Die Welt neu denken: Herausforderungen, Übergänge und kurdische Perspektiven
Kurdische Perspektiven – diskutiert in Berlin
Am 1. und 2. März 2024 fand in Berlin eine Konferenz mit dem Titel »Die Welt neu denken: Herausforderungen, Übergänge und kurdische Perspektiven« statt. Organisiert wurde sie von Kurd-Akad, dem Netzwerk kurdischer AkademikerInnen e.V., und Civaka Azad, dem kurdischen Informationszentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.
Ziel der Konferenz war es, mit Expert:innen aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft die grundlegenden Konflikte im Nahen Osten zu analysieren und sowohl deren internationale Konnotationen als auch die unterschiedlichen Interessen und Perspektiven der beteiligten Akteure zu thematisieren. Außerdem sollten das Potenzial und die Perspektiven für eine Transformation in der Region selbst analysiert werden.
Die Konferenz begann mit einem Einführungsvortrag von Prof. Dr. Hamit Bozarslan zum Thema »Die Weltordnung: vom Status quo zum Neubeginn«. Ob sich sein Eingangsstatement von pessimistischen Bedingungen, die vorherrschen, halten lässt, werden wir im Laufe dieses Artikels sehen. Volle Zustimmung allerdings lässt sich zum zweiten Abschnitt seines Eingangsstatements geben »Ich fange mit der kurdischen Frage an, und ich werde mit der kurdischen Frage aufhören.« Denn dieses zeigt das Wesentliche im Hinblick auf die Konferenzthematik. Die kurdische Causa ist zentral, sowohl was die Herausforderungen betrifft, als auch die Übergänge, und Kurd:innen sind in Bezug auf Perspektiven für die Welt der Zukunft wichtig. Prof. Bozarslan umreißt in seinem Vortrag den Wandlungsprozess des kurdischen Volkes vom Faktor, dessen Existenz nicht gesichert war – die 1980iger Jahre sind aus seiner Sicht die dunkelste Periode –, bis zum Akteur mit zahlreichen Errungenschaften, wie die Kurdistan Region des Irak, die Demokratische Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien, der Aufstand in Rojhilat und die dynamische kurdische Gesellschaft in der Türkei. Demgegenüber ist die Zusammenarbeit von an sich verfeindeten Staaten, v.a. Iran, Russland und Türkei ebenfalls von großer Bedeutung.
Russland ist ein relevanter Akteur, nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine. Die Journalistin Anastasia Tikhomirova verweist in ihrem Vortrag »Russland, die Ukraine und die NATO: alte Konflikte – neue Strategien« auf die imperialen und kolonialen Eroberungskriege bzw. Vereinnahmungen Russlands seit dem 16. Jahrhundert (damals Moskowien), die für die historische Einordnung der aktuellen Entwicklungen rund um den Krieg in der Ukraine relevant sind. Ein zentraler Aspekt in Bezug auf Russlands Rolle im Mittleren Osten ist die Feststellung, dass Assad nicht mehr an der Macht wäre, wenn Russland ihm bzw. Syrien nicht zur Hilfe geeilt wäre. Mit der Kritik am Westen, sich jahrelang gegenüber der »völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, dem Krieg im Donbas, russischen Militäraktionen in Syrien, den Tschetschenienkriegen, massiver Repression gegen Oppositionelle …« nicht positioniert zu haben, spricht Anastasia Tikhomirova einen Punkt an, der auch auf die Haltung in Bezug auf die Türkei eine bittere Realität ist.
Exemplarisch für den Westen und diese Haltung sind die USA – Thema von Prof. Dr. Amy Austin Holmes von der Elliot School of International Affairs, USA. Prof. Holmes verweist auf den zunehmenden Expansionismus Russlands, Chinas und insbesondere der Türkei, wobei letztere nicht ausreichend Beachtung findet, obwohl sie fast 10% Syriens okkupiert hat. Die Diskussionen rund um das russische Waffensystem S-400 zeigen Prof. Holmes zufolge, dass die entsprechenden US-Sanktionen nicht effektiv waren, und die Türkei sich im Bereich der Rüstungsindustrie zunehmend autonome Räume schafft. Den Großteil des Vortrags widmet sie den Errungenschaften rund um die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES), was im Hinblick auf die Einordnung der Kurd:innen und ihrer lokalen Verbündeten als zentraler Player wichtig ist. Sie verweist dabei auch auf das Paradox, dass keine der 87 Staaten, die Teil der Internationalen Allianz gegen den IS sind, die AANES offiziell anerkennen, von ihr jedoch die Erfüllung aller Aufgaben und Auflagen erwarten, die staatlichen Akteuren bzw. Staaten zugeschrieben werden.
Die Journalistin Kristin Helberg, die zum Titel »Der Nahe Osten als Pulverfass: Konfliktlinien und Konnotationen« sprach, setzt ebenfalls in Syrien an als Beispiel für einen innerstaatlichen Konflikt, der sich mit der Intervention der Türkei und der USA auf der einen und Russland und Iran auf der anderen Seite zu einem regionalen und internationalen Konflikt ausgeweitet hat. In diesem Kontext verweist Kristin Helberg auch auf die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Iran und Israel. Sie kritisiert, wie auch ihre Vorrednerinnen, die fehlende einheitliche Haltung der internationalen Staatengemeinschaft: »Völkerrechtsbrüche, welche in Syrien die Regel geworden sind, wiederholen sich andernorts, weil sie in Syrien ungestraft blieben«. Fazit ihres Vortrags ist, so hat sie es selbst formuliert, dass eine multipolare Weltunordnung herrscht.
Hediye Levent, die zu den Kriegen und Konfliktlinien des Mittleren Ostens im Schatten des Ukrainekrieges referiert hat, verweist insbesondere auf die Auswirkungen dieses Krieges auf die Menschen in der Region des Mittleren und Nahen Ostens und führt weitere Akteur:innen wie z.B. den Jemen an.
Die sich aus all den Konflikten und Kriegen ergebenden Konfliktlinien führen zu einem demographischen Wandel und Fluchtbewegungen aus der Region und entsprechenden Reaktionen Europas bzw. Deutschlands, zu denen die Migrationsforscherin Valeria Hänsel von medico international referiert hat. Die Rückkehr zu »geordneter bzw. stark reduzierter« Migration ist wesentliches Element der europäischen bzw. deutschen Antwort auf die Migrationsströme.
Der Vortrag von Sara Aktaş mit dem Titel »Die Länder im Mittleren Osten und Kurdistan: vereinte Feinde« – der letzte am ersten Konferenztag – knüpfte an die Einführung von Prof. Bozarslan an, der die Kooperation von an sich verfeindeten Staaten ebenfalls als wichtigen Aspekt ansprach.
Der zweite Tag der Konferenz startete mit einem Vortrag von Prof. Dr. Kenan Engin zu über 100 Jahren kurdischer Migration nach Deutschland. Ausgehend davon wurden die deutsch-türkischen Beziehungen umfassend analysiert. Prof. Dr. Mithat Sancar bezog sich dabei auf die staatlichen Beziehungen mit dem Schwerpunkt Türkei, während sich der Menschenrechtsaktivist und Moderator Yilmaz Kaba eher auf die Widersprüche deutscher Politik fokussierte. Dr. Hüseyin Çiçek beschäftigte sich mit den Leitstrukturen deutscher Außenpolitik im Kontext von Interessen vs. Werten.
Im letzten Konferenzabschnitt mit dem Titel »Eine andere Weltordnung: neue Impulse und Perspektiven« gelang es größtenteils, die pessimistischen Bedingungen, von denen Prof. Bozarslan eingangs gesprochen hatte, aufzubrechen und positive Impulse zu setzen. Vernoique Dudouet von der Berghof Stiftung sprach über Resistenzen und Resilienzen im Kontext von Strategien zur Friedensbildung. Asya Abdullah, Co-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Einheit, präsentierte das regionale Modell der Demokratischen Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien als internationale Option. Ich selbst schloss meine Rede zum Thema »Von der Losung zur Lösung: Perspektiven von Jin, Jiyan, Azadî« mit den Worten ab »Es ist die Ära der Revolution der Frau.«. Nilüfer Koç vom Kurdistan National Kongress hob in ihrer Rede mit dem Titel »Den gordischen Knoten durchschlagen: die Lösung der kurdischen Frage – Erwartungen an Deutschland« die Transformationsprozesse hervor, die das kurdische Volk und ihre Bewegung vollzogen haben und zeigte damit nicht nur Optionen für den Mittleren Osten, sondern auch für die deutsch-kurdischen Beziehungen auf.
Die deutsch-kurdischen Beziehungen sind wesentlich, so zeigt es sich auch im Teilnehmerprofil der Konferenz. Denn die Mehrheit waren Kurd:innen. Daraus lassen sich zahlreiche Schlüsse ziehen. Kurd:innen verstehen sich als Akteur:innen und wollen Transformationsprozesse und -perspektiven mitdiskutieren und mitgestalten. Auch die Tatsache, dass eine solche Konferenz nach fast zehn Jahren wieder in Berlin stattgefunden hat, hat eine positive Wirkung auf die kurdische Community gehabt.
Die Frage, warum Entscheidungsträger:innen und Politiker:innen der Konferenz fernblieben oder ihre Teilnahme als Referent:innen kurzfristig abgesagt haben, muss genauer betrachtet werden. So hat beispielsweise das Außenministerium, das beharrlich von feministischer Außenpolitik spricht, keine Vertreterin entsandt. Dabei ist ein interessanter Aspekt zu beachten: Im Ministerium ist ein Staatsminister, also ein Mann, für feministische Außenpolitik zuständig. Die Haltung von Politiker:innen/Institutionen lediglich mit der Distanz zu bestimmten kurdischen Organisationen, der Sensibilität des Themas und seinen möglichen Auswirkungen auf türkische Akteure in Deutschland und die zwischenstaatlichen türkisch-deutschen Beziehungen zu begründen, wird der Vielschichtigkeit des Problems nicht gerecht. An dieser Stelle ist Selbstkritik durchaus angebracht. Die positive politische und zivilgesellschaftliche Resonanz auf den Sieg über den IS in Rojava – einschließlich der Forderung nach einer Neubewertung der PKK – hat Zuversicht geschaffen. Schwächen in Bezug auf Kontinuität und Nachhaltigkeit führten dazu, dass wir unsere Kontakte nicht aufrechterhalten oder ausbauen konnten. Wir haben nicht die notwendige Arbeit geleistet, um aus diesem Momentum langfristige politische Ergebnisse zu erzielen.
Wir müssen den Druck auf die Politiker:innen erhöhen, entschlossen sein und deutlich machen, dass kurdische Perspektiven nicht nur lokale oder regionale, sondern auch globale Lösungen bieten. Demokratische, ökologische und geschlechtergerechte Gesellschaften sind jenseits von Macht und Nationalstaat möglich.
Besonders positiv ist die Geschlechterverteilung der Referierenden: 12 Frauen und 6 Männer. Während zu negativ oder hegemonial konnotierten Themen wie den deutsch-türkischen Beziehungen und den Kurd:innen mehrheitlich Männer sprachen, referierten in den Foren »3. Weltkrieg? Einschätzungen und Szenarien« und »Eine andere Weltordnung: Neue Impulse und Perspektiven« ausschließlich Frauen. Dies zeigt, dass dies das Zeitalter der Frauenrevolution ist, wie bereits der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan erklärte. Frauen analysieren die Geschichte sowie die Gegenwart, und sie gestalten die Zukunft.
Was Berlin betrifft, so ist es für die Zukunft notwendig, dass wir weiterhin solche Konferenzen organisieren, dass wir beharrlich auf Politiker:innen und Entscheidungsträger:innen zugehen und die kurdischen Perspektiven verbreiten.
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024