Waldbrände als Politik des Spezialkrieges in Kurdistan
Hand in Hand mit Profitstreben
Ökologie-Initiative Kurdistan
Macht- und Profitstreben kennen keine Grenzen. Wie der Türkische Staat die Vernichtung von Waldbeständen und anderen Lebensräumen forciert, um das staatliche Machtinteresse und die wirtschaftlichen Interessen seiner Komplizen zu fördern und dabei seine eigenen offiziellen regeln bricht, untersucht die Ökologie-Initiative Kurdistan in folgendem Artikel.
Wenn wir uns heute die Definition von Waldbränden in ihrer einfachsten Form ansehen, dann handelt es sich um Brände, die durch menschliche Aktivitäten oder natürliche Ereignisse (Blitzschlag, Vulkan, hohe Temperaturen usw.) verursacht werden. Aber haben wir schon einmal von einer Definition eines politischen Brandes gehört? Diese Art von Bränden, die in Kurdistan die Mehrheit der Waldbrände ausmachen, sind genau die Katastrophe, die wir in die Definition der politischen Waldbrände aufnehmen können.
Die Wälder, die der Erde bekanntlich als Sauerstoffquelle dienen, die die Luft reinigen, große Hitze reduzieren und ein lebenswichtiges Gut sind, sind eines der wichtigsten Ökosysteme für den Fortbestand des Lebens. Sie beherbergen die schönsten Farben der Erde und sind ein wichtiger Faktor für die Artenvielfalt. Sie sind lebende Systeme, die nicht nur aus Bäumen und Baumvielfalt bestehen, sondern auch aus anderen Pflanzen, Tieren, Mikroorganismen, aus Boden-, Luft- und Wasserlebewesen und deren Beziehung zueinander und zu ihrer Umwelt.
Wälder, die mit Meeren, Flüssen und der Luft interagieren, sind das beste Beispiel für gegenseitige Unterstützung in der Natur und tragen zum Überleben vieler Lebewesen bei.
Wälder, die die Heimat von Vögeln und Eichhörnchen sind und um die herum sich das Leben einer Gesellschaft abspielt, bilden ein Ökosystem.
Bäume, die von der Gesellschaft als Extrakt des Lebens angesehen werden, sind auch Symbole, die den Menschen Spiritualität vermitteln; manchmal ist ihr Schatten das Symbol des gemeinsamen Lebens, manchmal sind ihre Wurzeln kraftgebende Symbole.
Bäume, die das Symbol ursprünglichen Lebens sind, werden in verschiedenen Glaubensrichtungen und unterschiedlichen Kulturen bis heute als heilig angesehen.
Ein kleiner Kreis von Banditen
Diese Güter, die von der Gesellschaft als Teil der Natur angesehen werden, sind der Profitlogik unterworfen worden, indem sie in den Besitz und die Verfügungsgewalt der Staaten übergehen. Die Herrschaft über sie, die von der Gesellschaft selbst nicht ausgeübt wird, ist zu einer zivilisatorischen Staatstradition geworden, und das Massaker an den Wäldern ist Bestandteil der Politik geworden.
In der Republik Türkei, in der die Forstpolitik keinen hohen Stellenwert einnimmt, ist sie mit dem rasant gestiegenen Profit-System der AKP-Ära zu einer Einkommensquelle für einen sehr kleinen Kreis von Banditen geworden. Das Forstgesetz, das seit 2002, also seit Beginn der AKP-Herrschaft, 30 mal geändert wurde, ist zu einem Instrument geworden, Profit aus dem Waldbesitz zu schlagen statt dem Überleben des Waldes zu dienen.
Zwar gibt es in verschiedenen Ländern der Welt Beispiele für Massaker an Wäldern, doch die Türkei steht an der Spitze dieser Massaker und der Entwaldungspolitik. Unter Missachtung internationaler Abkommen und ihrer eigenen Verfassung nehmen die Angriffe der Republik Türkei auf den Waldbestand jedes Jahr massiv zu.
In der Türkei gibt es innerhalb der Landesgrenzen fast keine Gebiete mehr, in denen nicht Minen für den sogenannten Bedarf eröffnet wurden, der zu dem Zweck geschaffen wurde, einige wenige Unternehmen zu bereichern und sie zu Komplizen zu machen. Trotz aller Widerstände konnten die Unternehmen vor unseren Augen Zehntausende von Bäumen abschlachten, weil sie die Strafverfolgungsbehörden hinter sich gebracht haben. Die prominentesten Beispiele dafür waren die Wälder von Kazdağları, İkizköy, İkizdere und Akbelen, wo ein starkes Zeichen des Widerstands gesetzt wurde. Diese Massaker, die um des Profits willen verübt werden, sind eine Schande für die Türkei und Teil des Krieges in Kurdistan geworden. Obwohl einige Projekte in Kurdistan das Fällen von Bäumen beinhalten, sind es im Allgemeinen die Waldbrände, die die Dimension des Massakers darstellen. Der erste politische Waldbrand in Kurdistan fand zur Zeit des Aufstandes von Şêx Said statt. Dörfer und Wälder wurden niedergebrannt, Tiere wurden geschlachtet. Auch während des Genozids von Dersim wurden diese Methoden angewandt.
Von der Dorfzerstörung zur Waldvernichtung
In Kurdistan brachten die 1990er Jahre die Evakuierung und das Niederbrennen von Dörfern und Walddörfern sowie Enteignung, Abholzung und Ödnis als Kriegsstrategie mit sich, um die Rückkehr der Bevölkerung zu verhindern. Berg- und Tieflanddörfer, in denen intensiv Landwirtschaft und Viehzucht betrieben wurde, wurden zerstört. Die kollektive Lebenskultur des kurdischen Volkes wurde durch die erzwungene Migration in ein in Beton gefangenes Leben verwandelt. Die soziologischen, psychologischen, kulturellen und wirtschaftlichen Probleme, die mit der erzwungenen Migration in die Großstädte einhergingen, bestehen bis heute.
Die Dorfbrände der 1990er Jahre wurden durch systematisches Anstecken von Wäldern ersetzt. Seit dem Ende des Friedensprozesses 2015 bis heute werden unvermindert Brände nach Konflikten oder zu »Sicherheitszwecken« gelegt. In den Sommermonaten brechen manchmal mehr als zehn Brände in einem Gebiet aus, von denen einige mehrere Tage andauern. Vor allem in Çewlîg (tr. Bingöl), Licê, Cûdî, Omeryan und Dersim werden jedes Jahr mehrtägige Waldbrände gelegt. Die Nähe der Brandherde zu Militärbasen und Polizeistationen verrät die Identität der Brandstifter. Waldbrände als eine Säule der Umweltzerstörung, als spezielle Kriegspolitik erinnern uns daran, dass »Krieg die größte Umweltzerstörung« ist.
Waldbrände, die in der Regel in zu »Sicherheitszonen« erklärten Gebieten oder unmittelbar nach einer aus »Sicherheitsgründen« verhängten Ausgangssperre entstehen, werden offensichtlich aus militärischen Gründen gelegt. Die Tatsache, dass die Brände nicht gelöscht werden oder die Zivilbevölkerung am Löschen gehindert wird, verursacht große ökologische Zerstörungen. Schon bei der Verbrennung nur eines Baumes sprechen wir über die Vernichtung eines großen Ökosystems. Viele Arten, die in den Wäldern leben, verschwinden entweder ganz oder sind durch die Zerstörung ihrer Lebensräume bedroht. Da die für den Schutz und die Erhaltung der Wälder zuständigen Institutionen nicht reagieren, kann die Zerstörung mit dem Argument der Sicherheit legitimiert werden. Ebenfalls reagiert auch die türkische Öffentlichkeit nicht auf die Massaker an den Wäldern, denn die faschistische und rassistische Politik des Staates und der Regierung durchdringt alle Bereiche der Gesellschaft. Die von der Regierung monopolisierten Medien berichten nicht über die Brände, manchmal werden sie nicht einmal gemeldet. Diese Monopolisierung führt auch dazu, dass dieser Vernichtungsprozess in der Gesellschaft nicht bekannt ist und das Ausmaß der Zerstörung nach den Bränden nicht erfasst werden kann. Es wird nicht als notwendig erachtet, zu untersuchen und zu erfassen, wie groß die verbrannten Flächen sind, welche Arten vernichtet wurden und welche davon endemisch sind. Die Tatsache, dass Freiwillige aus Sicherheitsgründen keine Machbarkeitsstudie in den Gebieten durchführen dürfen, trägt zur Amnesie bei.
Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft setzt der Vernichtung Grenzen
Ende Juli 2023 wurde durch die erhöhte Aufmerksamkeit der Gesellschaft, welche durch die massenhafte Vernichtung von Bäumen in Akbelen entstanden war, das in Cûdî ausgebrochene Feuer unter Kontrolle gebracht, nachdem das Thema durch die sozialen Medien öffentlich gemacht worden war. Es ist nicht genau bekannt, ob das Feuer von sich aus erloschen ist oder ob es aufgrund der Reaktionen gelöscht wurde. Im Allgemeinen handelt es sich bei den Informationen, die die Behörden geben, um Erklärungen, die darauf abzielen, eine bestimmte Wahrnehmung zu schaffen und die Dinge zu vereinfachen. Es wird erklärt, dass der Bereich, in dem das Feuer ausgebrochen war, nur aus Büschen besteht oder dass ein Brand auf die Hitze zurückzuführen sei. In dieser Situation kommt der Forderung der Aktivist:innen nach einer Untersuchung vor Ort eine entscheidende Bedeutung zu. In den vergangenen Jahren haben Aktivist:innen die Gebiete, in denen Wälder gebrannt haben, besucht beziehungsweise versucht, sie zu besuchen, konnten aber leider keine fundierten Informationen gewinnen, weil sie daran gehindert oder eingeschränkt wurden.
In einer Zeit, in der die Massaker an den Wäldern zunehmen und die Brände in Kurdistan das Gewissen aller berühren, forderten in den kurdischen Gebieten aktive Umweltorganisationen dazu auf, nach Cûdî zu fahren und die Zerstörungen vor Ort zu untersuchen. Obwohl das betroffene Gebiet militärisch gesperrt, durch Hindernisse blockiert und der Zutritt genehmigungspflichtig war, (es handele sich um ein »unsicheres Gebiet»), wurde eine oberflächliche Untersuchung von einem anderen Dorf in Sichtweite aus vorgenommen. Es war auch bezeichnend, dass es sich dabei um ein in den 90er Jahren evakuiertes Dorf handelte. Der Brand in Cûdî wurde von den Zeugen vor Ort, die die Untersuchung begleiteten, gemeldet. Die Tatsache, dass das Feuer durch einen Einsatz rund um eine Militärstation ausgelöst wurde, und die Tatsache, dass kein einziger Baum rund um diese militärischen Festungen und die Polizeistationen gefunden wurde, zeigt uns, dass die Region durch die Kriegstaktik von Tag zu Tag trockener wird. Da die Region Cûdî eine Region mit reicher biologischer Vielfalt und intensiver landwirtschaftlicher Tätigkeit ist, wird diese Kriegspolitik nicht wieder gut zu machende Zerstörungen zur Folge haben.
Abholzung führt zur Verödung
Zusätzlich zu den Waldbränden wurden in den letzten Jahren in verschiedenen Provinzen Kurdistans, insbesondere in Şirnex (tr. Şırnak), Bäume abgeholzt. Unter der Aufsicht von Ordnungskräften werden sie ohne Genehmigung gefällt, in andere Provinzen transportiert und dort verkauft. Als Grund für die Baumfällungen werden erneut »Sicherheitsgründe« vorgetragen. Sie sind jedoch das Resultat einer Politik, die darauf abzielt, den Waldbestand in Şirnex vollständig zu vernichten. Trotz des Widerstandes der Gesellschaft und des juristischen Kampfes geht das Abholzen der Bäume weiter. Von der »Sicherheitspolitik« abgesehen, zeigt uns die Tatsache, dass die Region über reiche Bodenschätze verfügt, dass die Kriegspolitik Hand in Hand mit einer Politik des Profits geht. Experten sagen, dass der Wald die Fähigkeit hat, sich nach einem Brand selbst zu heilen; aber es zeigt sich, dass die ständigen Brände in der Region und vor allem die Baumfällungen dem Waldbestand großen Schaden zugefügt haben. Wenn wir uns die Satellitenbilder der letzten 10 Jahre ansehen, sehen wir Berge, die fast kahl sind, während früher dichte Bewaldung zu sehen war. Die Provinzen Kurdistans gehören zu den Regionen, die von der Klimakrise stark betroffen sein werden. Der Rückgang der Waldfläche wird beängstigende Ausmaße haben, und die Zerstörung wird sich auf alles Leben auswirken. In der Region, wie sie jetzt ist, werden Faktoren wie der Rückgang der Wasservorräte und die saisonalen Veränderungen zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion und damit zu einer Nahrungsmittelkrise, einer Wirtschaftskrise und anderen Auswirkungen führen, die das Leben erschweren werden.
Zusammengefasst: Die Provinzen Kurdistans, die bereits von einer rassistischen Politik angegriffen werden, sind von Abholzung, Entvölkerung und Ödnis bedroht, wobei ökologische Güter als Waffen eingesetzt werden. Während Großprojekte wie Staudämme, Minen und Wärmekraftwerke bereits ein beträchtliches Ausmaß an Zerstörung in der Region angerichtet haben, verursachen Waldbrände zusätzlich eine ähnlich große ökologische Zerstörung. Man kann sagen, dass eine neue Umsiedlungspolitik in Gang gesetzt wurde, bei der die Umweltzerstörung eine besondere Kriegsmethode darstellt.
Die Zerstörung der Natur ist nicht nur eine physische und biologische, sondern auch eine kulturelle, gesellschaftliche und soziale Zerstörung. Es ist unsere Pflicht, diese Politik des Spezialkrieges, die auf die Vernichtung des gesellschaftlichen Lebens abzielt, richtig zu verstehen, zu begreifen und entsprechend soziale Verantwortung zu übernehmen.
Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023
Kurdistan Report 230 | November/Dezember 2023
Editorial
Aktuelle Politische Lage
Die Türkei im Beziehungsgeflecht der Hegemonialmächte – Auswirkungen auf Kurdistan
Ferda Çetin, Journalist
Erklärung der KCK zur aktuellen Situation in Israel/Palästina
Die Palästinensische Frage kann nicht durch Gewalt gelöst werden
ANF deutsch, 13.10.2023
Chronologie des internationalen Komplotts gegen Abdullah Öcalan
Billige und verräterische Diener – rechtlich und moralisch verloren
Ömer Güneş, Rechtsanwalt, Heidelberg
Die Türkei missachtet Urteile des Europäischen Gerichtshofs fürMenschenrechte
Verschärfte lebenslängliche Haft, das Recht auf Hoffnung und der Fall Öcalan
Rechtsanwältin Rengin Ergül
Die Kampagne für die Freiheit von Abdullah Öcalan vereint Millionen Menschen weltweit
Freiheit für Abdullah Öcalan
Kampagne
Erklärung der Initiative Freiheit für Öcalan – Italien
Die Zeit ist reif!
Giovanni Russo Spena
Um ihre Projekte ausweiten zu können, benötigt die Frauenstiftung der freien Frau in Syrien WJAS weiter Unterstützung
Sich gegenseitig stärken und Kraft geben…
Interview mit einer Frauendelegation
Offener Brief an die Vereinten Nationen
an den Sicherheitsrat u.a.
Die iranische Opposition:
Regierungskritiker oder Systemkritiker?
Farhad Jahanbeygi, Journalist
Aserbaidschan und die Türkei setzen auf militärische Expansion im Kaukasus
Das schnelle Ende der armenischen Enklave in Bergkarabach
Elmar Millich
KRG – Die Region im Klammergriff der Parteien im Inneren und der Nachbarstaaten von außen
Süd-Kurdistan in einem noch nicht erklärten Krieg
Kamal Rauf
Waldbrände als Politik des Spezialkrieges in Kurdistan
Hand in Hand mit Profitstreben
Ökologie-Initiative Kurdistan
Die ökologische Krise in Ostkurdistan und die aufkeimende Ökologiebewegung
Kommerzialisierung der Natur
Saman Ghazali, Journalist und Umweltaktivist
Die Mär vom »grünen Kapitalismus«
»War das jetzt eine Rede gegen Windräder und Schienen auf einem Klimastreik?«
Victor, politischer Aktivist
Prozess gegen Kenan Ayaz soll im November in Hamburg beginnen
Freiheit für Kenan Ayaz!
Solidaritätskomitee »Free Kenan«
Das PKK-Verbot zum 30. Jahrestag überdenken
Das PKK-Verbot als Angriff auf die kollektive Identität der Kurd:innen
Mahmut Şakar
500 Jahre Aufstieg und Niedergang der kapitalistischen Moderne
Eine Reihe der IDK
Weltjugendkonferenz vom 3. bis 5. November in Paris
»Youth Writing History«
Vorbereitungskomitee der Weltjugendkonferenz
Impressum
Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023
Die ökologische Krise in Ostkurdistan und die aufkeimende Ökologiebewegung
Kommerzialisierung der Natur
Saman Ghazali, Journalist und Umweltaktivist
Mit dem Beginn des kapitalistischen Zeitalters begann die Wissenschaft, die zuvor vorherrschenden Glaubenssysteme, insbesondere die Religionen, zurückzudrängen. Interessanterweise baute die westliche Wissenschaft jedoch auf demselben Grundprinzip auf, wie die einst dominierenden Religionen. Anders ausgedrückt: Statt die Natur als eine sterbliche Substanz in religiösen Texten zu überwinden, entwickelte sich die Vorstellung, den Anweisungen der wissenschaftlichen und technischen Prinzipien zu folgen, um sie in der Moderne zu beherrschen.
Mit der Verkündung des »Todesgottes« durch Nietzsche tauchte eine neue Vorstellung auf – eine neue Weisheit und Erkenntnis über die metaphysische Würde. Diese übertrug dem Menschen eine neue Aufgabe: Die Natur musste im Einklang mit den Geboten der Weisheit und der Wissenschaft gebracht werden, um Erlösung zu erlangen. Diese Erlösung wurde nicht mehr im Reich Gottes, sondern nur noch auf der Erde gesucht. Wissenschaft und Vernunft verfolgten dabei in Bezug auf die Umwelt zwei Hauptziele: die industriell-technische Kontrolle über die Natur und die Vorherrschaft in Form von geografischen Imperien (Val Plumwood, 1993).
Die Ideen von Darwin, die später als Sozialdarwinismus in den gesellschaftlichen Diskurs einflossen, führten die Vorstellung ein, dass der Mensch eine überlegene und besondere Spezies sei, die sich von anderen Arten unterscheidet und das Recht hat, die Natur und andere Spezies zu seinem eigenen Vorteil zu dominieren. Die Theorie des »Überlebens des Stärkeren« und des »Kampfes ums Überleben«, die von Herbert Spencer1 in die Soziologie eingeführt und aus Darwins Theorien entwickelt wurde, veranschaulichte diese Vorstellung.
Es wurde argumentiert, dass die Existenz sozialer Klassen eine natürliche Erscheinung sei und dass innerhalb der Gesellschaft die Stärkeren oder die Vorgesetzten das Recht hätten, die Schwächeren zu unterwerfen und auszubeuten. Diese Unterwerfung, Herrschaft und Ausbeutung führten im 20. Jahrhundert zu Umweltkrisen und legten den Grundstein für die Entstehung sozialer Bewegungen, insbesondere der Umweltbewegung.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Beginn des Kalten Krieges markierten einen tiefgreifenden Wandel in den sozialen Bewegungen. Die Arbeiter:innen- und Nationalbewegungen traten in den Hintergrund, während Umweltbewegungen, Frauenbewegungen, Friedensbewegungen, der Kampf gegen Rassendiskriminierung und andere Themen an Bedeutung gewannen. Dieser Paradigmenwechsel erreichte seinen Höhepunkt mit der französischen Studierendenbewegung im Mai 1968.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Umweltkrisen nach jahrzehntelanger Vorherrschaft des liberalen Kapitalismus immer offensichtlicher. Das Auftreten dieser Krisen, zusammen mit einer theoretischen Verschiebung von großen Erzählungen auf Meta-Narrativen, legte den Grundstein für die Entstehung von Umweltbewegungen in den letzten drei Jahrzehnten des Jahrhunderts.
Mit dem Aufstieg dieser Bewegungen veränderte sich der Kapitalismus von einem regulierten, staatlichen Modell zu einem neoliberalen Kapitalismus, der von Finanzmärkten und globaler Marktwirtschaft geprägt war. Diese Umstellung brachte einen Paradigmenwechsel mit sich, der die Natur als ein Luxus- und Handelsgut für jeden präsentierte. Sie förderte einen Lebensstil und Werte, die von den entlegensten Ecken der Welttechnologie ausgingen, dabei lokale Gemeinschaften und unberührte Naturgebiete einschmolzen und die Natur zum Verkauf anbot.
Der kapitalistische Ausverkauf der Natur im Iran
Während der Pahlavi-Periode, insbesondere während der Landreform von 1953-1959, wurden im Iran erstmals kapitalistische Verhältnisse etabliert. Es ist wichtig zu beachten, dass dies durch die Revolution von 1979 nicht angetastet wurde. Im Gegenteil, mit dem Aufkommen islamischer Strömungen, die die Revolution vereinnahmten, beschleunigte sich der Prozess der Integration des Irans in den globalen freien Markt.
Nach dem Ende des achtjährigen Krieges zwischen Iran und Irak wurde damit begonnen, liberale und neoliberale Werte zu fördern, sowie die Kommerzialisierung der Natur voranzutreiben. Die Ausbeutung der Natur im Iran hat in den letzten fünfzig Jahren einen kontinuierlichen Anstieg erfahren. Um dies zu verdeutlichen: In den 1970er Jahren wurden im Iran 47.000 Erdöl- und Erdgasbohrungen durchgeführt. Nach einem halben Jahrhundert hat sich diese Zahl auf eine Million Bohrungen erhöht, obwohl der Iran die weltweit höchste Absenkung des Grundwasserspiegels verzeichnet. Diese Statistiken sind nur ein kleiner Einblick in die zahlreichen ökologischen Krisen im Iran.
Der iranisch besetzte Teil Kurdistans, auch als »Ostkurdistan« bekannt, bildet hier keine Ausnahme. Die Rohstoffgewinnung in Ostkurdistan hat ein so fortgeschrittenes Stadium erreicht, dass der Urmia-See, ein jahrtausendealtes Naturerbe, austrocknet. Die Wälder des Zagros-Gebirges schrumpfen täglich weiter. Lagunen verschwinden nach und nach, und Wasserressourcen werden gnadenlos ausgebeutet. Interessanterweise zeigen Untersuchungen, dass lediglich fünf Prozent des Verlustes von Land und Lebensraum, wie im Fall des Urmia-Sees, auf Dürren und Veränderungen in den Niederschlägen zurückzuführen sind.
In den letzten drei Jahrzehnten verstärkte sich die Kontrolle und Ausbeutung der Natur in Ostkurdistan durch die Einbindung in globale kapitalistische Marktbeziehungen und die Integration lokaler Gemeinschaften und Dörfer in neoliberale Strukturen erheblich. Dies geschah sowohl durch staatliche Souveränität im Rahmen ökozidalen Verhaltens als auch durch lokale Institutionen und Kapitalbesitzer, die als Bindeglied zwischen regionaler und zentraler Bourgeoisie fungierten.
Während der neoliberalen Ära zog der Kapitalismus die Menschen zunächst aus den ländlichen Gebieten in die Städte, indem er die Landwirtschaft ökonomisierte. Dies führte zur Zerstörung traditioneller Gemeinschaften sowie der natürlichen Lebenszyklen der Landwirtschaft und förderte eine wirtschaftliche Ausbeutung, die auf Rohstoffextraktion basierte.
In einer weiteren Phase, die von der Förderung liberaler und neoliberaler Werte sowie der Kommerzialisierung der Natur geprägt war, kam es zu einer teilweisen Rückkehr aufs Land. Dies bedeutet in gewisser Weise eine negative Rückkehr zur Natur, und zwar auf zwei Arten: Erstens durch Landbesitzer, die die Zeit der Landreform überstanden hatten, und zweitens durch Kapitalbesitzer, die begannen, Artenvielfalt und einheimische Lebensräume zu zerstören, um Luxusresidenzen, Gärten und Villen zu bauen, die dem Wohlstand, der Freizeit und dem Luxus dienen sollen.
Dies ging einher mit massiven Umweltzerstörungen, die von der Regierung unterstützt wurden. Die politische Struktur führte eine Art Ökozid-Kultur ein, die den Bau von Staudämmen und die Abholzung von Wäldern unter dem Deckmantel von Fünfjahres-Entwicklungsplänen vorantrieb.
Trotz all dieser Katastrophen und Umweltzerstörungen hat die Zivilgesellschaft in Ostkurdistan in den letzten fast zwei Jahrzehnten die Ökologie zu einem zentralen Bestandteil ihrer politischen Agenda gemacht. Diese Bewegung entspringt einer breiten Basis von Aktivist:innen auf lokaler Ebene, die eine Umweltbewegung repräsentieren, welche auf lokaler Ebene operiert, aber global denkt und sich gegen bestehende Machtstrukturen und Umweltzerstörung stellt.
Diese Bewegung hat eine neue Definition von Umwelt entwickelt, die nicht nur biologische Aspekte umfasst, sondern auch soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Dimensionen berücksichtigt. Die Aktivist:innen dieser Bewegung sind sich der Machtstrukturen bewusst, die Katastrophen, Krisen und Umweltzerstörung ermöglichen. Sie erkennen, dass der Kampf auf lokaler Ebene gleichzeitig ein globaler Kampf gegen die Profitlogik und die kapitalistische Vorherrschaft ist, die in den Nationalstaaten des Mittleren Ostens verheerende Auswirkungen hat. Die Umweltbewegung kämpft für die Ablehnung der Beherrschung der Natur und für eine Veränderung der Einstellung zur Natur.
Sie ist eine große Hoffnung angesichts der großen ökologischen Bedrohungen in Ostkurdistan, im gesamten Mittleren Osten und weltweit.
1 Herbert Spencer, 1820 bis 1903, war ein englischer Philosoph und Soziologe. Als Erster wandte er die Evolutionstheorie auf die gesellschaftliche Entwicklung an und begründete damit das Paradigma des Evolutionismus, das oft als Vorläufer des Sozialdarwinismus angesehen wird. (Wikipedia)
Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023
Offener Brief
an die Vereinten Nationen
an den Generalsekretär, Hr. António Guterres
an den Hohen Kommissar für Menschenrechte, Hr. Volker Türk
an den Menschenrechtsausschuss, den Menschenrechtsrat
und seinen Präsidenten, Hr. Václav Bálek
an die Generalversammlung und ihren Präsidenten, Hr. Dennis Francis
an den Sicherheitsrat
Sehr geehrter Herr António Guterres, sehr geehrter Herr Volker Türk, sehr geehrter Herr Václav Bálek, sehr geehrter Herr Dennis Francis und sehr geehrte Mitglieder der Vereinten Nationen und insbesondere des Sicherheitsrates,
Die seit dem 4. Oktober 2023 zum wiederholten Male stattfindende Aggression der Türkei gegen die Autonome Administration von Nord- und Ost-Syrien (AANES) und die in der Region lebende und sich selbst verwaltende kurdische, arabische, armenische, tscherkessische, turkmenische und assyrische Bevölkerung, nehmen wir als Frauenbewegungen und Frauenorganisationen in Nord- und Ost-Syrien zum Anlass und wenden uns mit diesem offenen Brief dringlich an Sie, sowie an alle Völker der Vereinten Nationen. Wir fordern Sie dazu auf, im Sinne der völkerrechtlichen Prinzipien und der Zielsetzung der Vereinten Nationen Verantwortung zu übernehmen und sich umgehend dafür einzusetzen, dass der türkische Staat seine aktuellen Angriffshandlungen beendet.
Im ersten Satz der Präambel der UN-Charter ist schriftlich bezeugt, dass »die Völker der Vereinten Nationen fest entschlossen sind, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren.« Diese »Geißel des Krieges« erleben wir als in Nord- und Ost-Syrien lebenden Frauen aktuell wieder in dramatischem Ausmaß.
Am 4. Oktober 2023 erklärte die Türkei in einer öffentlichen Erklärung des Außenministers der Autonomen Administration von Nord- und Ost-Syrien den Krieg, sie droht mit umfangreichen Angriffen auf die Infrastruktur der Region. Die Türkei bezieht sich in der Begründung ihrer Aggression auf einen am 1. Oktober durchgeführten Angriff der PKK in Ankara und unterstellt der Autonomen Administration von Nord- und Ost-Syrien Verbindungen zu den Tätern.
Auch in der Vergangenheit nutzte die Türkei immer wieder Anschläge zu Legitimation ihres Angriffskrieges auf die autonome Region in Nord- und Ost-Syrien, so z.B. einen von bis heute unbekannten Kräften verübten Bombenanschlag im bevölkerten Stadtzentrum von Istanbul im November 2022.
Sie verschleiert damit ihre eigene politische Absicht, die Region in Nord- und Ost-Syrien zu destabilisieren, zu entvölkern und zu besetzen und will in diesem Zusammenhang begangene Menschenrechts- und Kriegsverbrechen rechtfertigen. Seit der Revolution 2012 nutzt sie jede Möglichkeiten, um den Aufbau eines alternativen demokratischen Gesellschaftsmodells in Nord- und Ost-Syrien, in dem sich auch die kurdische Gesellschaft selbst verwalten kann, zu verhindern.
Aktuell verübt die Türkei seit ihrer Erklärung am 4. Oktober mit ihren Angriffshandlungen gegen die Menschen in Nord- und Ost-Syrien wiederholt Menschenrechts- und Kriegsverbrechen. In Form von Luft- und Drohnenangriffen und mit schweren Waffen führte sie bisher über 70 vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung, zivile Objekte, Dörfer, Wohn- und Arbeitsstätten und lebensnotwendige Infrastruktur durch, mit dem Ziel, die Bevölkerung sowohl psychologisch als auch physisch durch die Verwehrung einer Grundversorgung von Strom, Wasser und Lebensmitteln zu zermürben. Sie verstößt damit eindeutig gegen das humanitäre Völkerrecht, so z.B. gegen den in den Genfer Abkommen als auch den im Römischen Statut formulierten Schutz der Zivilbevölkerung und von Verletzten und Kranken.
Die Türkei führt regelmäßig Angriffe auf Krankenhäuser und Einrichtung der Gesundheitsversorgung aus. Zuletzt wurden jeweils durch Luftangriffe am 06.10.23 zwei für die Coronapandemie ausgestattete Krankenhäuser, die auch eine allgemeine Gesundheitsversorgung der Bevölkerung leisten, im Dorf Giri Fara bei Derik und in der Stadt Kobane zerstört.
Die Türkei greift gezielt Einrichtungen des Schutzes geflüchteter Menschen an. So wurde am 05.10.2023 die Umgebung des Flüchtlingscamp Washokani im Westen der Stadt Al-Hasakah innerhalb weniger Stunden mehrfach bombardiert. Daraufhin stellten alle 12 humanitäre Organisationen im Camp ihre arbeiten ein. Sie evakuierten ihre Mitarbeiter und ließen die Bevölkerung schutzlos zurück.
Die Türkei greift gezielt Objekte an, die lebensnotwendig für die Zivilbevölkerung sind, dazu gehört insbesondere die Trinkwasserversorgung. Am 05.10.23 erfolgte z.B. ein Angriff auf die Al-Hamma Wasserstation, die ein großes Gebiet der Stadt Al-Hasakah mit Wasser versorgt und am 06.10.23 ein Angriff auf die Khana Sere Wasserstation in der Region Derik.
Die Türkei greift gezielt Einrichtungen zur Herstellung von Nahrungsmittel, Erntebestände und landwirtschaftliche Gebiete an. Z.B. wurde am 04.10.23 eine Farm in Msheirefa Hama, nördlich der Stadt Al-Hasakah und am 06.10. ein Getreidesilo in Amude mittels Drohnen angriffen.
Die Türkei greift insbesondere die Energieversorgung (Strom, Gas und Ölanlagen) für die Zivilbevölkerung an, die auch notwendig sind z.B. für den Betrieb von Pumpanlagen der Wasserversorgung und die Herstellung von Lebensmitteln. Seit dem 4.10. wurden mehr als 30 Anlagen mittels Angriffen von Drohnen und Kampfflugzeugen zerstört oder beschädigt. Darunter z.B. am 05.10.2023 ein Kraftwerk in Tirbespiye und am 06.10.23 eine Transformatorenstation in Qamishlo, die bis dahin die Stromversorgung der örtlichen Mehlfabrik sicherte.
Die Türkei greift gezielt bevölkerte Orte, Dörfer, Wohn- und Arbeitsstätten an, z.B. wurde am 05.10.2023 eine Schule Dad Ebdal in Zirgan von Drohnen beschädigt. Am 04.10.2023 erfolgte ein Angriff mit Drohnen auf eine Ziegelei in der Stadt Al-Hasakah und am 06.10.2023 auf eine Textilfabrik in Amude. In der Region Derik, Kobane, Amude und Til Tamr erfolgten mehrfache Luftangriffe sowie der Beschuss mit schweren Waffen auf bewohnte Dörfer.
Neben diesen aktuellen Angriffen sehen wir uns in der Verantwortung darauf hinzuweisen, dass bis heute der Schutz der Zivilbevölkerung in den durch die Türkei völkerrechtswidrig besetzten Gebieten in Efrîn und Serê Kaniyê nicht gewährleistet ist. Die Plünderung und Zerstörung durch dort eingesetzte bewaffneten Banden, Folter und gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Gewalt, insbesondere gegen Frauen, das Verschwinden von Menschen und die Ansiedlung von ursprünglich nicht dort lebenden Bevölkerungsgruppen sind Beispiele für Menschenrechts- und Kriegsverbrechen, die zum Alltag der Bevölkerung in diesen Gebieten gehören. Wir wissen um mehr als 250 Frauen, die seit 2018 in der besetzten Region Efrîn verschleppt wurden. Dort erfolgen auch immer wieder Angriffe auf bevölkerte Gebiete. So bombardierte die türkische Armee und Söldner z.B. am 05.10.2023 mehrere Dörfer in Shara und Sherawa.
Als Frauenbewegung und Frauenorganisationen sprechen wir uns nicht nur gegen die Menschenrechts- und Kriegsverbrechen der Türkei an der Bevölkerung aus, sondern wir verweisen auch auf die Gefahr der Einschränkung der Rechte von Frauen und die Zerstörung eines Gesellschaftsmodells, das wie kein anderes eine politische und gesellschaftliche Teilhabe und die Freiheit von Frauen garantiert.
Vor 20 Jahren haben wir begonnen, uns hier in Nord- und Ost-Syrien als Frauen zu organisieren und seit der Revolution 2012 übernehmen wir als Frauen Mitverantwortung im Aufbau eines demokratischen Systems, dessen Basis die Freiheit der Frauen umfasst. Wir sind zu einer starken, multiethnischen Frauenbewegung gewachsen. Wir haben selbstverwaltete Frauenstrukturen und Räte aufgebaut und in der Gesellschaft ein Bewusstsein erreicht, dass ein Leben, in der die Frauen nicht frei sind, nicht mehr denkbar ist. Und wir beteiligen und engagieren uns täglich in politischen Gremien und gesellschaftlichen Institutionen dafür, diese Strukturen und die Situation von Frauen weiter zu verbessern.
Das so in Nord- und Ost-Syrien entstandene System ist mit der Anerkennung der Rechte von Frauen, ihrer gesellschaftlichen und politischen Beteiligung einmalig im Mittleren Osten und ein großartiger Gewinn für alle Frauen und die gesamte Bevölkerung in der Region.
Wir haben uns als Frauen mit großen Opfern am Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) beteiligt, weil es unsere natürliche Verantwortung war und ist, unsere Gesellschaft und alle hier lebenden Völker zu schützen. Aber auch, weil es für uns als Frauen existentiell um die Verteidigung unseres Lebens und unserer Freiheit geht. Weil wir es als notwendig betrachten, die Errungenschaften der Frauenbewegung und unseren Kampf vor den physischen Angriffen und der rückschrittlichen, fundamentalistischen Ideologie des IS zu schützen.
Die aktuelle Kriegserklärung und die Angriffe des türkischen Staates gegen die AANES und ihre Infrastruktur sind ebenso Angriffe gegen die starke Frauenbewegung in der Region. Sie entspringen einem auch durch die politische Führung der Türkei vertretenden fundamentalistischen und misogynen Weltbild. Sie sind eine Fortsetzung und Intensivierung der seit über drei Jahren andauernden Drohnenangriffe der Türkei, mit denen bis heute gezielt mehr als 30 führende Frauenpersönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und den Verteidigungskräften sowie aus der Zivilbevölkerung ermordet wurden.
Darunter waren zum Beispiel am 08.08.22 fünf junge Frauen in einem UN-geförderten Bildungszentrum, am 27.09.2022 Zeyneb Mihemed, Ko-Vorsitzende des Gerechtigkeitsbüros der Autonomieverwaltung der Region Cizîrê, am 20.06.2023 die Ko-Vorsitzende der Selbstverwaltung im Kanton Qamişlo, Yusra Darwish und ihre Stellvertreterin Liman Shiwesh und zuletzt am 15.09.2023 die YPJ-Kommandantin Shervin Serdar, die einen wichtigen Beitrag in den Kämpfen gegen den IS z.B. in den Offensiven von Minbic, Raqqa und Deir ez-Zor leistete.
Eine durch die aktuellen Angriffe bezweckte Destabilisierung der Region ebnet auch den Weg dafür, dass der IS sich in der Region wieder neu aufbauen, reorganisieren und verankern kann. Damit wäre wiederholt nicht nur die Sicherheit von uns Frauen, sondern der gesamten Weltgemeinschaft gefährdet.
Weil die Durchsetzung des Völkerrechts und die Ahndung von Menschenrechts- und Kriegsverbrechen allein den als Staaten vertretenden Völkern und Mitgliedern der UN vorbehalten bzw. an die Ratifizierung des entsprechenden Übereinkommens gebunden ist, bleibt es uns als Frauenbewegung und Frauenorganisationen, und auch den Vertretern und Vertreterinnen der Autonomen Administration von Nord- und Ost-Syrien verwehrt gegen die begangenen Menschenrechts- und Kriegsverbrechen der Türkei rechtlich vorzugehen. Für unser Recht auf Frieden auf der Basis der Grundsätze von Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit und für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts können wir selbst also nur mit unserer Stimme eintreten.
Bis heute ist keiner der Staaten der Vereinten Nationen bereit, die eigenen politischen Beziehungen und Vorteile durch eine deutliche Haltung bzw. eine Anklage gegen den türkischen Staat auf die Probe zu stellen und den moralischen, schützenswerten Prinzipien des Völkerrechts den ihnen eigentlich innewohnenden Vorrang zu geben.
Gerade dieses andauernde Schweigen der internationalen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen, vor allem die Straflosigkeit der völkerrechtswidrigen Besatzungspolitik ermutigen und ermöglichen es dem türkischen Staat seit Jahren auch aktuell seine Menschenrechts- und Kriegsverbrechen fortzuführen.
Mit diesem offenen Brief fordern wir Sie deshalb auf, auf Basis der in der UN-Charta formulierten Zielsetzungen umgehend Verantwortung zu übernehmen und sich dafür einzusetzen, dass die Türkei ihre aktuellen Angriffshandlungen beendet.
Wir fordern sie auf, die Türkei für ihre Menschenrechts- und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.
Und wir fordern eindringlich die Einrichtung einer Flugverbotszone über Nord- und Ost-Syrien, um zukünftige Aggressionen der Türkei und in diesem Zusammenhang stattfindende Kriegsverbrechen zu verhindern sowie den systematischen Einsatz von Kampfdrohnen für extralegale Hinrichtung von Aktivistinnen, Politikerinnen und führenden Frauenpersönlichkeiten, die sich für Frieden, für die Freiheit von Frauen, für Selbstbestimmung und den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in Nord- und Ost-Syrien einsetzten, zu stoppen.
Wir appellieren dafür wiederholt an die internationale Gemeinschaft, die Mitglieder und Institutionen der Vereinten Nation und explizit an den UN-Sicherheitsrat, seiner Verantwortung im Schutz der Menschen vor Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen nachzukommen und entsprechend dieser zu handeln!
09.10.2023, Nord- und Ost-Syrien
Frauenbewegung Kongra Star
Rat der Frauen von Nord- und Ost-Syrien
Verband der Armenischen Frauen
Zentrum zur Forschung und zum Schutz der Frauenrechte
Verband der Assyrischen Frauen in Syrien
Rat der Frauen Syriens
Verband der Ezidischen Frauen in Rojava
Frauenvereinigung Zenobiya
Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023
Die iranische Opposition:
Regierungskritiker oder Systemkritiker?
Farhad Jahanbeygi, Journalist
Der Kampf gegen die Tyrannei in der politischen Geographie des Iran hat eine tausendjährige Geschichte, da in diesem Land nie ein demokratisches System verwurzelt war und es immer Gemeinschaften und Gruppen gab, die sich gegen die herrschenden Systeme auflehnten. In den meisten Fällen wurden Aufstände, Revolutionen und Rebellionen jedoch von den Machthabern unterdrückt, und die Geschichte dieses Landes kehrte aufgrund der fehlenden Änderung des Systems und lediglich durch Machtverschiebungen oft wieder in den gleichen vorrevolutionären Zustand zurück. Wir möchten hier nicht die Geschichte der Regierungen und ihrer Aufstände untersuchen. Stattdessen versuchen wir, die Handlungen der iranischen Gemeinschaften gegenüber den aktuellen herrschenden Systemen zu beleuchten und die gegenwärtigen Wünsche von Einzelpersonen und Gruppen im Iran, insbesondere nach der Revolution von 1979, zu verstehen.
Die politische Geographie des Iran vor der Pahlavi-Ära
Das politische System im Iran vor der Machtübernahme von Pahlavi I. (1925–1941) durch die Briten war dezentralisiert und bestand aus verschiedenen politischen Einheiten, die zwar autonom in ihren internen Angelegenheiten waren, aber Tribut an die Zentralregierung zahlten und oft in Kriegen, sowohl extern als auch manchmal intern, Verbündete dieser Zentralregierung waren.
Die Lebensdauer des Iran, so wie wir ihn heute kennen, beträgt mehr als zweihundert Jahre. Seine moderne Erscheinung und seinen Aufstieg erlebte er allerdings erst mit dem Einmarsch ausländischer Truppen – in diesem Fall den Briten – und der nachfolgenden Besetzung nach dem Ersten Weltkrieg sowie den neuen politischen Umgestaltungen im Nahen Osten. Ursprünglich war geplant, den Iran nach dem Krieg mit einem republikanischen System regieren zu lassen, doch verschiedene Faktoren führten letztendlich zu einer erneuten Diktatur.
Die vielfältigen Völker im Iran hatten zuvor in einem frühen konföderalen Modell mit lokaler Autonomie gelebt. Doch mit der Neustrukturierung des Iran wurden sie konfrontiert mit Unterdrückung und Verbrechen, die von der neu etablierten iranischen Regierung begangen wurden. Dagegen kam es zu zahlreichen Aufständen und Widerstandsaktionen.
Die Ära von Pahlavi I. und II.
Doch der Widerstand konnte die Unterdrückung durch Reza Mirpandsch, auch bekannt als Pahlavi I., nicht überwinden. Mit brutaler gewalt konnte er seine Herrschaft, die von seinen Anhänger:innen als »aufgeklärte Diktatur« bezeichnet wurde, innerhalb des Territoriums der iranischen Nation festigen. Dies geschah auf der Grundlage eines Einheitsdenkens, einer gemeinsamen Sprache, einer Flagge und einer Geschichte, die in Teilen manipuliert wurde, um seine Herrschaft zu rechtfertigen.
Im Jahr 1941 wurde der Iran von den Alliierten besetzt, und die Menschen dieser Region erhoben sich erneut, um für ihre Rechte einzutreten. Dies umfasste das Streben nach Selbstbestimmung und konkrete Forderungen nach politischer Autonomie. Allerdings wurden diese Bemühungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erneut unterdrückt, diesmal unter Pahlavi II. (1941–1979), der Unterstützung von der Sowjetunion erhielt und Abkommen mit westlichen Mächten schloss. Das führte zu militärischen Einsätzen in verschiedenen Regionen, Massakern, Hinrichtungen und der Auflösung der Republiken von Aserbaidschan und Kurdistan. Die Bestrebungen der iranischen Völker nach Freiheit und Selbstbestimmung wurden erstickt, und die Demokratie wie die Menschenrechte blieben weiterhin unter den Trümmern dieses Landes begraben.
Pahlavi II. nutzte die Zeit, um die Grundlagen der iranischen Staatsregierung zu festigen. Er setzte auf Assimilation, insbesondere gegenüber den Kurd:innen, kulturelle Homogenisierung und die Manipulation der Geschichte, die bereits unter seinem Vater begonnen hatte. Mithilfe dieser Maßnahmen, der Ausweitung von Militärstützpunkten in verschiedenen Regionen, insbesondere in den Grenzgebieten, der Förderung der persischen Sprache in Schulen und dem Verbot von Bildung in anderen Sprachen gelang es ihm, die Arbeit seines Vaters fortzusetzen. In den 1960er Jahren gründete er ein nationales Radio und Fernsehen, die ausschließlich in Persisch sendeten, und präsentierte den Iran als Regionalmacht im Nahen Osten.
Die Revolution von 1979 und der Iran-Irak-Krieg
Mit der Revolution des iranischen Volkes im Jahr 1979 und der Einführung der Regierung des iranischen Volkes, diesmal unter der Herrschaft des Wali Faqih (religiösen Führers) anstelle einer Monarchie, gab es erneute Bemühungen, die Demokratie in verschiedenen Teilen des iranischen Territoriums zu etablieren. Es gab Versuche, politische Reformen und demokratische Prozesse in Gang zu setzen.
Der Ausbruch des Iran-Irak-Krieges (1980–1988) verwandelte eine Bedrohung in eine Gelegenheit, die das politische System des Iran nutzte. Insbesondere in den Regionen Kurdistan und Chuzestan (Arabistan) schuf der Iran einen militärisch gesicherten Raum, um die Politik der Assimilation fortzusetzen und seine Herrschaft zu festigen. Diese Bemühungen gingen jedoch mit vielen Verbrechen einher, einschließlich der »Fatwa des Dschihad« von Chomeini gegen Kurdistan und mehrere Massaker im Jahr 1988.
Nach dem Ende des Krieges wurde die Assimilationspolitik des iranischen Nationalstaates fortgesetzt und verstärkt. Dafür wurden die bereits in der Pahlavi-Ära etablierten historischen Instrumente genutzt. Zusätzlich wurden kulturell-religiöse Institutionen gegründet und erweitert, und es wurden Sonderkriege geführt, um die Ausweitung und Festigung dieser Politik voranzutreiben. Diese Politik besteht bis heute fort. In den letzten Jahrzehnten sah sich das politische System jedoch ernsthaften Herausforderungen und der Identitätssuche nicht persischer Nationen im Iran ausgesetzt.
Politische Ideologien und Forderungen
Es ist klar, dass das politische System im Iran seit 1925 bis heute keine wesentlichen, sondern lediglich oberflächliche Veränderungen erfahren hat. 54 Jahre lang bestand eine absolute Monarchie und 44 Jahre die absolute Herrschaft des Wali Faqih in Form eines zentralisierten und totalitären Systems.
Vielleicht ist es daher nicht verwunderlich, dass die letztere Gruppe sich bemüht, politische Begriffe neu zu definieren, wie zum Beispiel »Föderalismus«, abgeleitet vom lateinischen Wort »foedus«, das »Bündnis« bedeutet. Diese Bemühungen werden von manchen so stark verteufelt, als tauche der Föderalismus zum ersten Mal in der Welt auf und als stellten die Feinde des Iran und der Iraner:innen ihn als eine Art tödliches Virus oder eine neue Pest dar, die dazu dient, ihre historische Heimat in Stücke zu reißen.
In Wirklichkeit kann der Föderalismus oder der Konföderalismus, wenn er mit einem demokratischen Ansatz verfolgt wird, eine erzwungene Einheit aufbrechen und in eine echte Einheit und Pluralismus verwandeln. Er kann die Grundlagen für eine demokratische Einheit und das Zusammenleben verschiedener Völker stärken und die Rechte aller ethnischen Gruppen und Minderheiten gewährleisten.
Angesichts der bisherigen Aufzeichnungen und der aktuellen Perspektiven der Gesellschaften sowie der politisch-bürgerlichen Strömungen der nicht persischen Nationen und ihrer aktuellen Forderungen wird ein signifikanter Unterschied zwischen zwei Gruppen deutlich: Derjenigen, die das gegenwärtige Regierungssystem im Iran ablehnt; sie setzt sich aus politischen bürgerlichen Strömungen zusammen, die Veränderungen im bestehenden politischen System anstreben. Sie haben bestimmte Forderungen und Vorstellungen davon, wie das politische System im Iran reformiert oder umgestaltet werden sollte. Und dann gibt es diejenigen, die als Feinde des Systems betrachtet werden. Ihr Hauptziel ist nicht nur die Absetzung der aktuellen Regierung, sondern die Beseitigung des bestehenden politischen Systems als Ganzem.
In der Tat kann das, was die nicht persischen Nationen als Opposition und Widerstand seit Pahlavi I. bis heute gegen die Akzeptanz der Idee des Nationalstaates unternommen haben, als die Bemühungen der Gegner zum Sturz des politischen Systems im Iran kategorisiert werden und nicht als Feindschaft gegen die Regierung.
An den Namen der Parteien, Bewegungen und Proteste von zentralisierten Iraner:innen im letzten Jahrhundert erkennen wir grundlegende Unterschiede zu den Bewegungen anderer Nationen, die sich gegen das politische System wehren.
Im Bereich der politischen Geographie des Iran haben wir jedoch immer wieder das Aufkommen und die Erscheinung von nationalen Bewegungen erlebt, die nach Autonomie und der Sicherung nationaler Rechte strebten und einen Wandel des zentralisierten zu einem dezentralisierten politischen System forderten. Hierzu gehörten zum Beispiel die autonome Republik Chorasan, die Bildung einer provisorischen Regierung in Aserbaidschan, die Wälderbewegung (die die Bildung einer Räterepublik anstrebte), der Aufstand von Täbris (der zur Bildung der Freien Republik führte), die Nationale Union von Tabaristan, die lokale Regierung in Arabistan (Chuzestan), der Aufstand von Naseriyyeh (in Arabistan), der Aufstand von Ismail Agha Simko (in Kurdistan), die Bildung der Republik Aserbaidschan, die Bildung der Republik Kurdistan und viele weitere.
Vergleichen wir die Bewegungen und Parteien im Zentrum und in der Peripherie, erkennen wir deutlich ihre ideologischen Unterschiede und Ziele. Die zentralen Parteien sind, wie aus ihren Namen und Symbolen hervorgeht, zentralistisch ausgerichtet und in vielen Fällen rassistisch und leugnen bestimmte Aspekte (zum Beispiel geschichtliche Ereignisse). Im Gegensatz dazu sind die Parteien und Bewegungen in der Peripherie deutlich identitätsorientiert, demokratisch und streben nach einem dezentralisierten politischen System, sei es innerhalb oder außerhalb der aktuellen politischen Geographie des Iran.
Daher kann geschlussfolgert werden, dass die zentralen Parteien, obwohl sie im Exil sind und selbst gegen die vorherrschende Ideologie opponieren, Unterstützer des aktuellen Regierungssystems sind und im Wesentlichen eine Veränderung in der Regierungsführung anstreben. Im Gegensatz dazu setzen sich die Parteien in der Peripherie für ein politisches System ein, das nicht zentralisiert ist, und verfolgen die Erfüllung ihrer nationalen Forderungen.
Die Jin-Jiyan-Azadî-Bewegung und die Schlüsselrolle der nicht persischen Opposition
Die Jîna-Bewegung, auch bekannt als »Jin Jiyan Azadî« (Frau Leben Freiheit), weist erhebliche Unterschiede zu den früheren Aufständen im Zentrum des Iran und seiner Umgebung auf. Sie begann mit dem tragischen Tod von »Jîna Amini«, einer kurdischen Frau aus der Provinz Kurdistan, und dem kurdischen Slogan »Jin Jiyan Azadî«, der auch zum Manifest der Revolution wurde. Die Bewegung erstreckte sich über den gesamten Iran und sogar die Straßen Europas und erhielt erstmals breite internationale Unterstützung.
Obwohl die zentralisierten politischen Strömungen im Iran über Macht und Lobbyist:innen verfügen, sind sie nicht in der Lage, die Stimmen und Forderungen anderer Völker im Land zum Schweigen zu bringen oder zu verleugnen, und in einigen Fällen sind sie gezwungen, die Bewegung anzuerkennen.
Die nicht persischen Parteien, die im Iran verboten sind und größtenteils von der iranischen Regierung und auch Opposition als koordinierte, terroristische, separatistische und feindliche Gruppen betrachtet werden, haben nach Jahren des Kampfes Büros in Europa, den USA und sogar den Nachbarländern eröffnet. Sie verfügen über Medien, Beziehungen und manche sogar über die Unterstützung ausländischer Regierungen. Einige von ihnen haben auch militärische Zweige zur Verteidigung gegen Angriffe der iranischen Regierung. Im Gegensatz zu vielen zentralisierten Strömungen haben sie eine Volksbasis und historische Wurzeln im Kampf.
Während der Jin-Jiyan-Azadî-Revolution haben diese Parteien eine entschiedene und klare Position eingenommen und die Stimmen und Wünsche ihrer eigenen Völker mit Nachdruck vertreten. Ein Jahr nach Beginn dieser Revolution, die den Druck auf die Regierung und das System erhöht und sie in die Krise gestürzt hat, sollten iranische Menschen und Gruppen, wenn sie wirklich die Einheit des Landes erhalten wollen, die legitimen Rechte der Völker und deren Wunsch nach einem dezentralisierten (demokratisch-konföderalem) System im Iran anerkennen. Andernfalls könnten zukünftige Entwicklungen dazu führen, dass die territoriale Integrität des Iran trotz seiner historischen Bedeutung nicht mehr zu retten ist.
Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023
Um ihre Projekte ausweiten zu können, benötigt die Frauenstiftung der freien Frau in Syrien WJAS weiter Unterstützung
Sich gegenseitig stärken und Kraft geben…
Interview mit einer Frauendelegation nach ihrem Besuch der Stiftung der freien Frau in Syrien
Im September besuchte eine Frauendelegation aus Deutschland mehrere Projekte der Stiftung der freien Frau in Syrien (Weqfa Jina Azad a Sûrî ‒ WJAS) in Nord- und Ostsyrien. Im Anschluss an die Reise beantwortete sie dem Kurdistan Report einige Fragen zu den Arbeiten und Projekten der Stiftung.
Ihr seit gerade von einer Delegationsreise aus Nord- und Ostsyrien zurückgekommen. Wie kamt ihr dazu, insbesondere Projekte der Stiftung der freien Frau in Syrien zu besuchen?
Wir arbeiten im Europakomitee der Stiftung der freien Frau in Syrien und in dem Verein Kurdistanhilfe. Gemeinsam wollten wir uns die Entwicklung der Projekte vor Ort anschauen und in persönlichen Austausch mit den Frauen kommen. Das Europakomitee der Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, die Arbeit der Stiftung bekannt zu machen und die Projekte von hier aus zu unterstützen.
Könnt ihr etwas zu der Arbeit der Stiftung und ihren Projekten sagen, was sind die Ziele der Stiftung?
Die Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, Frauen auf verschiedenen Ebenen zu empowern, z.B. durch berufliche Ausbildungen, medizinische Versorgung und durch politisch-gesellschaftliche Bildungen. Die Stiftung wurde 2014 von kurdischen und arabischen Frauen in Qamişlo als eine von Frauen für Frauen unabhängige gemeinnützige Organisation gegründet. Inzwischen gibt es an 15 Orten Stiftungszentren und Gesundheitsstationen, u.a. auch in den befreiten arabischen Gebieten Raqqa, Tabqa und Minbic. Das Angebot der Stiftung ist für die Frauen kostenlos, um gerade ärmeren Frauen die Möglichkeit zur Weiterbildung und Entwicklung zu geben. Lediglich für die medizinische Versorgung in den Gesundheitsstationen wird ein kleiner symbolischer Betrag verlangt. Die Stiftung bietet berufliche Ausbildungen in Nähwerkstätten, Strickereien, im Friseurhandwerk und im medizinischen Bereich an, sowie zusätzlich Alphabetisierung in Kurdisch und Arabisch und Computerkurse. Im zweiten Schwerpunktbereich, der politisch-gesellschaftlichen Bildung, gibt es Seminare und Kurse zu Themen wie Geschichte der Frauen, Selbstbewusstsein, Selbstverteidigung, Frauen und Familie, Gewalt an Frauen, Feminizide, Gewalt innerhalb der Familie, Rhetorik, Kinderehe, Polygamie, Schwangerschaft und Geburt, Umgang mit Pubertären, Gefahren durch Drogen. Ein weiterer Bereich, der zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist die Naturheilkunde. Sie bietet die Möglichkeit traditionelles und lokales Wissen über Gesundheit, Heilpflanzen und Krankheiten in den Gesundheitsbereich mit einfließen zu lassen und von der Versorgung mit Medikamenten ein Stück weit unabhängiger zu werden.
Wird die Arbeit der Stiftung von der Bevölkerung angenommen und unterstützt?
In allen Orten konnten wir erfahren, dass die Angebote der Stiftung sehr gut angenommen werden. Die Kurse waren häufig übervoll. Oft erzählten uns die Frauen, dass die Nachfrage sehr groß sei und die Stiftung noch mehr Kurse anbieten könnte, wenn die räumlichen und finanziellen Gegebenheiten dies zulassen würden. Das war aber nicht von Anfang an so. Die Arbeit und Ziele der Stiftung mussten erst durch die Stiftungsfrauen in der Gesellschaft, also den Kommunen, Frauenräten, Nachbarschaften und Familien bekannt gemacht und ihre Ziele vermittelt werden. Heute sind die Stiftung und ihre Zentren bei Frauen und Familien anerkannt. Viele Frauen erfahren allein durch Weitererzählung von Freundinnen und Bekannten von der Stiftung und kommen zu Kursen sowie Ausbildungen in die Zentren. Die Stiftung ist für die Frauen insbesondere ein sozialer Ort, der ihnen Sicherheit, Ruhe und Vertrauen gibt. So haben uns Frauen immer wieder erzählt, dass sie an diesen Orten entspannen können, sich gegenseitig stärken, über ihre Erfahrungen sprechen und sie gemeinsam verarbeiten. Ihnen ist es wichtig zu lernen und etwas für sich, ihre Familie und die Gesellschaft zu tun. Darüber hinaus unterstützt die Stiftung, wenn Frauen, die beispielsweise eine Ausbildung gemacht haben, selbst zu Multiplikatorinnen werden. Die Stiftungsfrauen äußerten, dass es schön sei zu sehen, wie die Kursteilnehmerinnen lernen, dass sie etwas können, eine eigene Kraft haben und immer mehr an Selbstvertrauen und Stärke gewinnen. Allerdings ist es gerade in den arabischen befreiten Gebieten immer noch nicht gesellschaftlich selbstverständlich, dass Frauen sich frei außerhalb des Hauses bewegen und Bildungen besuchen. Dies waren häufig die Orte, an denen wir eine besonders große Energie und Willen zum Aufbruch verspürt haben. Schwierig für die Arbeiten ist es, dass viele Frauen in den Dörfern schwer zu erreichen sind, da sie keine Transportmöglichkeiten haben. Zwar bieten die Stiftungsfrauen auch in den Dörfern Kurse an, können aber die hohe Nachfrage aus räumlichen und Kapazitätsgründen nicht erfüllen. Gleichzeitig ist eine weitere Schwierigkeit für die Frauen, sich nach der Ausbildung selbständig zu machen. Die wirtschaftliche Situation ist sehr angespannt. Auch das Kooperativenmodell hat sich nicht in allen Fällen als durchführbar gezeigt, weil z.B. die Frauen das Anfangskapital für Maschinen und Material nicht aufbringen können und die Konkurrenz auf den Märkten durch die steigende Inflation und billige Importe zu stark ist. An dieser Stelle versucht die Stiftung bei der Suche nach Arbeitsstellen zu unterstützen.
Neben den Ausbildungen bietet die Stiftung an vielen Orten und mit der mobilen Klinik in Dêrik (Ein Gemeinschaftsprojekt mit der Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg ‒ Dêrik) auch eine grundlegende Gesundheitsversorgung für Frauen und Kinder an. Durch das Embargo, das über die selbstverwalteten Gebiete Nord- und Ostsyriens verhängt wurde, ist es zunehmend schwerer, an Medikamente und medizinische Ausrüstung heranzukommen. Deshalb kann derzeit nur eine Basisversorgung gewährleistet werden. Auch medizinisches Personal ist schwer zu finanzieren. Viele medizinische Fachkräfte wandern aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation aus oder arbeiten bei internationalen NGOs, da sie dort ein höheres Gehalt erhalten. Dies sorgt jedoch für Leerstellen und Fachkräftemangel in den medizinischen Institutionen vor Ort. Auch die Gesundheitsstationen der Stiftung stellt es vor Herausforderungen, da diese versuchen, die grundlegende Gesundheitsversorgung für Frauen und Kinder für möglichst viele zugänglich zu machen und vor allem den ärmeren zur Verfügung zu stellen.
Seit der ersten Oktoberwoche haben die Türkei und ihre Verbündeten ihre Angriffe auf Nord- und Ostsyrien massiv ausgeweitet. Wie war es, als ihr da wart? Konntet ihr die verschiedenen Städte, in denen die Stiftung ihre Projekte aufgebaut hat, besuchen?
Wir sind entsetzt über die Angriffe der Türkei auf die Infrastruktur und die Bevölkerung in den letzten Tagen. Das sind weitere Kriegsverbrechen. Schon vorher war die Versorgungslage der Bevölkerung schlecht, jetzt schrieben uns die Stiftungsfrauen: »Die meisten Orte sind von Wasser und Strom abgeschnitten. Gas ist nicht mehr erhältlich – ob die Bäckereien und andere wichtige Versorgungsbetriebe zurzeit weiterarbeiten können ist unklar.«
Wir hatten das Glück, dass wir in den Wochen vorher, trotz der auch da schon ständigen Bedrohung durch Drohnen- und anderer Angriffe, nahezu alle Projekte der Stiftung besuchen konnten. Für die Mitarbeiterinnen der Frauenstiftung ist ihre Arbeit schon lange eine existentielle Frage, denn sie müssen sich immer überlegen, ob sie eine Fahrt von einer Stadt in eine andere aufgrund der permanenten Bedrohung durch Drohnenangriffe der Türkei machen können oder nicht. Der Schmerz, aber auch die Wut gegen die anhaltenden Drohnenangriffe ist immer präsent, auch während unserer Delegation. Kurz bevor wir nach Rojava kamen, haben wir aus den Nachrichten über einen Drohnenangriff auf ein Auto des Frauensenders JinTV erfahren. Als wir auf unserer Reise JinTV besuchten, erzählten sie uns von dem Tag: Alle Kolleginnen kamen sofort ins Studio, als sie von dem Angriff erfuhren. Sie waren schockiert, aber auch klar in ihrer Haltung, »wir lassen uns dadurch nicht einschränken, wir machen gemeinsam weiter«. Sie erzählten uns, dass bei dem Angriff die Journalistin Delîla Egîd schwer verletzt und der langjährige Fahrer Necmedîn Sînan ‒ Vater von vier Kindern ‒ getötet wurde. Seine Tochter hat nun eine Ausbildung bei JinTV angefangen. In der gesamten Zeit unseres Besuches gab es allein drei Drohnenangriffe in der Region. Auf der Beerdigung von Eymen Çoli, einem Kämpfer der Sicherheitsbehörde Asayîş, der bei dem Drohnenangriff am 17. September zwischen Amûdê und Qamişlo ums Leben kam, sprachen uns einige Frauen an. Sie fragten uns wütend, warum niemand in Europa auf die Angriffe reagiert – warum alle zu dem Terror der Türkei schweigen. Bei dem selben Angriff auf das Auto starb auch der YPG-Kommandant Aslan Qamişlo. Als Menschen ihnen zur Hilfe eilten, gab es einen erneuten Angriff und acht Zivilpersonen wurden zum Teil schwer verletzt. Immer wieder sprachen uns Menschen darauf an, wie wichtig es ist, darauf aufmerksam zu machen, die Angriffe des türkischen Staates in die Öffentlichkeit zu tragen und die fast tagtäglichen Drohnenangriffe zu stoppen.
Ganz aktuell werden uns nun vor allem die Konsequenzen des Ignorierens der Drohnenangriffe durch die internationale Politik seit dem 5. Oktober 2023 erschreckend deutlich. Seit diesem Tag bombardiert die Türkei täglich und teilweise sogar nachts die gesamte zivile Infrastruktur Nord- und Ostsyriens. Elektrizitätswerke, Krankenhäuser, Ölraffinerien und Staudämme wurden gezielt angegriffen und zerstört, dabei gab es auch zivile Opfer. Und dennoch führen die Stiftungsfrauen ihre Arbeiten so gut es geht fort.
Gibt es etwas, was ihr besonders hervorheben wollt?
Wir haben viele starke Frauen kennengelernt, die anpacken, nicht jammern oder verzweifeln und wenn sie verzweifeln, sich doch immer wieder gegenseitig stärken und Kraft geben. Sie schöpfen Kraft und Energie aus der Gemeinschaft, lachen, weinen und teilen ihre Schmerzen miteinander. Wir haben gesehen, wie viel Leidenschaft und Herz sie in die Stiftung geben und wie viel ihnen dieser Ort gibt. Mit den Herausforderungen gewinnen sie an Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, spüren ihre eigene Kraft und dass sie etwas können. Das hat Auswirkungen auf ihre Familien und die gesamte Gesellschaft. Trotz der Krise, der Angriffe und des Spezialkrieges der Türkei, kämpfen sie unermüdlich für die Befreiung und Stärkung der Frauen und für eine andere Gesellschaft. Sehr beeindruckend ist auch die ständige Diskussion und Reflektion von Prozessen, der Mut zur Veränderung und der Wille zu Aushandlung, um gemeinsam den Weg hin zu einer basisdemokratischen Gesellschaft und zur Befreiung der Frau zu gehen.
Wie kann die Arbeit der Stiftung von hier unterstützt werden?
Durch Verbreiten und Bekanntmachen der Arbeiten der Stiftung, z.B. durch Flyer, Broschüren, Ausstellungen und vor allem durch Spenden für die Stiftungsprojekte, damit die Stiftungszentren weiter ausgebaut werden und mehr Frauen an den Ausbildungen, Seminaren und Kursen teilnehmen können.
Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023