Aktuelle politische Lage
Die Bedeutung der aktuellen Entwicklungen in Südkurdistan
Ferda Çetin, Journalist
Der globale Hegemonialkrieg, auch als Dritter Weltkrieg bezeichnet, findet in voller Intensität statt. Das Zentrum dieses Krieges liegt zweifellos in Kurdistan und dem gesamten Mittleren Osten. In Syrien und im Irak hat sich der Krieg verschärft; in Rojava und Südkurdistan hat er einen anderen Charakter angenommen.
Es handelt sich eher um einen ideologischen und systemischen Krieg als um einen Krieg um territoriale Herrschaft. Die USA, Großbritannien, Frankreich und die EU, sind mit den Kurd:innen in der Anti-IS-Koalition ein Bündnis eingegangen, zeigen auf politischer Ebene jedoch eine antikurdische Haltung. Die westlichen Staaten betrachten Öcalans demokratischen Konföderalismus als gefährlich und verwerflich. Öcalans Konföderalismus, der nicht etatistisch und machtorientiert ist, sondern auf Selbstverwaltung und Gesellschaftlichkeit basiert, wird als ein gefährliches System angesehen, das sich jenseits akzeptierter Kriterien der kapitalistischen Moderne bewegt.
Diese Gegnerschaft ist keine einfache gewöhnliche Ablehnung. Die UNO, die USA, Deutschland, Großbritannien und Frankreich, die mit Al-Qaida verhandeln und das Taliban-Regime in Afghanistan anerkennen, erkennen die kurdische Selbstverwaltung in Syrien politisch nicht an. Was noch schwerwiegender ist: sie unterstützen die Türkei in ihrem Krieg gegen Rojava. Die Öffnung des irakischen und syrischen Land- und Luftraums für die türkische Armee, die Bombardierung von ziviler Infrastruktur in Rojava auf Befehl des türkischen Außenministers Hakan Fidan und die systematische Bombardierung von Şengal und Mexmûr in Südkurdistan durch türkische Flugzeuge sind keine Angriffe, die die Türkei aus eigener Kraft durchführt. Es sind Angriffe, die mit Wissen und Billigung der UNO, der NATO, der USA, Großbritanniens und der Europäischen Union durchgeführt werden.
Dieser Krieg tritt nun in eine neue Phase ein
Die Besuche der türkischen Außen- und Verteidigungsminister sowie des Leiters des türkischen Geheimdienstes MİT in Bagdad und Hewlêr (arab. Erbil) in den letzten zwei Monaten sowie ein gemeinsames Treffen von Kommandeuren der türkischen Armee und der PDK1-Peşmerga in Behdînan2 deuten darauf hin, dass in naher Zukunft ein Angriff auf die Guerillagebiete erfolgen wird. Auch Äußerungen Erdoğans und des türkischen Verteidigungsministers offenbaren Hinweise auf einen Angriff der Türkei auf Südkurdistan und Rojava in naher Zukunft. Nach den Verhandlungen wurde bekannt, dass auch der irakische Staat einer solchen Operation zugestimmt hat. Erdoğans Besuch in Bagdad im April wird vermutlich im Rahmen der letzten Vorbereitungen für einen möglichen Angriff stattfinden.
Der irakische Staat und die derzeitige Regierung sind jedoch nicht monolithisch und einheitlich. Die Regierung in Bagdad hält ein Gleichgewicht zwischen dem von den USA und Großbritannien beeinflussten Flügel und den vom Iran kontrollierten Teilen der irakischen Politik; aber es gibt auch lokale Kräfte, Politiker:innen, Sektenanführer und Gruppen, die dieses Gleichgewicht beeinflussen. Es heißt, dass Nouri al-Maliki, der Anführer der sogenannten »Rechtsstaat-Allianz«, Hadi Amiri, der Anführer der [irakischen] Fatah, und Qays Xezali, der Anführer der Asaibu Ahlil Haq-Miliz seien gegen die türkische Besetzung des irakischen Territoriums und eine neue Operation. Es ist jedoch bemerkenswert, dass diese Akteure und viele andere Gegner der Türkei, die in der irakischen Politik einflussreich sind, nicht auf die Bekanntmachung eines Übereinkommens durch Hakan Fidan nach dessen Besuch in Bagdad am 14. März 2024 reagiert haben. Trotz ihrer Widersprüche haben die beiden Flügel, die sich die Macht im Irak teilen, keine ernsthafte Reaktion auf das Abkommen der Türkei mit dem Irak gezeigt.
Diplomatische Kriegsvorbereitungen
Die zunehmenden diplomatischen Gespräche auf hoher Ebene zwischen dem Irak und der Türkei, das Projekt der »Entwicklungsroute« (Iraq Development Road Project), das Verbot der PKK durch die irakische Nationale Sicherheitsbehörde erfolgen auf Wunsch und mit Zustimmung des Iran und der USA; und der Iran, der mit den USA um Einfluss im Irak und in Syrien ringt, hat derzeit keine Einwände gegen die Kooperationsabkommen der Türkei mit dem Irak.
Während des Besuchs des iranischen Präsidenten Ibrahim Raisi in Ankara am 24. Januar 2024 wurden Themen wie die Festlegung einer gemeinsamen Politik in Syrien, die Stationierung der irakischen Armee in den Medya-Verteidigungsgebieten unter dem Deckmantel der »Sicherheit der irakischen Grenze« und die Realisierung des Projekts »Entwicklungsroute« zwischen der Türkei und dem Irak besprochen und miteinander abgestimmt.
Die vom Irak und der Türkei gemeinsam geplante »Entwicklungsroute« ist im Wesentlichen – wie auch der neue Wirtschaftskorridor (IMEC), der auf dem G20-Gipfel in Neu-Delhi am 9. und 10. September 2023 vereinbart wurde – ein amerikanisch-europäisches Projekt, allerdings in kleinerem Maßstab. Das IMEC-Projekt, das einer Route Indien-Vereinigte Arabische Emirate-Saudi-Arabien-Jordanien-Israel-Zypern-Europa folgen soll, ist ein wichtiges Projekt des Westens, denn es ist seine Antwort auf Chinas Projekt der »Neuen Seidenstraße« und sichert ihm eine Einflusssphäre. Das wichtigste strategische Ziel dieses neuen Wirtschaftskorridors ist, neben den wirtschaftlichen Interessen, die Entwicklung des China-Russland-Iran-Blocks zu verhindern und dessen Einflusssphäre zu begrenzen. Die Route des IMEC-Projekts lässt Pakistan, Iran, die Türkei und den Irak außen vor. Darum hat sich der türkische Staat entschieden gegen diese neue Alternativroute zwischen Indien und Europa ausgesprochen, und Tayyip Erdoğan hat das Projekt für inakzeptabel erklärt. Auch der Angriff der Hamas auf Israel soll von der Türkei geplant worden sein, um dieses Projekt zu verhindern, darauf gibt es zahlreiche Hinweise.
Es steht nicht im Widerspruch zur bisherigen Politik der USA (und Großbritanniens), dass sie als eigentliche treibende Kraft des IMEC-Projekts eine »Entwicklungsroute« zwischen der Türkei und dem Irak entwickeln. Während die USA die Annäherung ihrer wichtigen regionalen Partner Irak und Türkei fördern, kalkulieren sie, dass der iranische Einfluss in dem Maße zurückgedrängt wird, wie sich die türkisch-irakischen Beziehungen entwickeln. Die Besetzung irakischen Territoriums durch die Türkei und die Errichtung von 87 Militärbasen, die rücksichtslose Nutzung des irakischen Bodens und Luftraums, die täglichen Massaker an der Zivilbevölkerung durch die Bombardierung der Dörfer in Südkurdistan, Şengal und Mexmûr sowie der Guerillagebiete geschehen, wie schon gesagt, nicht aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln, sondern mit Billigung und Unterstützung der USA, der EU und der UNO. Der Hauptgrund, warum die Türkei und die AKP/MHP-Regierung ohne weiteres so skrupellos sein können, liegt darin, dass die Toleranz des Westens gegenüber dem NATO-Mitglied Türkei in direktem Zusammenhang mit dem Projekt der »Entwicklungsroute« steht. Die USA und die NATO ziehen deutlich den türkischen Einfluss im Irak und in Syrien der Verbreitung von Öcalans Idee des demokratischen Konföderalismus und dem Einfluss der PKK im Mittleren Osten vor.
Sowohl die USA als auch der Iran sind Partner des türkischen Staates in Syrien und im Irak. Beide verfolgen die Strategie, die Türkei auf ihrer Seite zu halten und im Gegenzug die Angriffe auf das kurdische Volk und seine politischen Vertreter:innen zu dulden. Dieser scheinbare Widerspruch ist charakteristisch für den Dritten Weltkrieg. Die gegnerischen Kräfte bekämpfen sich nicht an der Front, sondern gehen zeitweilige Bündnisse ein, wenn es ihren Interessen dient. All diese Bedingungen erlauben es der Türkei jedoch nicht, in Syrien und im Irak zu tun, was sie will. Im Gegenteil, im Mittleren Osten und im arabischen Raum gab und gibt es eine große Unzufriedenheit mit dem Osmanischen Reich und seiner Nachfolgerin, der Türkischen Republik. Die Idee der strategischen Rivalität ist sehr lebendig. Es ist für die Türkei nicht möglich, eine ähnliche De-facto-Situation wie auf Zypern zu schaffen, indem sie ihre Besetzung Syriens und des Irak als vollendete Tatsache betrachtet und im Laufe der Zeit ausweitet. Das liegt daran, dass die Überzeugungen, Traditionen und die politische Ausrichtung der nahöstlichen Gesellschaft von einer Soziologie genährt werden, die Viktimisierung, Ungerechtigkeit und Tyrannei nicht akzeptiert wie die zypriotische Gesellschaft, sondern Wut und Rachegefühle am Leben erhält. So wie diese historische Tradition und soziologische Wahrheit ein entscheidender Faktor für den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches war, so ist sie auch nicht gleichgültig gegenüber der neo-osmanischen Politik der Erdoğan-Diktatur.
Kollaboration der PDK und des Barzanî-Clans
Die PDK und die Familie Barzanî spielen eine aktive Rolle als lokaler Faktor bei der Ausweitung des türkischen Einflusses im Mittleren Osten und der türkischen Besatzung im Irak und in Syrien. Die türkischen Behörden erklären inzwischen offen, dass sie in allen Angelegenheiten mit der PDK und der Barzanî-Familie zusammenarbeiten. Diese offene Kooperation stößt jedoch in der südkurdischen Gesellschaft und bei den politischen Parteien auf große Ablehnung. Die schwere Niederlage der PDK bei den letzten irakischen Wahlen ist ein Ausdruck der gesellschaftlichen Reaktion. Die Entscheidung des irakischen Bundesgerichts vom 20. Februar, die Quote von 11 Abgeordneten, die zuvor ein Monopol der Barzanîs war, als verfassungswidrig aufzuheben und der darauffolgende Boykott der Regionalwahlen durch die PDK haben die politische und wirtschaftliche Krise der Partei weiter vertieft. Die Herrschaft der PDK, die seit ihrer Gründung das Parlament und die Autonomieregierung Südkurdistans nach Belieben missbraucht, wird von der Gesellschaft, der YNK3 und der Verwaltung in Bagdad nicht akzeptiert. Die PDK ist sich bewusst, dass sie bei einer Wahl, die unter freien und fairen Bedingungen stattfände, in die Minderheit geraten würde und vermeidet daher die Teilnahme an den Wahlen.
Derzeit tagt das Parlament von Südkurdistan nicht, seine Aktivitäten wurden ausgesetzt. Daher gibt es auch keine Regierung, die vom Parlament kontrolliert werden könnte. In Südkurdistan unterliegen das Präsidentenamt, das Premierministerium, die Leitung des Geheimdienstes und das Militär nicht der klassischen Funktionsweise eines Staates, sondern wurden in Privatbesitz umgewandelt, den die Familie Barzanî unter sich aufteilt. Der Barzanî-Clan, der auf solch ein Niveau heruntergekommen ist und in den Augen der Gesellschaft an Ansehen verloren hat, stellt Familieninteressen, Privateigentum, Geld und Handel über alle heiligen Dinge und versucht, seine Macht auf Kosten der kurdischen Kultur und Kurdistans aufrechtzuerhalten.
Die tiefe politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Krise der PDK vollzieht sich trotz der gemeinsamen Unterstützung durch die USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und die Türkische Republik. Die Schwächung und der Niedergang der PDK bedeutet eindeutig auch eine Schwächung der Türkischen Republik und der Erdoğan-Diktatur. Die Kollaboration der PDK, die die Weltmächte und Regionalstaaten zum Vertreter und Ansprechpartner des kurdischen Volkes machen wollten, ist gescheitert. Dieser Situation ist sich der türkische Staat bewusst. Deshalb versucht er, die Regierungen in Bagdad und Silêmanî4 so weit wie möglich zur Zusammenarbeit zu bewegen, um die Isolation der PDK und der Barzanîs zu durchbrechen. Tayyip Erdoğan und Hakan Fidan drohen der YNK-Führung ganz direkt. Die Türkei blockiert Flüge zum Flughafen Silêmanî und setzt ihre Politik fort, die YNK mithilfe von Morden durch MİT-Agenten in Silêmanî auf PDK-Linie zu bringen.
Gegenüber der Regierung in Bagdad verfolgt der türkische Staat eine sanftere Überzeugungspolitik. Themen wie die »Entwicklungsroute«, die Energie- und Ölpartnerschaft, die gemeinsame Nutzung der Wasserressourcen auf türkischem Territorium durch beide Länder werden genutzt, um die Liquidierung der PKK und die türkische Besetzung irakischen Territoriums zu legitimieren.
Wachsender Widerstand
Während der türkische Staat diese Initiativen fortsetzt, führt die PKK-Guerilla seit November revolutionäre Operationen in den Medya-Verteidigungsgebieten durch und fügt der türkischen Armee schwere Verluste zu. Diese Nachrichten, die die türkische Armee und die türkischen Medien zu verschleiern versuchen, erreichen die Öffentlichkeit durch Videos und Fotos, die von Gerîla TV und den kurdischen Medien veröffentlicht werden. In der Erklärung von Murat Karayılan vor den Newroz-Feierlichkeiten hieß es, die Guerilla verfüge nun über ein System zur Neutralisierung von UCAVs5 (bewaffnete unbemannte Luftfahrzeuge) und anderen Drohnen, mit dessen Hilfe seit dem 13. Februar fünfzehn Kampfdrohnen abgeschossen worden seien. Mit der Nachricht wurden auch Bilder der abgeschossenen UCAVs veröffentlicht. Das Ausbleiben einer Reaktion seitens der türkischen Regierung, des türkischen Militärs und der türkischen Medien hängt mit den Auswirkungen dieser neuen Entwicklung zusammen. Im Rahmen der Kampagne für die Freiheit Abdullah Öcalans fanden die Demonstrationen am 15. Februar in den vier Teilen Kurdistans und in Europa, die von Frauen angeführten Demonstrationen am 8. März und die Newroz-Feiern mit größerer Beteiligung als in den Vorjahren statt.
Das kurdische Volk hat mit diesen demokratischen Protesten eine kollektive und offene Willenserklärung abgegeben; es hat sich erneut zu Öcalan, der PKK und der Guerilla bekannt. Angesichts dieser Willensbekundung sollten vor allem die UNO, die USA, Großbritannien und die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Respekt zeigen; sie sollten die Sprache, die Kultur, den Willen zur Selbstverwaltung und das Recht auf ein freies Leben des kurdischen Volkes nicht ihren wirtschaftlichen und politischen Interessen opfern.
Fußnoten
1 PDK - Partiya Demokrata Kurdistanê, Demokratische Partei Kurdistans, auf Deutsch häufig KDP abgekürzt
2 Region in Südkurdistan / Nordirak
3 YNK – Yekîtiya Nîştimanî ya Kurdistanê, Patriotische Union Kurdistans, auf Deutsch häufig PUK abgekürzt
4 Silêmanî (arab. Sulaimaniya) gilt als »Hauptstadt« der von der YNK verwalteten Gebiete in Südkurdistan.
5 »Unmanned Combat Aerial Vehicle«, umgangssprachlich Kampfdrohne
Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024