Editorial

 

Liebe Leser:innen,

das Jahr 2023 war kein einfaches Jahr für Menschen, die sich für eine gerechtere und freiere Welt einsetzen. Während ökonomische, ökologische und humanitäre Krisen unsere Agenda bestimmten, wurden gesellschaftliche Antworten aus progressiver Perspektive kaum sichtbar. Stattdessen schienen rechte und autoritäre Akteur:innen auf der ganzen Welt von den Krisen zu profitieren. Rechtsextreme Parteien sind nicht erst seit 2023 in unzähligen Ländern im Aufwind, sondern vielerorts bereits in der Regierung. Diese Entwicklung führte letztlich zu einer Verschärfung der vielfältigen globalen Krisen. Autoritäre Regime, die durch ihre rassistische und gesellschaftsfeindliche Politik häufig zur Verschärfung innerstaatlicher Probleme beitrugen, versuchten durch rhetorische oder auch konkrete politische Manöver die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf andere Themenfelder zu lenken. Durch die Konstruktion eines »bösen Anderen«, der als Sündenbock für die eigene Misere ausgemacht wurde, versuchten Machthaber:innen weltweit mittels rassistischer Diskurse von der eigenen Verantwortung abzulenken: Dieses »Andere« waren im vergangenen Jahr wahlweise Geflüchtete aus Kriegs- und Krisengebieten, verfeindete Nachbarstaaten, mit denen um Einfluss und Macht in der Region konkurriert wurde, oder eben fortschrittliche und demokratische Kräfte, die sich um wirkliche Lösungen für die brennenden gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit bemühen.

Kurdistan und der Mittlere Osten waren im vergangenen Jahr ein Kristallisationspunkt dieser Krisen. Hier traten nicht nur die globalen gesellschaftlichen Probleme offen zu Tage. Hier führten die Krisen zu offenen Konflikten und grausamen Kriegen. Die autoritären Regime der Region gingen im vergangenen Jahr besonders gewaltsam und ohne Rücksicht auf humanitäre Prinzipien gegen jede Form gesellschaftlicher Opposition vor. Periodisch wiederkehrende Eskalationen wie das Vorgehen der iranischen Staatsmacht gegen die Jîna-Revolution, die türkische Luftoffensive in Nord- und Ostsyrien oder der aktuelle Krieg in Gaza sind Ausdruck eines permanenten Ausnahmezustands in der Region, der uns im vergangenen Jahr begleitet hat.

Und auch wenn wir bisher ein eher düsteres Bild des vergangenen Jahres gezeichnet haben, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass es sie noch gibt – die gesellschaftliche Kraft, die sich für eine gerechte und freie Welt einsetzt. In Kurdistan und seinen Nachbarregionen ist diese Kraft weit mehr als eine vage Hoffnung. Auch wenn das Jahr 2023 weitgehend von Abwehrkämpfen geprägt war, verbreiten sich die Gedanken und Ideen dieser gesellschaftlichen Kraft mittlerweile weit über den Mittleren Osten hinaus in die ganze Welt. Ob in Rojhilat und im Iran, in Şengal oder Mexmûr, in den Metropolen Nordkurdistans oder in Nord- und Ostsyrien – auch im vergangenen Jahr ist es dieser Kraft gelungen, sich gegen ganze Staaten, deren »Sicherheitsapparate« und staatliche Verbündete zu behaupten.

Auch im neuen Jahr wird uns die Suche nach Lösungen für die brennenden Probleme unserer Zeit begleiten, während reaktionäre Regime und autoritäre Staaten durch ihr Handeln zur Verschärfung dieser Krisen beitragen werden. Doch wenn wir, gemeinsam mit den Bewegungen dieser Welt, die sich mit allem, was sie haben, für eine freie, gerechte und demokratische Welt einsetzen, nach Lösungen für die Krisen unserer Zeit suchen, können wir im neuen Jahr auch aus einem erfolgreichen Abwehrkampf in die Offensive gehen.

Eure Redaktion


 Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024