500 Jahre Aufstieg und Niedergang der kapitalistischen Moderne
Teil 1: Aufstand der Bäuer:innen
Eine Reihe der Initiative Demokratischer Konföderalismus | www.i-dk.org
Fenna Joken und Thomas Maier
Das Wissen über die Geschichte ist unsere Grundlage im Verständnis des heutigen historischen Zeitpunkts und lässt uns verstehen, wie eine radikal demokratische, geschlechterbefreite und ökologische Zukunft aufgebaut und verteidigt werden kann. Im Rahmen einer Artikelreihe im Kurdistan Report wollen wir aspektorientiert die letzten 500 Jahre der Angriffe auf die Gesellschaft darlegen und alte sowie neue Perspektiven auf das demokratische Potenzial in der deutschen Gesellschaft aufzeigen. Wir sind überzeugt, dass eine ganzheitliche historische Analyse Teil einer komplexen Veränderungsgrundlage sein wird, die uns in die Lage versetzt, die demokratische Moderne aufzubauen und damit der Zerstörung entgegenzuarbeiten, die die kapitalistische Moderne weltweit verursacht hat. Nach einer ersten Einführung in der letzten Ausgabe, widmen wir uns diesmal den Umständen des Aufstands von 1525 und dessen Niederschlagung.
Die dörflich-agrarische Gesellschaft
Wenn wir uns auf die Suche nach der demokratischen Zivilisation in Deutschland machen, ist unser Ausgangspunkt die Neolithische Revolution. Die Neolithische Revolution bedeutete hier in Europa wie schon in Mesopotamien nicht nur die Sesshaftwerdung der Sippen und Stämme und die Anfänge der landwirtschaftlichen Produktion. In dieser Epoche fand auch eine Gesellschaftswerdung statt, in der viele der Werte und Grundprinzipen, die die demokratische Zivilisation ausmachen, ihren Ursprung haben. Doch auch das Patriarchat entwickelte sich in dieser Zeit. Mit der Kolonisierung der Frau und der Natur wurden die Wurzeln der Klassengesellschaft gelegt. Die Wurzeln von Herrschaft, Macht und Unterdrückung. Doch die Werte der demokratischen Zivilisation bestanden und bestehen immer noch in dem demokratischen Fluss der gesellschaftlichen Geschichte. Der Geschichte von Unten. In diesem Fluss und der Tradition der neolithischen Revolution, der Sesshaftwerdung und der Landwirtschaft, steht die dörflich-agrarische Gesellschaft. Sie bildet eine der Grundeinheiten der Gesellschaft, denn sie bietet die Möglichkeit zur Selbstverwaltung, Selbstversorgung und Selbstverteidigung.
»Das Dorf ist kein rein physisches Phänomen, sondern auch eine der Hauptquellen der Kultur. Genauso wie die Familie bildet es eine der Grundeinheiten der Gesellschaft.
Der Angriff der Stadt, Industrie und Bourgeoisie als Klasse und Staat auf das Dorf ändert nichts an der Tatsache. Das Dorf ist als die geeignetste Einheit für die moralische und politische Gesellschaft von großer Wichtigkeit.«
Abdullah Öcalan
Das baldige 500-jährige Jubiläum der Bauernaufstände von 1525 haben wir als Anlass genommen, die Umbrüche, welche vor 500 Jahren stattfanden, zu erforschen, denn die Niederschlagung der Bauernaufstände fällt zeitgleich in den Beginn der kapitalistischen Moderne. Wir haben uns gefragt, inwiefern die Bauernaufstände mit anderen Entwicklungen jener Zeit zusammenhängen, vor allem der beginnenden Kolonisierung sowie der Hexenverfolgung. Wie haben diese Entwicklungen dazu beigetragen, dass sich die kapitalistische Moderne, aufbauend auf ihren drei Grundsäulen – dem Nationalstaat, dem Kapitalismus sowie dem Industrialismus – zum weltweit vorherrschenden System ausbreiten konnte?
Die Zeit vor dem Bauernaufstand von 1525
Im Mittelalter, also der Zeit vor dem 16. Jahrhundert, lebte der größte Teil der Gesellschaft auf dem Land. Die bäuerlichen Gemeinschaften mussten Abgaben, den sogenannten Zehnten, an die Herrschaft abgeben und waren dazu gezwungen Dienst an den Höfen der Kirche oder des Adels zu leisten. Doch in großen Teilen des Landes lebten die Menschen in ihren Dörfern kommunal und selbstverwaltet. Sie konnten über ihre eigenen Belange Recht sprechen und hatten außerdem das Recht ihr gemeinschaftliches Land, die Allmende, selbst zu verwalten. Die profitorientierte Geldwirtschaft hatte nur wenig Bedeutung für die Wirtschaftskreisläufe innerhalb der Dörfer. Auf den Versammlungsplätzen kamen die Menschen zusammen, um ihre alltäglichen Belange zu besprechen. Diese Markgenossenschaften, in denen sich die dörflich-agrarische Gesellschaft organisierte, waren nicht frei von Patriarchat und feudalen Herrschaftsstrukturen, aber in ihr existierten traditionelle Strukturen, die der Herrschaft der Feudalherren und der Anhäufung von Macht entgegenwirkten. Keine Ressourcen konnten von nur einer Person angehäuft werden, ohne den anderen Mitgliedern der Gemeinde Rechenschaft schuldig zu sein. Das Prinzip dieser Markgenossenschaften und Allmenden wird von Rosa Luxemburg als »Kommunismus an Grund und Boden« beschrieben:
»Man kann sich nichts Einfacheres und Harmonischeres zugleich vorstellen als dieses Wirtschaftssystem der alten germanischen Mark. Wie auf flacher Hand liegt hier der ganze Mechanismus des gesellschaftlichen Lebens. Ein strenger Plan, eine stramme Organisation umfassen hier das Tun und Lassen jedes einzelnen und fügen ihn dem Ganzen als ein Teilchen bei. Die unmittelbaren Bedürfnisse des täglichen Lebens und ihre gleichmäßige Befriedigung für alle, das ist der Ausgangspunkt und der Endpunkt der ganzen Organisation.
Alle arbeiten gemeinsam für alle und bestimmen gemeinsam über alles. Woraus fließt aber und worauf gründet sich diese Organisation und die Macht der Gesamtheit über den einzelnen?
Es ist nichts anderes als der Kommunismus an Grund und Boden, das heißt gemeinsamer Besitz des wichtigsten Produktionsmittels durch die Arbeitenden.«
Rosa Luxemburg
Diese Realität wurde über das ganze Mittelalter hinweg immer wieder angegriffen. Doch trotz der starken Angriffe von Adel und Kirche, konnte sich die Gesellschaft gegen diese Angriffe verteidigen und ihr altes Recht auf Selbstverwaltung und Selbstversorgung in Anspruch nehmen, bis ein folgenreiches Ereignis das Ende der Markgenossenschaft einläutete.
Der Beginn der Kolonisierung
1492 wurde Amerika von den Europäern »entdeckt«. Der Reichtum, welcher der lokalen Bevölkerung fortan geraubt wurde, löste einen großen Konkurrenzdruck innerhalb der herrschenden Klassen Europas aus. Auch der Adel und die Kirche des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation gerieten in die Abhängigkeit und Konkurrenz der aufsteigenden Handelsklasse. Deutsche Handelsfamilien, wie die Fugger und Welser investierten ab der ersten Stunde in den Kolonialismus. In der Folge versuchten Adel und Kirche den Bäuer:innen mehr und mehr abzupressen: die Abgaben stiegen, Land wurde privatisiert und die Markgenossenschaften schrittweise ausgehöhlt. Im Jahre 1495 wurde im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation die sogenannte Reichsreform durchgeführt. Diese beinhaltete zum ersten Mal eine allgemeine Steuer, welche in Geldleistungen erbracht werden musste. Außerdem wurde die Rechtsprechung zentralisiert, sodass den Dörfern ihre lokale Gerichtsbarkeit verloren ging. Die Steuer ermöglichte darüber hinaus die Finanzierung von Söldnerheeren. Es lässt sich also bereits erkennen, wie die Zuspitzung der Ausbeutung der bäuerlichen Gesellschaft in Verbindung zum Kolonialismus steht. Diesen Zusammenhang werden wir im nächsten Artikel der Reihe noch genauer untersuchen.
Der Bauernaufstand von 1525
Die Verschärfung der Ausbeutung führte zu einer Reihe von Volksaufständen. Oft waren sie lokal begrenzt, doch ihre schiere Anzahl ist beeindruckend. So sind die Bundschuh-Bewegung im Süden des Landes, die Gründung der Bauernrepublik in Dithmarschen, der Aufstand des »Armen Konrads« oder der Aufstand in Unterkrain, an dem 90.000 Bäuer:innen beteiligt waren, nur einige wenige Beispiele dieser Zeit. Sie wurden oft mit größter Brutalität niedergeschlagen, und die Herrschenden ließen ganze Landstriche veröden.
Doch 1525 gipfelten diese Aufstände in einem flächendeckenden Aufstand der Dörfer und Städte gegen die Herrschenden, gegen Fürsten und Bischöfe. Denn zu dieser Zeit wurden die Forderungen der Bäuer:innen zum ersten Mal gedruckt und fanden dadurch eine weite Verbreitung. 25.000 Exemplare der »Artikel von Memmingen« verbreiteten sich im ganzen Land und auch über die Ländergrenzen hinaus. In ihnen ließen die Vertreter der Bäuer:innen ihr Beharren auf das Alte Recht verkünden. Die Verbreitung dieser Artikel, die unter anderem die eigenständige Steuerverwaltung durch die Gemeinde, die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Rückgabe der Allmenden forderten, führte dazu, dass sich in großen Teilen der Mitte und des Südens des Reiches bis zu 80% der Bevölkerung an den Aufständen beteiligten. Sie organisierten sich in regionalen Haufen: in Zusammenkünften von Bäuer:innen, Handwerker:innen und dem niederen Adel, die oft von ihren Dörfern und Städten gesandt waren. Sie griffen Burgen und Klöster an, denn ihr Ziel war die Zerstörung der Grundbucheinträge mit ihren Schuldausständen.
Die Herrschenden konnten diesen Aufständen kaum etwas entgegensetzen. Hinzu kam, dass die Söldnerheere des Reiches zu jener Zeit in einem Krieg in Italien gebunden waren. Außerdem gab es kaum Söldner im eigenem Land, die nicht auf der Seite der aufständischen Gesellschaft standen. So gingen die Fürsten in Verhandlungen mit den Bäuer:innen und versuchten durch Verträge und Zugeständnisse die Haufen voneinander zu spalten. Dies gelang ihnen auch teilweise, denn in den Haufen waren sowohl reformistische als auch revolutionäre Kräfte vereint. Viele Haufen wurden von Theolog:innen der häretischen Bewegungen begleitet oder angeführt, die den materiellen Kampf um das alte Recht auf einen Kampf der Ideologien und Interpretationen der Bibel ausweiteten. Einer der radikalsten Sprecher der Haufen war Thomas Müntzer aus dem heutigen Thüringen. Er vertrat aus freiheitlicher christlicher Überzeugung die Linie, dass Herrschaft Diebstahl sei und das Paradies nur durch das jüngste Gericht, das durch die Bäuer:innen selbst ausgeführt wird, erreicht werden könne.
»Die Grundsuppe der Dieberei sind unsere Fürsten und Herren, nehmen alle Creaturen zu ihrem Eigenthum, die Fisch im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden muß alles ihre seyn. Aber den Armen sagen sie: Gott hat geboten, du sollst nicht stehlen.«
Thomas Müntzer
Die Niederschlagung
Nur langsam vergrößerte sich das Söldnerheer der adligen Bünde. Sobald sie aber sahen, dass ihre Söldnerheere genügend Aussichten auf eine Niederschlagung hatten, griffen sie unbarmherzig an und verfolgten die fliehenden Aufständischen gnadenlos. Sie ermordeten alle bis zur letzten Person und brandschatzten die Dörfer und Städte. Es wird berichtet, dass alleine im Frühling der Konfrontationen 1525 3% der Bevölkerung massakriert wurden. Die Herrschenden wollten ein neuerliches Aufkeimen des Widerstands unter allen Umständen verhindern. Deshalb statuierten sie Exempel überall, wo sie vorbeizogen. Unterstützer:innen des Aufstands wurden gefoltert und verstümmelt und Beteiligte hingerichtet. Außerdem wurden Versammlungen, das Betreiben von Wirtshäusern und jedwede Festlichkeit verboten. Das Land wiederum fiel in die Hände der Sieger und wurde privatisiert. Diese große Niederlage und das Ausmaß der Gewalt führte zu einer Totenstimmung, die das Ende der bäuerlichen Aufstände dieser Zeit bedeutete. Zwar gab es auch danach immer wieder Aufstände, aber die Erinnerungen an diese Zeit prägten sich tief in die Köpfe und Herzen der Gesellschaft ein.
Die Folgen
Damals begann hier im deutschsprachigen Raum, was wir als den Dreiklang der Spaltung bezeichnen können. Die Spaltung zwischen der Gesellschaft und ihrem Land, die Spaltung zwischen Individuum und Gesellschaft und schließlich die Spaltung zwischen dem Individuum und seinem Selbst. Die Niederschlagung der Aufstände bedeutete für die Menschen den Verlust von ihrem Land und der Allmende, es bedeutete den Verlust von Gemeinschaft und der Möglichkeit zur Selbstbestimmung. Es macht begreiflich, was wir verloren haben und mit welcher Gewalt dieser Prozess vonstatten ging. Wenn wir an die Wurzel der Probleme unserer Zeit gehen, dann sehen wir die patriarchale Mentalität, die dieser Logik der Spaltung zugrunde liegt. Es ist die Spaltung, die für die Herrschenden notwendig war, um die Beziehungen, die ein freies Leben ermöglichen, zu zerstören. Eine Spaltung, die im weiteren Verlauf ihre Fortsetzung in der Versklavung und Kolonisierung, in der Hexenverfolgung und vielen weiteren Angriffen auf das gesellschaftliche Gefüge finden wird. Wenn die Zapat‑‑istas sagen, dass wir in Europa zwar genug Essen und Trinken haben, aber dass wir unsere Seele verkauft haben, meinen sie diesen Prozess. Sie meinen, dass wir uns von dem, was ein freies Leben ausmacht, entfremdet und abgespalten haben. Diese Spaltung zieht sich quer durch die Gesellschaft bis in unsere Köpfe und lässt uns von unserer Menschlichkeit entfremden.
Der ewige Fluss, der das Leben hervorbringt
Obwohl der Angriff vor fast 500 Jahren ein schwerer Schlag gegen die dörflich-agrarische Gesellschaft war, hat diese nie aufgehört zu existieren. Wir finden ihre Form der moralischen Ökonomie, der Selbstversorgung und der bedingungslosen Hilfe noch heute wieder. Noch heute erzählen uns Großeltern Geschichten und Märchen, in denen wir die Moral der dörflich-agrarischen Gesellschaft wiederfinden. Noch heute verteidigen Bäuer:innen ihr Land gegen Großgrundbesitzer und große Infrastruktur-Projekte. Noch heute finden wir die Liebe für die Vielfalt unserer Gesellschaft in den unzähligen Sprachen und Dialekten, die überall erklingen. Wir finden sie in der Solidarität für Geflüchtete, in der Bereitschaft zu helfen, wo es nötig ist. Noch heute können wir selbst in Städten das Potenzial zur Selbstverwaltung, Selbstversorgung und Selbstverteidigung der Gesellschaft wiederentdecken.
Doch auch wenn der demokratische Fluss der Gesellschaft immer weiter existiert, können wir unsere Augen nicht vor dem verschließen, was die Freiheitsbewegung Kurdistans als die Zuspitzung der kapitalistischen Moderne bezeichnet. Wir befinden uns mitten in einem Chaos-Intervall, inmitten der Krise des Systems deren Ausgang noch nicht entschieden ist. Die Auswirkungen dessen, was vor 500 Jahren weltweit zum System wurde, bekommen wir jeden Tag stärker zu spüren. Wir erleben das, was Öcalan als Soziozid bezeichnet: den Untergang der dörflich-agrarischen Gesellschaft. Für diese Zuspitzung sind die letzten 50 Jahre von großer Bedeutung, und so wollen wir uns am Ende der Reihe noch einmal auf diese letzten 50 Jahre fokussieren und den Niedergang der dörflichen Lebensweise und seine Auswirkungen analysieren.
Das Leben verteidigen
2025 wird sich der große Aufstand der Bäuer:innen zum 500. Mal jähren. Die Artikel von Memmingen sind noch heute aktuell, und wie früher kämpfen wir um unser Land, um das alte Recht auf Selbstversorgung, Selbstverwaltung und Selbstverteidigung und für das gute Leben. 2025 werden wir den Ruf der Aufständischen wieder ins Land tragen, werden wir den Toten unsere Stimme und Hände leihen und für die Artikel der Gesellschaft kämpfen, sowie sie es die letzten 500 Jahre getan haben. 500 Jahre kapitalistische Moderne sind genug. Die 500 Jahre der Entfremdung des Menschen von der Erde, von der Gesellschaft und schließlich von sich selbst, haben sich zur Unerträglichkeit entwickelt. Sie rufen nach dem Aufbau einer demokratischen Moderne. Ihr Aufbau, auf der Grundlage einer moralisch-politischen Gesellschaft, einer kommunalen, ökologischen und geschlechtergerechten Lebensweise, wird unsere Antwort sein. Die Kämpfe vor 500 Jahren sind uns dabei Vorbild, Wegweiser und Mahnung zugleich.
Kurdistan Report 231 | Januar / Februar 2024