Die Landwirtschaft in Nord- und Ostsyrien seit der Revolution

»Es ist besser, wenn du mir Fischen beibringst, als wenn du mir einen Fisch bringst«

Ein Interview mit Leyla Saroxan, Mohamed Dehir (Ko-Vorsitzende), Ahmed Yunus (stellvertretender Ko-Vorsitzender)

 

In der DAANES (Demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien) steht die Landwirtschaft seit der Revolution vor großen Herausforderungen. Im Gespräch mit Vertreter:innen der Behörde für Landwirtschaft und Bewässerung in Nord-und Ostsyrien werden die Schwierigkeiten und die Lösungsmöglichkeiten diskutiert, denen sich die Landwirtschaft nach dem Ende des Baath-Regimes gegenübersieht.


KR: Wie war die Lage der Landwirtschaft unter dem Baath-Regime vor der Revolution, besonders in der mehrheitlich von Kurd:innen bewohnten Region Rojava? Und wie hat sich die Landwirtschaft im Zuge der letzten 10 Jahre in Nord- und Ostsyrien entwickelt?

Leyla: Die Politik des syrischen Regimes vor der Revolution kann man sich so vorstellen: In Syrien wurde im Grunde genommen den Regionen bzw. Städten die Produktion zugeteilt. Sie waren für die Erzeugung von bestimmten Agrarprodukten zuständig. Beispielsweise wurden Obstbäume in Zentralsyrien und in der Küstenregion angebaut. Fabriken befanden sich eher in großen Städten wie Aleppo. Besonders im Norden wurde sehr stark auf Landwirtschaft gesetzt. Dabei ging es jedoch nur um den Anbau der Produkte. Die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten war groß. Fabriken zur Weiterverarbeitung gab es hier allerdings nicht. Dafür wurden die Rohstoffe in andere Regionen Syriens transportiert. Das hatte natürlich auch einen großen Einfluss auf die ökonomische Situation der Gesellschaft, auch auf die Möglichkeiten ihrer Entwicklung. Die meisten Bäuer:innen sollten damals nicht sehr viel mehr als nur ihr Land im Kopf haben und sich nur darüber Gedanken machen. Vom syrischen Regime erhielten die Bäuer:innen pauschal Saatgut für ihre Felder nach der Devise ›Hauptsache es wird etwas gepflanzt‹.

Heute sehen wir uns genau mit diesem Problem konfrontiert. Diese Mentalität der Bäuer:innen, einfach das vorgegebene Saatgut auszusäen und abzuwarten, herrscht immer noch vor. Viele handeln nach dem Motto ›das wird schon‹. Diese Mentalität ist schwierig zu verändern.

Das ist natürlich unter den heutigen Umständen ein großes Problem. Damals wurde sich wenig darum gekümmert, auf Diversität bei der Bepflanzung zu achten, also beispielsweise ein Jahr Weizen anzupflanzen und dann im nächsten Jahr eine andere Fruchtfolge umzusetzen. Diese Art der Landwirtschaft war in jeder Hinsicht wenig nachhaltig. Die Folge daraus ist, dass die Erde nun ausgelaugt ist. Man kann sagen, dass diese Herangehensweise des Regimes dazu geführt hat, dass sich in der Landwirtschaft eine gewisse Trägheit entwickelt hat. Ich möchte euch noch ein Beispiel geben. 2019 fiel die Ernte in Nord- und Ostsyrien unglaublich reich aus. Doch viel davon ist leider verbrannt. Warum? Weil viele der Bäuer:innen nicht auf ihren Feldern waren. Sie sind mit dieser Kultur aufgewachsen, die Samen nur auszusäen und dann auf den Regen zu warten, der die Saat aufgehen lässt.

Wenn wir uns jedoch unser Paradigma anschauen, sprechen wir davon, dass der Mensch mit seiner Arbeit und seinem Fleiß verbunden ist. Die Philosophie unter dem Baath-Regime war jedoch genau das Gegenteil. Man verdiente ein bisschen und das war dann ausreichend. Mit dieser alten Mentalität haben wir heute immer noch stark zu kämpfen. Das heißt, dass viele Bäuer:innen weder mit einem Plan arbeiten, noch sich Gedanken um die Diversität machen wollen. Das hat sowohl für die Erde negative Folgen als auch für die Ernte – und damit verbunden für unsere gesamte Ökonomie. Diese ›alte‹ Philosophie ist zuallererst ein Mentalitätsproblem, das verhindert, dass sich unsere Wirtschaft weiterentwickelt. Deswegen gibt es auch immer wieder Bäuer:innen, die sagen, in Zeiten des Regimes war es viel besser. Warum? Weil sie damals vom Regime alles Benötigte – unabhängig vom Resultat – pauschal bekamen. Heute sind die Umstände natürlich in vielerlei Hinsicht vollkommen anders. Einerseits versuchen wir eine Mentalität zu stärken, die mehr mit Arbeit und Eifer verbunden ist. Andererseits sind wir mit der Schwierigkeit konfrontiert, nicht einfach sämtliche Maschinen und andere notwendige landwirtschaftliche Güter problemlos beschaffen zu können. Diese Probleme gab es unter dem Baath-Regime nicht. Unser Problem ist das Embargo, das uns einschränkt.

Gleichzeitig hat natürlich auch die Reduzierung des Wasserdurchlaufs des Euphrats einen großen Einfluss auf die Landwirtschaft hier. Ein weiterer Aspekt, der sowohl uns als Selbstverwaltung, als auch den Bäuer:innen schwer zu schaffen macht, ist der Wertverlust der syrischen Währung gegenüber dem Dollar1. Während innerhalb Syriens mit der syrischen Währung gezahlt wird, brauchen wir für alles, was von außen kommt, den Dollar. Das ist natürlich eine schwere Last auf den Schultern der Bäuer:innen. Dazu kommt, dass wir viele Samen beziehungsweise Saatgut, welches vielleicht ertragreicher wäre, aus Kostengründen nicht einkaufen können. Hohe Anschaffungskosten führen zu unbezahlbaren Preisen für die Produkte.

Ahmed: Bezogen auf die Landwirtschaft hat das syrische Regime sehr klare Vorgaben gemacht. In der Region Cizîrê z.B. gab es vor allem Anbau von Weizen und Baumwolle, neben Mais und anderem Gemüse. Diese Produkte wurden dann aus der Cizîrê-Region zur Weiterverarbeitung in die Gebiete Westsyriens gebracht.

Es war den Bäuer:innen nicht erlaubt, z.B. Bäume zu pflanzen oder andere Pflanzen, die nicht den Vorgaben entsprachen. Man kann sagen, dass die Region Cizîrê wie eine Kuh gemolken wurde, doch von der Milch haben die Menschen nichts gesehen. So nach dem Motto: »Macht eure Arbeit und das war‘s«.

In den ersten Jahren der Revolution von 2011 – 2015 durchlitten wir große Schwierigkeiten. In dieser Zeit war die Anzahl der Expert:innen in unserem Fachgebiet sehr gering. Anfangs gab es auch bei einigen Menschen wenig Vertrauen und Zuversicht in unsere Arbeit. Daher waren die ersten vier Jahre eine große Herausforderung. Es fehlte uns einfach in vielerlei Hinsicht an Erfahrung. Natürlich hat sich auch der Krieg sehr negativ ausgewirkt. Aber über die Jahre haben wir Erfahrungen gesammelt und gleichzeitig wuchs auch das Vertrauen in die Revolution und die Selbstverwaltung.

Ein weiterer wichtiger Aspekt sind natürlich die Technologien, die Samen und Maschinen, die zuvor in der Hand des Baath-Regimes waren. Glücklicherweise gab es einige Menschen, die unter dem Regime in diesem Bereich gearbeitet hatten und die nun ihr Wissen zum Nutzen der gesamten Gesellschaft in der Selbstverwaltung einbringen konnten. Besonders bezogen auf die Anzahl derer, die für spezielle Aufgaben gebraucht wurden, gab es immer wieder große Schwierigkeiten. Oftmals waren wir froh, wenn wir für einen Bereich, in dem normalerweise 10 Leute gebraucht werden, zwei oder drei Mitarbeiter:innen gewinnen und ausbilden konnten. In den Jahren 2015-2019 hat sich die Lage aber dann verändert, das Vertrauen in die Selbstverwaltung wuchs stetig. Das war auch die Zeit, in der weitere Institutionen im Bereich der Landwirtschaft aufgebaut wurden, z.B. die Forschungseinrichtung oder die Saatgutstelle. Da diese jedoch in ihren Möglichkeiten sehr eingeschränkt waren, mussten sie neue Wege und Methoden suchen. Sie konnten in der Forschung keine neuen, für das Klima in Nord- und Ostsyrien geeigneten Saatgutarten für die Landwirtschaft züchten. Daher waren sie gezwungen, mit den noch vom Regime benutzten Saatgut zu arbeiten. Das ist auch der Grund, warum diese ›alten‹ Arten zwar erhalten geblieben sind, aber nicht mehr zu einer ausreichenden Ernte führen. Daraus folgt eine stetige Verschlechterung der landwirtschaftlichen Produktion.

Im Bereich der Bewässerung gab es über die Jahre viele Fortschritte. Das reicht von Bestandsaufnahmen der allgemeinen Lage bis zu den Orten der einzelnen Brunnen und deren ­Tiefe. Man kann sagen, dass besonders in den Jahren 2014-2019 ­große Fortschritte gemacht wurden, wohingegen sich ab 2019 die allgemeine Sicherheitslage mit den vielen Angriffen sehr negativ auf die Entwicklung der Landwirtschaft ausgewirkt hat. Besonders die vielen Angriffe der Türkei in der Grenzregion waren und sind ein großes Problem.

Leyla: Zu Beginn unserer Arbeit war die Ausgangslage wie folgt: Wir sahen sowohl eine vom Regime vernachlässigte Region, aber auch durch den Krieg und den IS verursachte Zerstörung. Damit wurde eine zuvor schon schwache Region noch mehr geschwächt. Es war also alles andere als einfach. Nun sind bereits 12 Jahre seit dem Beginn der Revolution vergangen. Mit jedem Jahr werden die Samen schwächer und schwächer, was zu geringeren Ernten führt. Natürlich haben wir so gut es ging versucht, im Rahmen der Möglichkeiten, die wir in Nord- und Ostsyrien vorfanden, unsere Arbeit zu machen. Verglichen mit der Situation der Landwirtschaft in Deutschland, England, Ägypten oder Jordanien, ist unsere Situation sehr viel schlechter. Die »alten« Samen liefern nicht die gewünschten Erträge. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu begreifen, dass die Bäuer:innen ihren Gewinn nicht mit höheren Preisen für Getreide oder landwirtschaftliche Erzeugnisse erzielen, sondern mit guten Ernten. Gute Ernten bringen also auch mit niedrigen Verkaufspreisen einen Gewinn.

KR: Was sind die aktuellen Probleme, mit denen die Landwirtschaft in Nord- und Ostsyrien konfrontiert ist?

Mohamed: Vor der Revolution schenkte das Regime dem Ostens Syriens, besonders den Städten Hesekê, Raqqa und Deir ez-Zor entwicklungstechnisch betrachtet wenig Aufmerk­samkeit. Das Thema ›Verbotspolitik‹ (nur bestimmte Pflanzen durften angepflanzt werden), wurde ja schon angesprochen. Auch für den Rohstoff Öl galt dies. Ein Großteil des Öls ­Syriens kommt aus dem Osten, also dem Großraum ­Hesekê und Deir ez-Zor. Aber wo findet die Verarbeitung statt? Nicht dort, sondern z.B. in Homs. Eigentlich würde es viel mehr Sinn ergeben, die Weiterverarbeitung direkt an Ort und Stelle vorzunehmen, anstatt das Öl durch das ganze Land zu transportieren um es dann zu Diesel oder Benzin weiterzuverarbeiten. Auch hier haben wir also ein Problem. Wir haben zwar Öl, aber keine Raffinerien. Wegen des Embargos können wir die Technik und die notwendigen Bauteile für eine Raffinerie nicht einführen. Warum hat dieses Problem Auswirkungen auf die Landwirtschaft? In der Landwirtschaft brauchen wir Treibstoff, also Diesel, für die Maschinen.

Zusätzlich erschwert die inzwischen in großen Teilen abgenutzte Technik der landwirtschaftlichen Maschinen die Arbeit der Bäuer:innen. Das trifft z.B. die wichtigen Bewässerungssysteme. Da uns kein Staat der Welt Hilfe zukommen lässt, fühlt es sich manchmal so an, als würden wir in einer anderen Welt leben. Ich denke, dass das für viele Menschen vielleicht nicht leicht zu verstehen ist, aber uns kostete es große Anstrengungen und Mühen, allein kleinste Teile oder Technologien nach Nord- und Ostsyrien zu bringen. Vor der Revolution wurde diese Region hier massiv vernachlässigt und jetzt haben wir große Schwierigkeiten, diese entstandenen Mängel und Vernachlässigungen zu überwinden.

Dazu kommt natürlich noch die mangelhafte Wasserversorgung, denn sowohl das Wasser des Euphrats als auch des Xabûrs wird von der Türkei massiv durch Staudämme aufgestaut. Bei uns kommt die benötigte Wassermenge nicht mehr an.

Leyla: Mit der aktuellen Situation hat die Selbstverwaltung eine große Last zu schultern. Die Samen bringen wenig Ertrag und gleichzeitig sind die Bäuer:innen gezwungen, diesen dann auch noch zu hohen Preisen zu verkaufen. Im letzten Jahr z.B. waren wir gezwungen, den Weizen wesentlich teurer zu machen. Gleiches galt auch für Baumwolle. Selbst wenn wir einen Teil der Ernte exportieren wollten, würden die hohen Preise es unmöglich machen Abnehmer zu finden. Wir wissen, dass die Bäuer:innen in den vergangenen Jahren viele Schwierigkeiten durchleben mussten durch höhere Dieselpreise und geringere Ernteerträge. Damit die Bäuer:innen ihre Arbeit fortsetzen können, hat ihnen die Selbstverwaltung unter die Arme gegriffen, aber auf Dauer ist das nicht möglich.

Für die Zukunft muss eine nachhaltige Lösung gefunden werden. In dieser Hinsicht sehen wir auch unsere Freund:innen und Unterstützer:innen, die weltweit mit uns arbeiten, in der Pflicht, Themen wie ›angepasstes Saatgut‹ oder ›Wasser für Nord- und Ostsyrien‹ stärker auf die Agenda zu bringen. Eigentlich müsste es die Menschen in der Welt schmerzlich berühren, dass eine Region wie der ›Fruchtbare Halbmond‹ - Mesopotamien, einstmals Wiege der Landwirtschaft, heute auf diese Weise leidet und die Landwirtschaft genau hier kaum noch Ertrag bringt. Eigentlich dürfte das von der Weltgemeinschaft nicht akzeptiert werden. Organisationen, die zum Thema Saatgut arbeiten, wie die Organisation ICARDA2, die sich international engagiert, arbeitet jedoch nur mit offiziell anerkannten Staaten zusammen. Eben deshalb können wir von ihnen keine Samen bekommen, die für unsere Erde geeignet sind und sehr viel reichhaltigere Erträge liefern würden. Hierbei sehen wir, wie wichtig die offizielle Anerkennung der Selbstverwaltung auf internationaler Ebene wäre. Wenn wir beispielsweise Dünger nach Rojava bringen, müssen wir dies auf Umwegen tun, weil keine offizielle Stelle mit uns zusammenarbeitet. Auch Labore haben wir hier nicht, um Dünger oder andere Waren, die in unsere Gebiete kommen, zu kontrollieren. Das heißt natürlich auch, dass man nicht sicher wissen kann, was diese Mittel für einen langfristigen Einfluss auf die Böden und die Gesundheit der Menschen haben werden.

Wenn Internationalist:innen oder verschiedenste Organisationen zu uns nach Nord- und Ostsyrien kommen, versuchen wir immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Landwirtschaft aus dieser Embargopolitik gegen die Selbstverwaltung herausgehalten werden muss. Denn sobald in einer Region der Welt die Landwirtschaft schwächelt oder zusammenbricht, hat dies einen unmittelbaren, katastrophalen Einfluss auf die dortige Gesellschaft – und auf lange Sicht gesehen auch einen negativen Einfluss auf die ganze Welt.

Ahmed: Wenn man möchte, dass die Bäuer:innen weiterhin in ihren Dörfern, auf ihren Ländereien leben und dort ohne immense Schwierigkeiten ein Leben führen können, müssen Dinge wie z.B. regional angepasstes Saatgut gesichert sein. Diesbezüglich sind uns die verschiedenen NGOs und Organisationen, die Samenbanken haben und zu diesem Thema auf internationaler Ebene arbeiten, überhaupt keine Hilfe. Mit jedem Jahr, das vergeht, wird unsere Ernte geringer.

Ein zweiter Punkt ist die Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen. Dabei wollen wir nicht nur auf Brunnen setzen. Eigentlich haben wir ja mehrere Staudämme hier, die an die Wasserkanäle angeschlossen sind. Der Krieg mit dem IS und die Angriffe der Türkei haben zu großen Schäden an diesen Kanälen geführt, die das Wasser auch zu weit entfernten Ackerflächen bringen. Wir als Selbstverwaltung haben bereits an vielen Orten Kanäle repariert, doch ehrlicherweise muss man sagen, dass unsere finanziellen Möglichkeiten nicht ausreichen und diese Reparaturen unser Budget übersteigen. Diese Themen sind existentiell wichtig für den Verbleib der Bäuer:innen auf ihren Feldern und zur Verhinderung von Abwanderung.

Schauen wir uns den Aspekt der Staudämme an. Das Wasser, das nach Nord- und Ostsyrien kommt, wird von der Türkei gestaut. Die Türkei lässt ganz bewusst nur wenig Wasser durch. Wenn du kein Wasser hast, dann kannst du die besten Samen der Welt haben, es wird dir nichts bringen. Ohne Wasser blüht nichts. Das weiß die Türkei ganz genau. Ein weiterer Punkt, auf den ich zu sprechen kommen möchte, ist die Situation der Bäuer:innen in Grenznähe. Dort schleichen sich die Menschen im Verborgenen auf ihre Felder, säen die Samen und verschwinden dann wieder von den Feldern. Trotz dieser Vorsicht gab und gibt es immer wieder Angriffe aus der Türkei. Einige Bäuer:innen wurden bei der Arbeit verletzt oder sogar ermordet.

Leyla: Die Bäuer:innen in der Grenzregion haben Angst auf ihre Felder zu gehen.

Ahmed: Nur um euch das nochmal klarzumachen: Selbst wenn wir es in den nächsten Jahren schaffen sollten, noch mehr dieser Kanäle zu reparieren und besseres Saatgut zu bekommen bleibt die Gefahr für die Landwirt:innen. Ein nicht geringer Teil der gesamten landwirtschaftlichen Anbaufläche Nord- und Ostsyriens liegt in unmittelbarer Nähe zur Grenze. Das ist im Grunde genommen alles eine Fläche, die man kaum noch mit einrechnen kann. Dieses Problem muss unbedingt gelöst werden. Wir sprechen hier einzig und allein von der Landwirtschaft, von den Ängsten und Problemen der Bäuer:innen. Und das ist natürlich auch ein Grund, warum viele Jugendliche die Dörfer verlassen.

KR: Wie sehen die Lösungsansätze der Selbstverwaltung für diese Probleme aus?

Leyla: Als Teil der Behörde für Landwirtschaft und Bewässerung von Nord- und Ostsyrien schauen wir dem natürlich nicht tatenlos zu, sondern versuchen, Lösungen für diese Probleme zu entwickeln. Wir haben eine Abteilung für Landwirtschaftsforschung, die ihren Möglichkeiten entsprechend versucht, Samen zu züchten. Um neue Samen zu züchten, benötigt man aber etwa 10 bis 12 Jahre. Dieses Forschungszentrum macht seine Arbeit so gut es geht, trotzdem wäre die Unterstützung durch internationale Expert:innen auf diesem Feld von großem Vorteil. Auch die Möglichkeit in anderen Ländern die Situation der Landwirtschaft durch Besuche kennen zu lernen wäre eine wichtige Erfahrung für die Mitarbeiter:innen der Abteilung. Das gleiche gilt für den internationalen Austausch an Wissen und Erfahrungen. Wenn man z.B. Delegationsreisen von hier aus organisieren könnte, die ihre Eindrücke und Erfahrungen aus anderen Teilen der Welt zurücktragen könnten, wäre das ein guter Schritt. Und eine bessere technische Ausstattung der Forschungsabteilung ist wichtig.   

Wir haben auch ein Zentrum, das die existierenden Samen vervielfältigt. Auch dieses Zentrum müsste eigentlich mit anderen Ländern und Organisationen, die zu diesem Thema arbeiten, im Austausch stehen. Ob die Selbstverwaltung jetzt anerkannt wird oder nicht, Nord- und Ostsyrien ist eine große Region, die besonders für die Landwirtschaft prädestiniert ist. Daher sollte es eigentlich eine weltweite Unterstützung für eine ertragreiche Landwirtschaft hier vor Ort geben.

Wir arbeiten daran, ein Zentrum für Außenbeziehungen im Bereich Landwirtschaft aufzubauen. Außerdem spielt natürlich der Aufbau von Kooperativen, ob autonome Frauenkooperativen oder gemischte Landwirtschaftskooperativen, eine wichtige Rolle. Manche von ihnen sind sehr erfolgreich, bei anderen gab es zum Teil große Schwierigkeiten. Anfangs stößt man vor allem auf ein falsches Verständnis davon, was eigentlich eine Kooperative und ihre Rolle ist. Besonders in den ersten Jahren hatten wir viel mit Unverständnis zu kämpfen. Doch in den letzten Jahren ist das besser geworden. Vielleicht sind wir noch nicht an dem Punkt, dass sich die gesamte Wirtschaft nur über Kooperativen organisiert, aber es wurden wichtige Schritte unternommen.

Wenn wir als Selbstverwaltung vom Aufbau von Kooperativen bzw. von bestehenden Kooperativen sprechen, steht für uns die Solidarität untereinander an vorderster Stelle. Solidarität untereinander, Verbundenheit mit der eigenen Arbeit und Einsatz für die eigene Arbeit wollen wir als Kultur etablieren. Natürlich haben es fünf Bäuer:innen, die zusammenarbeiten, viel leichter als fünf Bäuer:innen, die alle für sich allein arbeiten.

KR: Wie können Menschen außerhalb Syriens die Selbstverwaltung im Bereich Landwirtschaft am besten unterstützen?

Mohamed: Zuerst muss noch einmal betont werden, das wir durch das Embargo komplett von der Außenwelt abgeschnitten sind. Es wäre zum Beispiel sehr wichtig und ein guter Schritt, wenn wir unsere Mitarbeiter:innen für Fortbildungen oder längere Lehrgänge ins Ausland schicken könnten, um in den verschiedensten Bereichen mehr Erfahrung zu sammeln. Gleichzeitig freuen wir uns natürlich darüber, wenn es Menschen oder Organisationen gibt, die uns auf organisierte Weise unterstützen wollen. Wie meine ich das? Oftmals wird Geld an NGOs gegeben, die dann irgendetwas Kleines machen, aber die grundlegenden Probleme oder größere Projekte nicht angehen. Ich verdeutliche das einmal mit einem Sprichwort: »Es ist besser, wenn du mir Fischen beibringst, als wenn du mir einen Fisch bringst«. Außerdem muss man auch ehrlich sagen, dass einiges von den Hilfeleistungen zwischen diesen ganzen NGOs verloren geht. Stell dir vor, es steht eine Million Dollar zur Verfügung. Wenn du das auf ganz viele kleine Projekte aufteilst, sieht man davon am Ende kaum noch etwas. Wenn du aber diese Million in ein großes, nachhaltiges Projekt für die Region investierst, dann kann das hier für einen Fortschritt sorgen.

Wir appellieren an alle Menschen, dass sie sich dafür einsetzen, dass beispielsweise das Wasser in der Türkei nicht mehr aufgestaut und endlich zu uns durchgelassen wird. Gleichzeitig hoffen wir auf Unterstützung bei der Anschaffung von strategischen Technologien, so dass wir z.B. selbst Treibstoff herstellen können. Und selbstverständlich können auch Expert:innen zu uns kommen, mit uns diskutieren oder Fortbildungen geben. Auch das ist eine Hilfe.

Aber einer der strategisch wichtigsten Aspekte ist die offizielle Anerkennung der Selbstverwaltung, sodass wir endlich im landwirtschaftlichen Bereich Kontakte und Austausch voranbringen können. Dadurch, dass alles nur auf Umwegen hierher gelangen kann erhöhen sich die Preise für uns um ein Vielfaches. Wenn wir aber direkte, offizielle Kontakte pflegen können, was natürlich auch das Embargo minimieren würde, könnten wir Dinge direkt importieren. Zur Verdeutlichung: Die meisten Weizensilos hier in Nord- und Ostsyrien sind vom Krieg gegen den IS zerstört. Selbst wenn manche von ihnen von außen noch heil erscheinen, also das Betonskelett intakt aussieht, sind sie im Inneren völlig zerstört und daher nutzlos. Das ist ein Beispiel dafür, was wir mit unseren Möglichkeiten hier nicht so leicht reparieren können. Selbst wenn wir im nächsten Jahr eine reiche Ernte einfahren sollten, wo bitte sollen wir sie dann lagern? Auch das sind Faktoren, die sich im Endeffekt hier auf unsere Gesellschaft auswirken.

Leyla: Ich kann dem nicht mehr viel hinzufügen. Wir freuen uns sehr, wenn uns Delegationen besuchen, um unser System der demokratischen Selbstverwaltung kennenzulernen. Unser System, das in seiner Zusammensetzung aus vielen verschiedenen ethnischen Gruppen, einzigartig ist. In dem die Frauen eine führende Rolle in der Revolution spielen. Wir hoffen sehr, dass aus allen Teilen der Welt Delegationen zu uns kommen, um die demokratische Selbstverwaltung mit eigenen Augen zu sehen. Nur davon zu hören, darüber zu lesen oder im Fernsehen etwas dazu anzuschauen reicht nicht aus. Erst wenn man herkommt, kann man gemeinsam die alten und vom IS beschädigten Wasserkanäle in Augenschein nehmen, sich die zerstörten Silos anschauen und so verstehen, von welchen Herausforderungen wir in diesem Interview sprechen. Wir hoffen, dass viele Menschen kommen und dieses Thema auf die globale Agenda bringen.

 Fußnoten

1 Dabei spielte besonders der Caeser Syria Civilian Protection Act, den Trump 2019 unterzeichnete und der im Sommer 2020 in Kraft trat, eine große ­Rolle. Er hatte einen massiven Wertverlust der syrischen Währung dem Dollar gegenüber zur Folge. [Anm. d. Redaktion]

2 International Center for Agricultural Research in the Dry Areas, 1977 in Syrien gegründet, später wegen des Krieges in Syrien in den ­Libanon umgezogen.


Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024