beispiel ersichtlich wird, war der Tempel gleichzeitig das Lager von Produktionsmitteln und die Unterkunft von Werktätigen. Er war also der Ort kollektiver Arbeit. Er war nicht nur ein Gebetsraum, sondern auch ein Ort der gemeinsamen Diskussion und Entscheidung. Er war das politische Zentrum, das Handwerkerhaus, ein Ort von Erfindungen. Er war das Zentrum, an dem Architekten und Gelehrte ihre Fertigkeiten ausprobierten. Er war das erste Modell einer Akademie. Es ist kein Zufall, dass Tempel im Altertum gleichzeitig Zentren der Orakel bildeten. Diese ganzen Faktoren und noch Hunderte andere zeigen die Bedeutung von Tempeln. Diese Institution kann man ruhig als das ideologische Zentrum der gesellschaftlichen Mentalität bezeichnen.
Die Megalithen bei Urfa sind zwölftausend Jahre alt. Als dort ein Tempel errichtet wurde, hatte die landwirtschaftliche Revolution noch nicht stattgefunden. Aber es ist offensichtlich, dass für die Bearbeitung und das Aufstellen jener Megalithen die Existenz sehr fortgeschrittener Menschen und daher einer sehr fortgeschrittenen Gesellschaft voraussetzten. Wer waren sie? Wie sprachen sie? Wie ernährten sie sich? Wie pflanzten sie sich fort? Wie waren ihre Gedanken und Sitten? Wie sicherten sie ihren Unterhalt? Überhaupt keine Spur einer Antwort auf all diese Fragen. Das Einzige, was davon übrig blieb, sind die Ruinen von Megalithen und – mit großer Wahrscheinlichkeit – eines Tempels. Da einfache Bauern selbst heute noch nicht in der Lage wären, diese Steine zu bearbeiten, hinaufzubefördern und aufzustellen, dürften die Menschen, die es taten, und ihre Gesellschaft nicht rückständiger gewesen sein als die heutigen Bauern und Dorfgesellschaften. In Bezug auf solche Aspekte können wir nur Vermutungen aufstellen. Urfas Heiligkeit erreicht uns – wenn auch auf Umwegen – vielleicht wie ein Fluss, dessen Quelle in dieser Tradition liegt, die älter ist als die geschriebene Geschichte.1 In diesem Sinne diskutiere ich nicht die Existenz und Bedeutung des gesellschaftlichen Tempels, sondern des hegemonialen Tempels.
Ägyptische Priester spielten bei der Entstehung des hegemonialen Tempels eine zumindest ebenso große Rolle wie sumerische. Indische Brahmanen standen ägyptischen Priestern in nichts nach. Die Tempel Fernen Osten waren den sumerischen und ägyptischen ebenbürtig. Auch die südamerikanischen Tempel waren hegemonialer Art. Nicht ohne Grund wurden in diesen Tempeln junge Menschen geopfert. Die herrschenden Tempel aller Zivilisationsären waren hegemonial – wie die Kopien eines Originals. Die Hauptfunktion dieser Zentren war die Bereitstellung der Gesellschaft zur Nutzung zugunsten der Herrschenden. Während der militärische Arm des Monopols grauenvollerweise Häupter von Rümpfen trennte, um sie im Bau von Burgen und Wehrmauern zu verwenden, arbeitete auch ihr geistlicher Arm durch Eroberung der Mentalität auf dasselbe Ziel hin. Beide Tätigkeiten lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, um bei der Versklavung von Gemeinschaften eine Rolle zu spielen. Während das eine Schrecken erzeugte, erzeugte das andere Zustimmung. Wer kann die Kontinuität der Jahrtausende alten Zivilisationsgesellschaft in Bezug auf dieses Vorgehen negieren?
Die hegemoniale europäische Zivilisation hat in dieser Hinsicht ihre Form verändert, ihr Wesen aber gänzlich bewahrt. Dass die riesigen nationalstaatlichen Apparate über der Gesellschaft sich nicht auf diese Veränderung beschränkten, sondern die Gesellschaft, in deren innerste Poren sie eindrangen, von sich abhängig machten, ist eine Alltagsbeobachtung. Was ist es, was von Universitäten, Akademien und unter ihnen Ober-, Mittel- und Grundschulen und Kindergärten betrieben und von Kirchen, Synagogen und Moscheen ergänzt und geschärft wird, wenn nicht die Eroberung, Besetzung, Assimilierung und Kolonialisierung der Überreste des gesellschaftlichen Verstandes und ihrer moralischen und politischen Gefüge? Es ist also kein Geschwätz, wenn manche wertvollen Denker sagen, die ›Vermassung‹ der Gesellschaft sei ihre Verherdung. Zudem ist die Erinnerung daran, dass diese Kolonialisierung des Verstandes zur faschistischen Gesellschaft führt, noch frisch. Auch dieses Blutbad der neueren Geschichte war das Ergebnis dieser Eroberung der Mentalität.
Es würde nicht schaden zu wiederholen: Wenn man mit den Ikonen des Nationalismus, Religionismus, Sexismus, Sportismus und Artismus wedelt, lassen sich die Massen zu jedem beliebigen Ziel führen. Die Eroberung des Verstandes bildet die Grundlage einer Entwicklung, die die Gesellschaft dem globalen Finanzkapital in einem Ausmaß ausliefert, wie keine Gewalt es vermöchte. Vor den sumerischen Priestern und den Tempeln, die sie erfanden, muss man nochmals salutieren! Welch große Eroberer ihr wart, sodass eure heutigen Vertreter in ihren Tempeln trotz der fünftausend Jahre, die seitdem vergangen sind, die größte Kapitalakkumulation der Geschichte vollbringen, ohne einen Finger zu krümmen! Selbst die stärksten Gottesbilder und -schatten (zilullah) konnten keinen solch großen Gewinn einbringen. Also stellt die stetige und kumulative Kapitalakkumulation keinen gegenstandslosen Begriff dar. Die geistigen Verdrehungen sind also keine einfachen Operationen. Dr. Hikmet Kıvılcımlı und der italienische Denker Antonio Gramsci saßen in den Gefängnissen einer Zeit, in welcher der Nationalstaat am meisten verherrlicht wurde, als sie ähnliche Definitionen der hegemonialen Eroberung entwickelten. Was sie wussten, wussten sie aus ihren eigenen Erfahrungen. Auch ich bin in letzter Instanz ein ›Gefangener‹ des globalen Kapitals. Es nicht richtig zu erkennen, wäre als Person meines Verstandes (meiner Identität) ein Verrat am ureigenen Verstand der Gesellschaft.
Fußnote
1 Zur Heiligkeit Urfas siehe auch Abdullah Öcalans Essay Urfa – Segen und Fluch einer Stadt, Münster 2019.
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024