Kaum Chancen auf Asylanerkennung für kurdische Schutzsuchende
Flüchtlingszahlen aus der Türkei steigen – Schutzquote sinkt
ANF, 1. Okt. 2023
Das Erdoğan-Regime hat in den vergangenen Jahren seinen Repressionsapparat auf immer höheren Touren laufen lassen. Jede Kritik an der politischen Führung kann im Gefängnis enden, Folterfälle häufen sich in der eskalierenden Kriegspolitik des türkischen Staates. Insbesondere Kurd:innen sind von extremer Verfolgung bedroht. So kommt es nicht von ungefähr, dass nicht nur subjektiv die Zahlen der Schutzsuchenden aus der Türkei und Nordkurdistan steigen. Eine Kleine Anfrage der fluchtpolitischen Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Clara Anne Bünger, belegt diesen Trend.
Im ganzen Jahr 2022 gab es 25.054 Asylanträge von Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft. 20.400, also 81 Prozent dieser Anträge, stammten von Kurd:innen. Im ersten Halbjahr 2023 stieg die Zahl von Schutzsuchenden aus der Türkei und Nordkurdistan weiter an. Bis Mitte des Jahres waren 19.857 entsprechende Asylanträge gestellt. Der rassistische Verfolgungsdruck lässt sich auch an der nationalen Identität der Antragssteller:innen ablesen. 16.594, also 84 Prozent, waren kurdischer Herkunft. Konservativ geschätzt kann am Ende des Jahres mit 40.000 Asylsuchenden aus der Region gerechnet werden. Das entspräche einer Steigerung von 60 Prozent. Real dürfte diese Zahl weit höher liegen, da bis zur Mitte des Jahres unzählige Menschen auf einen Wandel durch die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gehofft hatten. Mit der Konsolidierung des AKP/MHP-Faschismus durch die Wiederwahl Erdoğans im Mai zeigt sich eine weitere große Fluchtbewegung aus der Diktatur.
2022 hat das BAMF über 11.073 Asylanträge von Asylsuchenden aus der Türkei und Nordkurdistan entschieden, im ersten Halbjahr 2023 lag diese Zahl bereits bei 10.308. Doch obwohl immer mehr Menschen vor der Verfolgung durch das Erdoğan-Regime fliehen, werden immer weniger von ihnen als Flüchtlinge anerkannt. Die bereinigte Schutzquote, also der Prozentsatz der Erteilung von Aufenthaltstiteln und Ablehnungen abzüglich negativer Entscheidungen aus formalen Gründen ist der deutlichste Indikator der Entscheidungspraxis des BAMF. Die bereinigte Schutzquote sank kontinuierlich von 39,9 Prozent im ersten Quartal 2022 auf 20,5 Prozent im zweiten Quartal 2023.
69,6 Prozent Anerkennungen bei Türk:innen, 7,2 Prozent bei Kurd:innen
Während der Verfolgungsdruck für Kurd:innen in der Türkei systematisch ist, wird diese Ansicht offensichtlich von den deutschen Behörden nicht geteilt. Im Gesamtjahr 2022 lag die bereinigte Schutzquote bei türkischen Asylsuchenden bei 80,8 Prozent, bei Kurd:innen hingegen bei 11,1 Prozent. Im ersten Halbjahr 2023 betrug die bereinigte Schutzquote bei türkischen Asylsuchenden 69,6 Prozent, bei kurdischen Asylsuchenden hingegen lediglich 7,2 Prozent. Das heißt, weniger als jede:r zehnte Kurd:in, der:die in Deutschland Asyl beantragte, erhielt einen Aufenthaltstitel.
Für viele der Schutzsuchenden aus der Türkei und Nordkurdistan ist eine Überprüfung der BAMF-Entscheidungen durch Verwaltungsgerichte die letzte Hoffnung. 2022 wurden 5.533 Klagen türkeistämmiger Asylsuchender gegen Bescheide des BAMF entschieden. In 875 Fällen bekamen Klagende einen Schutzstatus zugesprochen, den das BAMF ihnen zuvor verweigert hatte. In 2.447 Fällen wiesen die Gerichte Klagen nach inhaltlicher Prüfung ab. Daraus ergibt sich eine bereinigte Aufhebungsquote von 26,3 Prozent. Im ersten Halbjahr 2023 setzte sich dieser Trend mit einer Aufhebungsquote von 23,3 Prozent fort.
Parallel zu den steigenden Zahlen der Ablehnungen, steigen auch die Abschiebungen in die Türkei. 2022 wurden 515 Personen in die Türkei abgeschoben, im ersten Halbjahr 2023 waren es bereits 345. Überwiegend wurden diese Abschiebungen mit Linienflügen durchgeführt, teilweise aber auch mit Charterflügen. Aus der Antwort der Bundesregierung ergibt sich, dass zwölf der insgesamt 21 Charterflüge in den Jahren 2022 und 2023 vom Flughafen BER in Berlin ausgingen. Es handelte sich überwiegend um sogenannte Mini-Charterflüge für bis zu vier Personen. 2022 sind 101 Abschiebungen in die Türkei in letzter Minute gescheitert, im ersten Halbjahr 2023 geschah dies in 64 Fällen. Das lag zum Beispiel am passiven Widerstand der Betroffenen, an medizinischen Gründen, an der Weigerung der Piloten oder im letzten Moment eingelegten Rechtsmitteln.
Bundesregierung hält Abschiebeprofiteure geheim
Die Bundesregierung hält die Unternehmen, die an den Abschiebungen in die Türkei profitieren, geheim. So sollen »Staatswohlinteressen« und die »Interessen der betroffenen Fluglinien« geschützt werden. So könne sich die Beteiligung an Abschiebungen negativ auf die »öffentliche Wahrnehmung der Unternehmen« auswirken und diese der »öffentlichen Kritik« aussetzen. Damit bestünde die Gefahr, dass sie nicht weiter für Abschiebungen zur Verfügung stehen. Im Jahr 2021 wurden die meisten der Abschiebungen in die Türkei von German Airways durchgeführt, auch Lufthansa ist für ihren Profit an Abschiebungen berüchtigt.
»Es ist grotesk: Je mehr sich die politischen Verhältnisse in der Türkei zuspitzen, desto restriktiver entscheidet das BAMF über die Asylanträge von kurdischen Asylsuchenden. Menschenrechtsorganisationen sind sich einig, dass die türkischen Behörden insbesondere kurdische und linke Oppositionelle gnadenlos verfolgen, von Rechtsstaatlichkeit kann in dem Land längst keine Rede mehr sein. Die Bundesregierung muss schnellstens dafür sorgen, dass das BAMF seine Entscheidungspraxis ändert und Verfolgten aus der Türkei Schutz gewährt. Andernfalls muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, Handlangerin Erdoğans zu sein.«
Die Unterstützung der Bundesregierung für den AKP/MHP-Faschismus in der Türkei wird besonders deutlich, wenn sie zu kritischen Themen befragt wird. Unter Verweis auf eine ansonsten drohende »erhebliche Belastung der bilateralen Beziehungen zur türkischen Regierung« verweigert die Bundesregierung eine öffentliche Antwort auf die Fragen, ob es zutreffe, dass Rechtsanwält:innen, die politische Oppositionelle vertreten, selbst mit Repressionen durch den türkischen Staat rechnen müssten, sowie inwieweit in politischen Strafverfahren in der Türkei von einer unabhängigen Justiz bzw. rechtstaatlichen Verfahren auszugehen sei.
Bünger kommentiert es als »bezeichnend«, dass die Bundesregierung Fragen zur Rechtsstaatlichkeit in der Türkei nicht offen beantworten will: »Offenbar weiß sie ziemlich genau, wie schlecht es um die Menschenrechtslage in der Türkei bestellt ist. Gute Beziehungen zum NATO-Partner Erdoğan sind ihr aber wichtiger als das Schicksal der Menschen, die in der Türkei willkürlich kriminalisiert, inhaftiert und gefoltert werden, weil sie sich für Demokratie und das Recht auf Selbstbestimmung einsetzen.«
Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024