Die Mär vom »grünen Kapitalismus«
»War das jetzt eine Rede gegen Windräder und Schienen auf einem Klimastreik?«
Victor, politischer Aktivist
Mehr Windräder, mehr Naturschutzgebiete, mehr Schienen? In diesem Kommentar geht es darum, wieso Klimaschutz nicht einfach ist1, wenn wir denn als einfach verstehen, weiter zu produzieren und zu konsumieren wie bisher, nur eben grün.
Dieser Tage, in denen allein in Libyen über 10.000 Menschen in Fluten starben, während Geflüchtete, die es aus dieser Hölle in die Hölle der Festung Europa schafften, in den Waldbränden ums Leben kamen, als sie sich zwischen den Bäumen Griechenlands vor der von hier aus mitfinanzierten Mörderpolizei versteckten, dieser Tage zeigt sich in Panama, wie absurd der wilde Konzern-Kapitalismus daherkommt, der für dieses Leid verantwortlich ist.
Vor einem der wichtigsten Handelsknoten der Weltwirtschaft, dem Panamakanal, stehen die großen Öl- und Containerschiffe im Stau. Aus dem Weltall können wir sehen, wie sie sich aneinanderreihen, denn der Kanal, gespeist nicht etwa aus dem Meer, sondern dem Süßwasser der umliegenden Seen, trocknet aus. Da stößt das System an seine Grenzen, könnte man meinen, da bremst es sich selbst aus.
Das Gegenteil ist der Fall. Statt den ausgetrockneten Handelsweg als Anlass zu nehmen, die Logik zu hinterfragen, die das historische Niedrigwasser durch die Klimakatastrophe verursacht, greifen Unternehmen und Regierungen einfach nach dem nächsten, noch nicht zerstörten Territorium, um einen Panamakanal auf Schienen zu errichten.
Der »interozeanische Korridor« …
In Südmexiko, im Isthmus von Tehuantepec, dort, wo der Pazifik und der Atlantik am nächsten beieinander liegen, entsteht der sogenannte »interozeanische Korridor«. Schienen und Straßen für Güterzüge und LKWs sollen die Häfen Salina Cruz und Coatzacoalcos miteinander verbinden.
Das ist nicht irgendeine Region, es geht um eines der Territorien mit der größten vorhandenen Biodiversität der Welt, ein Territorium, in dem mehrere indigene Völker diese Biodiversität seit Jahrhunderten verteidigen, eine Umwelt, auf der ihre Lebensweise und Kultur beruht.
Damit soll nun Schluss sein: Die Häfen werden ausgebaut, Flughäfen errichtet, und der Korridor ist nicht einfach nur ein Handelsweg:
Es geht nicht einfach um den Ersatz des Panamakanals, nein, die ihn zur Dürre geführte Wachstumsdoktrin wird noch weiter intensiviert: Der »interozeanische Korridor« wird ein Industriekorridor:
Öl- und Gasraffinerien, Fabriken, Monokulturen und offener Tagebau entstehen an den Gleisen, hier wird nicht nur transportiert, sondern gleichzeitig abgebaut. Hier entstehen regelrecht rechtsfreie Zonen für internationale Konzerne, auch aus Deutschland, die für Ökozid- und Ethnozid gleichzeitig mitverantwortlich sind:
Hier werden Ökosysteme und indigene Autonomie parallel zerstört, die Lagunen am Pazifik und die Fischerdörfer der Huave, die Berge und die Dörfer der Chontales, der Chimalapas Regenwald und die Dörfer der Zoque, die Mangroven und die Dörfer der Zapoteken.
… und sein verlängerter Arm
Bekannter als der »interozeanische Korridor« ist hierzulande der »Tren Maya«, der »Maya-Zug«. So schön klingt das, ein Zug für Touristen und die lokale Bevölkerung, von archäologischen Stätten zur Karibikküste und wieder zurück. In Wirklichkeit ist der »Maya-Zug« der verlängerte Arm des interozeanischen Korridors: Die auch hier von Straßen, Häfen und Flughäfen begleiteten Schienen sind direkt verbunden mit dem neuen Panamakanal, und öffnen so auch die Yucatán-Halbinsel für die kapitalistische Ausbeutung. Der Zug, vor allem aber, was er mit sich bringt, gefährdet den Maya-Regenwald, das größte Süßwasservorkommen des Landes im größten unterirdischen Flusssystem der Welt, die Mangroven, das zweitgrößte Korallenriff des Planeten und somit auch den Ozean.
Denn nun dringen Monokulturen, Fabriken und Massentourismus auch hier ein, in die bisher von ihnen geschützten Territorien der Maya, die durch das Projekt, dass zynischerweise ihren Namen trägt, eine brutale Transformation erfahren: Wo sie selbstverwaltet und von Subsistenzwirtschaft, also dem Anbauen zur Selbstversorgung, auf ihrem eigenen Land lebten, wird ihnen dieses Land gestohlen, während man ihnen »Fortschritt und Wohlstand« verspricht – sprich: Einen Arbeitsplatz. Und dieser kommt häufig auch. Als billige Lohnarbeiter in den Fabriken oder auf den Feldern, als Putzkraft im Hotel oder Restaurant der weißen Touristen, denen die Kultur der Maya als »tot« in alten Pyramiden präsentiert wird, während die lebenden Maya für eine koloniale Ausbeutung schuften.
Da das als Billigarbeitskraft nicht reicht, werden auch viele Migrant*innen in der Region festgehalten: Der interozeanische und der Maya »Zug« sind Projekte des mexikanischen Militärs, welche die Unternehmensinteressen schützen, den Widerstand bekämpfen und die aus dem Süden Fliehenden aufhalten. Viele von ihnen schuften mit auf den Baustellen des Zuges, der für sie eine Mauer ist.
Diese Schienen des »Maya-Zugs«, der nichts mit den Maya und wenig mit einem Zug zu tun hat, sind nicht grün.
Koloniale Windräder
Genauso wenig wie die riesigen Energieparks im »interozeanischen Korridor«: Vor allem kilometerweite Windparks zeigen hier, dass ein »grüner Kapitalismus« niemals nachhaltig, und vor allem nicht gerecht sein kann. Wir müssen immer fragen, von wem, für wen, und warum solche Energieanlagen entstehen:
In Mexiko werden indigene Menschen aus intakten Ökosystemen vertrieben, damit große internationale Konzerne Geld verdienen können mit einer angeblich »grünen« Stromgewinnung, die am Ende alles andere als umwelt- und klimaschonend ist:
Während die Menschen, die den Windparks in Oaxaca weichen müssen, die hohen Strompreise bereits jetzt nicht mehr zahlen können, soll ein Großteil der Energie direkt – und billig! – in die genannten Industrieparks und urbane Zentren fließen, in schmutzige Fabriken, Raffinerien und den »grünen« Transport abgebauter Mineralien und Palmöl oder Soja der Wüsten hinterlassenen Monokulturen.
Da ist dann kein Wald mehr, keine Mangroven, kein Wasser, keine Artenvielfalt, da ist keine indigene Kultur mehr, sondern Kartellgewalt und Spring-Break mäßige Partystädte für reiche Touris aus Ländern, die sich durch das Investieren in Oaxacas Windparks ihre Klimabilanz schönschreiben.
Diese Windräder sind nicht grün.
Überall »Korridore«
Und diese kolonialen Windräder stehen nicht nur in Südmexiko: Während wir alle die lächerlichen Debatten aus Bayern kennen, wo Abstands- und Sonderegeln den Ausbau der Windenergie verhindern, investieren die Münchener Stadtwerke gleichzeitig in riesige Windparks ganz im Norden Europas, in Sápmi, dem indigenen Land der Sami, welches sich über Schweden und Norwegen erstreckt.
Die traditionell Rentierhütenden, die hier Flüsse, Berge und Seen schützen, werden vertrieben, und wenn wir verstehen wollen wieso, müssen wir nur die Karte aus dem Süden Mexikos über die Karte Nordeuropas legen: Auch hier entsteht ein riesiger Handelskorridor von Küste zu Küste, begleitet durch Bergbauprojekte, Stahlproduktion, Holzwirtschaft – die Energie, welche für diese Ausbeutung notwendig ist, stammt auch aus riesigen Windparks, von denen die Menschen vor Ort nicht profitieren, und ohne die jene Ausbeutung von Mensch und Natur durch die Fabriken und Minen im bisher unberührten Ökosystem nicht stattfinden könnte.
Aber hey, auf diese Art und Weise entsteht dann der berühmte »grüne Stahl«, und hey, dann leben wir in einer Welt, in der Heckler und Koch »grüne, klimaneutrale Waffen« verkaufen kann.
Oder schauen wir nach Afrika: Auch in der von Marokko besetzten Westsahara werden die Indigenen für Windparks vertrieben, die auch hier Teil sind einer kolonialen Ausbeutung: Am Ende der Kette führt ein »grün« angetriebenes Lieferband, das längste der Welt, Phosphat an die Küste, wo es deutsche Reedereien entgegennehmen, um es in andere Industriekorridore zu transportieren, wo Phosphat für die Düngemittelproduktion großer Monokulturen gebraucht wird: Zielhafen Coatzacoalcos, am Golf von Mexiko. Wir sind zurück im Isthmus von Tehuantepec.
Ist das jetzt ein Kommentar gegen Windräder und Schienen, als Kommentar zur Klimabewegung? Nein! Es war eine Aufforderung, immer zu fragen, wer für was diese »grünen« Projekte vorantreibt.
Ist es, um ein zerstörerisches, auf ständigem Wachstum beruhendes Wirtschaftssystem einfach weiter betreiben zu können, nur grün angemalt? Oder ist es, um kollektiv und von unten gerechte Lebensbedingungen für Menschen im Einklang mit ihrer Umwelt zu organisieren?
Ein Tipp:
Wenn die Projekte von großen, multinationalen Konzernen und Banken vorgeschlagen und umgesetzt werden, können sie nicht nachhaltig sein. Wenn Staaten, die seit Jahrhunderten von der Ausbeutung des globalen Südens profitieren, plötzlich »30 Prozent der Erde unter Naturschutz« stellen wollen, heißt das meist, dass sie im Namen von Reservaten indigene Menschen aus ihren Territorien vertreiben, und plötzlich darf dann doch ein Hotel oder eine Mine im »Reservat« stehen. Wenn Regierungen, die sich selbst als »grün und progressiv« bezeichnen, weiter meinen, diese Art von Wohlstand, die ja nicht einmal uns, sondern Aktionäre und Aufsichtsräte reich macht, sei nicht nur zu halten, sondern zu vergrößern, können sie so grün und progressiv nicht sein.
Das haben uns compas aus Mexiko gesagt, compas aus Sápmi, compas aus der Westsahara.
80 Prozent der Biodiversität auf unserem Planeten findet sich in indigenen Territorien, sie leisten den wichtigsten Beitrag zum Kampf gegen Artensterben und Klimakatastrophe. Doch Unternehmen und Regierungen können ihre Klimabilanz aufhübschen, indem sie investieren in angeblich »grüne« Projekte, die diese Menschen aus diesen Territorien vertreiben.
Notbremse ziehen
Wir müssen nicht argumentieren, wo denn die »Ersatzenergie« herkommen soll, wenn wir Lützerath verteidigen, wir müssen nicht argumentieren, wo das Öl herkommen soll, wenn wir Pipelines zudrehen, wir müssen nicht argumentieren, welcher Antrieb es denn sein soll für den Individualverkehr Auto, wenn es nicht der Verbrenner ist – denn der Ersatz – ob Lithium oder Wasserstoff, bedeutet meist eine koloniale Zerstörung der letzten intakten Ökosysteme und Krieg gegen die, welche sie schützen, ob in Mexiko oder Kurdistan, wo sich die Angriffe auf die Freiheitsbewegungen intensiveren, nicht selten mit deutschen Waffen. Der »Ersatz«, ja völlig wahnsinnigerweise sogar das »noch mehr« bedeutet, dass täglich Menschen fallen im Versuch, diese Lügen-Diskurse zu durchbrechen.
Walter Benjamin, einer der Gefallenen, schrieb vor seinem Tod durch den Nationalsozialismus als Antwort auf Marx’ These von der Revolution als Lokomotive der Weltgeschichte: »Vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.«
Wir müssen anders leben wollen, und dabei und dafür nicht nur von indigenen Gemeinschaften lernen, sondern mit ihnen kämpfen: Sie leisten friedlichen Widerstand gegen Minenprojekte, sie blockieren die Strecke des interozeanischen Korridors…
Doch die Windparks, von denen ich sprach, werden mit SIEMENS Technik gebaut, die Deutsche Bahn, für welche unser Verkehrsministerium verantwortlich ist, beteiligt sich am Tren Maya und ähnlichen Megaprojekten auf der ganzen Welt, statt hier bei uns für einen günstigen Nah- und Fernverkehr abseits der Straße zu sorgen, deutsche Reedereien transportieren auf den blutigen Handelswegen, deutsche Waffen werden gegen die indigene Autonomie eingesetzt, unser Bundespräsident bittet in Mexiko um Wasserstoff, die GIZ oder die KfW Entwicklungsbank betreiben den erwähnten »Festungsnaturschutz«, und wir müssen nicht nur schauen, was sie gestern verbrochen haben und heute verbrechen, sondern auch, was sie für morgen planen:
Im Norden Brasiliens, in völlig intakten Wäldern an der Küste, wo die Nachfahren afrikanischer Sklaven leben, wird ein weiterer Korridor geplant: Hafen- und Schieneninfrastruktur für Soja, Mineralien, und grünem Wasserstoff. Mit dabei: Die Deutsche Bahn.
Dasselbe Muster, dieselben Akteure, da reichen bei uns nicht Bitten und Appelle, erst recht nicht in einer Zeit geopolitischer freidrehender Freihandels-Spiralen im gegenseitigen Überbieten zwischen China und den USA, der EU oder BRICS, die sich beim Ausverkauf der letzten Nischen überbieten wollen. Diese Geopolitik kann nicht links sein, links kann nur der kollektive Aufbau von unten sein, wir brauchen antikoloniale, antifaschistische Allianzen.
Es ist auch unsere, im Schatten der Konzernzentralen und den Büros der Verantwortlichen Lebende Pflicht, Teil der Notbremse zu sein – statt von Vereinigung von »Wohlstand und Klimaschutz« zu reden, während Lybien im Wasser versinkt, während in Panama das Wasser verschwindet, und während diejenigen, die bereits jetzt ihre Lebensgrundlage verloren haben, im Wasser ermordet werden.
Anmerkung: Dieser Text wurde ursprünglich und in leicht geänderter Form als Internationalistischer Redebeitrag aus dem Netz des Netzes der Rebellion verfasst und am 15.09. auf dem Fridays for Future-Klimastreik in Hannover gehalten. Der Text erschien bei anfdeutsch am 19.9.2023 und kann dort mit allen Quellenangaben nachgelesen werden (https://anfdeutsch.com/Oekologie/war-das-jetzt-eine-rede-gegen-windrader-und-schienen-auf-einem-klimastreik-39060#sdfootnote13anc).
1 Vgl. etwa den Slogan »Klimaschutz kann auch einfach sein« der Deutschen Bahn (https://dbmobil.de/klimaschutz) oder auch den Demospruch »Klima schützen ist nicht schwer« auf diversen Demonstrationen der dt. Klimabewegung.
Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023
Weltjugendkonferenz vom 3. bis 5. November in Paris
»Youth Writing History«
Vorbereitungskomitee der Weltjugendkonferenz
Wir befinden uns in Zeiten von Unruhe, Chaos und einer Krise des herrschenden Systems. Diese Krise zeigt sich in Form von Krieg, Gewalt und Zerstörung. Sie zeigt sich in der Versklavung der Natur, der Frauen, der Jugend und letztendlich des Lebens. Sie zeigt sich in Naturkatastrophen, Armut, Hunger und Krankheit.
Insbesondere wir als Jugend werden durch den Kapitalismus und seine Ideologie des Liberalismus tagtäglich angegriffen und es wird versucht, uns voneinander zu trennen und zu isolieren. Wir sollen nur noch an uns und unsere persönlichen Vorteile denken und uns abgetrennt von der Gesellschaft und von unserer Geschichte sehen. Auf diese Weise will das System verhindern, dass wir uns organisieren und aktiv für eine freie Welt kämpfen. In diesen Angriffen können wir auch die Angst des Systems sehen, die es vor der Radikalität und Kompromisslosigkeit der organisierten Kraft der Jugend hat. Denn die Jugend und im Besonderen junge Frauen sind die Zukunft und treibende Kraft einer Gesellschaft.
Wir als revolutionäre Jugend müssen uns in der Pflicht sehen, einen radikalen gesellschaftlichen Wandel hervorzurufen, um dieses von Krisen geprägte System zu zerschlagen und eine neue Welt aufbauend auf Frauenbefreiung, Basisdemokratie und Ökologie zu erschaffen. Die Krise des Systems ist eine globale Krise, deshalb müssen wir unsere lokalen und regionalen Organisationen jetzt auf eine globale Ebene tragen, da wir dieses System nur als vereinte Jugend überwinden können. Deshalb laden wir alle revolutionären Jugendlichen weltweit zur Weltjugendkonferenz in Paris ein. Wir wollen diskutieren, uns vernetzen, voneinander lernen und eine globale Jugendbewegung schaffen.
Geschichte revolutionärer Jugendkonferenzen
Dabei sehen wir die Weltjugendkonferenz dieses Jahr auch in der historischen Tradition anderer Jugendkonferenzen: Im November 1919 fand in Berlin eine Jugendkonferenz statt, auf der die Kommunistische Jugendinternationale – kurz KJI – gegründet wurde, welche organisatorisch mit der KomIntern (3. Internationale) verbunden war. Etwa 30 Delegierte aus Jugendorganisationen unterschiedlicher Länder kamen dort zusammen, um sich mit der Situation der Jugend zu beschäftigen und um ein Programm mit Leitsätzen zu erstellen. Diese Leitsätze beschreiben die Unterdrückung der Jugend wie folgt: »Die gesteigerte kapitalistische Ausbeutung der Arbeiterjugend zeigt sich in allen Fabriken, Werkstätten und in der Heimindustrie, die zu ihrer geistigen und körperlichen Entartung führen, dem Militarismus, dessen Lasten vor allem von der Arbeiterjugend getragen werden, der Gefahr der Durchdringung ihrer Reihen mit der bürgerlich-nationalistischen Ideologie durch Schule, Presse, bürgerliche Jugendvereine usw. sowie in den psychologischen Besonderheiten der Jugend.«
Die Aufgaben der KJI wurden damals als die »aktive Teilnahme am Kampfe zur Niederringung des Kapitalismus, der Kampf für die Reorganisation der Arbeit und die Bildung der Jugend nach neuen sozialistischen Grundsätzen« benannt. Damals definierten die Jugendlichen die Organisationsbeziehungen zur Kommunistischen Partei durch zwei Grundprinzipien: 1. Selbstständigkeit der Jugend und 2. enger Kontakt und gegenseitige Hilfe.
Obwohl die Jugend in allen vergangenen Revolutionen die größten Opfer gebracht hat, wurde ihre Identität nie wirklich ernst genommen und autonome Jugendorganisierung wurde oftmals von Älteren verhindert, die Selbstständigkeit der KJI wurde nur 2 Jahre nach ihrer Gründung durch die KomIntern abgeschafft.
Auch in der Geschichte vieler nationaler Befreiungsbewegungen können wir sehen, dass diese von jungen Menschen angeführt wurden und nur durch den risikobereiten und zähen Charakter der jungen Freiheitskämpfer:innen siegreich sein konnten. Bei den internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg zeigte sich, dass der Geist der Jugend schon immer internationalistisch und aufopferungsbereit war.
Die Jugendrevolution von 1968 zeichnete sich besonders durch ihren internationalistischen Charakter aus, damals begannen die Proteste an Unis in Frankreich und weiteten sich schnell wie ein Lauffeuer auf die ganze Welt aus. Diesen Geist beleben wir mit der Weltjugendkonferenz wieder und folgen dabei auch der Leitparole der 68er Jugendbewegung: »Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht du, wer sonst?«
Die diesjährige Konferenz ist auch die Fortführung der Jugendkonferenzen im Mittleren Osten 2015 in Amed und 2019 in Kobanê. Unter dem Slogan »Bi pêşengiya ciwanan ber bi Rojhilata Navîn a pir reng û demokratîk – Unter der Vorreiterschaft der Jugend zu einem vielfarbigen und demokratischen Mittleren Osten« sammelten sich über 300 Jugendliche aus 15 Ländern im Februar 2019 in Kobanê, der Stadt, in der der historische Sieg gegen den sogenannten »Islamischen Staat« stattfand. Sie setzte ein Zeichen gegen die Spaltungsversuche des Feindes und für eine vereinte Jugend des Mittleren Ostens.
Was ist das Ziel der Weltjugendkonferenz?
Wir wollen die Kämpfe der Vergangenheit analysieren und von ihnen lernen, um so mit einer klaren Perspektive und Haltung und voller Hoffnung und Selbstbewusstsein in die Zukunft blicken zu können.
Heute erkennen Jugendliche auf der ganzen Welt die Notwendigkeit, sich autonom zu organisieren und sich in ihrem radikalen, furchtlosen und nach Veränderung strebenden Charakter zu vereinen. Rêber Apo sagt »Wir haben jung angefangen und werden jung siegen« und zeigt uns damit, dass die Vorreiterschaft der Revolution bei der Jugend, insbesondere bei den jungen Frauen liegt. Wir müssen unsere Verantwortung sehen, die Samen dieser Revolution in den Herzen aller Menschen auf der Welt zu säen, sie zu pflegen und zu tief verwurzelten Bäumen wachsen zu lassen.
Dieses Jahr wollen wir unter dem Motto »Freiheit als Lebensprinzip aufbauen« über Themen wie die Autonomie der Jugend, Frauenbefreiung und die demokratische Gesellschaft diskutieren und den Grundstein für einen weltweiten Zusammenschluss revolutionärer Jugendlicher legen. Organisierte Jugendliche aus vielen verschiedenen Teilen der Welt werden ihre Perspektiven miteinander teilen, sich gegenseitig kennenlernen und verbünden im gemeinsamen Kampf gegen Kapitalismus, Imperialismus und Patriarchat.
Die Geschichte fließt weiter und diejenigen, die diese Geschichte schreiben, sind wir selbst. Wir müssen uns als aktive Kraft verstehen, denn unser Schicksal liegt in unserer Hand, wir werden unsere Zukunft selbst definieren. Unsere Lösung sind die Organisierung, der Kampf und die Schaffung eines freien Lebens.
Lasst uns deshalb vom 3. bis zum 5. November 2023 als revolutionäre Jugend in Paris zusammenkommen und den demokratischen Weltjugendkonföderalismus ausrufen!
500 Jahre Aufstieg und Niedergang der kapitalistischen Moderne
Eine Reihe der Initiative Demokratischer Konföderalismus (IDK)
Das Wissen über die Geschichte ist unsere Grundlage im Verständnis des heutigen historischen Zeitpunkts und lässt uns verstehen, wie eine radikal demokratische, geschlechterbefreite und ökologische Zukunft aufgebaut und verteidigt werden kann. Im Rahmen einer Artikelreihe im Kurdistan Report wollen wir aspektorientiert die letzten 500 Jahre der Angriffe auf die Gesellschaft darlegen und alte sowie neue Perspektiven auf das demokratische Potenzial in der deutschen Gesellschaft aufzeigen. Wir sind überzeugt, dass eine ganzheitliche historische Analyse Teil einer komplexen Veränderungsgrundlage sein wird, die uns in die Lage versetzt, die demokratische Moderne aufzubauen und damit der Zerstörung entgegenzuarbeiten, die die kapitalistische Moderne weltweit verursacht hat. In einer persönlichen Einführung beschreibt eine Freundin der »Initiative Demokratischer Konföderalismus« im ersten Artikel der Reihe einen Weg, uns der Geschichte in Europa anzunähern.
Die dörfliche Realität
Als ich 18 Jahre alt wurde, war es endlich so weit: Weg vom Land! Raus in die Stadt! Nichts wünschte ich mir sehnlicher als die Freiheit der Großstadt. Monatelang googelte ich nach Studienplätzen, aber suchte auch nach feministischen Aktivitäten, von denen ich Teil werden konnte. Damals war das für mich eine neue Welt, denn Politik bei uns im Dorf war erstens fast ausschließlich Männersache, zweitens nur geduldet für diejenigen, die schon über Generationen dort lebten, und drittens größtenteils eine Frage von Windrädern, die mich nicht interessierte.
Ich verschwendete keinen Gedanken daran, dass ich Familie und Freund:innen hinter mir lassen würde. Für mich gab es keine lang verwurzelten Verwandten im Ort, lediglich Eltern und ein Geschwisterkind, das ebenso die Flucht antreten würde. Die meisten meiner Freund:innen kannte ich aus der Schule, die eine halbe Stunde entfernt von meinem Wohnort lag. Der befreundete Rest war ein zusammengewürfelter Haufen aus Dorf-Kids, die sich trafen, um nachts in das Freibad einzubrechen, mit Schlüssel natürlich, weil einer von uns Sohn der Bürgermeisterin war, um zu Schlagerpartys zu gehen oder um »Hunderunden« zu drehen. Einige blieben für die Ausbildung im Dorf, andere gingen deswegen, aber die meisten würden bald wiederkommen. Ich meinte, darüber hinausgewachsen zu sein, mehr und anderes zu wollen.
In der Stadt angekommen fühlte ich mich erschlagen von dem großen Angebot. Staunend lief ich durch die Straßen und begutachtete jedes Plakat aufmerksam, da eine Lesung mit einem Berliner Autor, dort eine große Party und irgendwo anders eine Theateraufführung von Schüler:innen eines der lokalen Gymnasien; wie sollte ich mich bei dieser Angebotsvielfalt und ungestillter Neugier da entscheiden?
Nun wohne ich fast sechs Jahre hier, bin an den Stadtrand gezogen, um schneller auf den Wiesen und Feldern sein zu können. Viele meiner Freund:innen hier beschweren sich, so weit fahren zu müssen, doch ich genieße die kleine Radtour in die und aus der Innenstadt. Ich bin in einer Stadtteilinitiative aktiv, weil ich überzeugt bin, dass die Stärkung von gemeinschaftlichen Strukturen in der Nachbarschaft essentiell für eine radikaldemokratische Revolution ist.
Meinen Blick auf gesellschaftliche Prozesse verändert hat auch die Organisierung bei der »Initiative Demokratischer Konföderalismus«. »Wir«, die »IDK«, sind eine von der Freiheitsbewegung Kurdistans inspirierte Organisation, die deren drei Grundpfeiler Basisdemokratie, »Geschlechterbefreiung« und Ökologie im deutschen Raum verwirklichen möchte. Die Geschichten von internationalistischen und kurdischen Genoss:innen ließen mich aufhorchen: Dort komme man bei einem Besuch nicht um Essen und Trinken herum, dort sei es selbstverständlich, sich bei der Ernte zu unterstützen, dort habe der politische Kampf vor allem in Gesprächen mit Familien bestanden.
Die Beschäftigung mit dem Kampf in Kurdistan ließ mich meine bisherigen Bilder von Dörflichkeit und Entwicklung radikal hinterfragen, denn es waren die noch vorhandenen gemeinschaftlichen Strukturen, welche vor allem in Rojava das Fundament für die heutige Organisierung unter dem Paradigma des Demokratischen Konföderalismus legten.
Ich denke nun häufiger an »mein« Dorf zurück. Wie wäre es, dort wieder zu leben? In meinem Stadtteil wie im Dorf sind wir weit von der Selbstorganisation entfernt. Wie sollen wir auch selbst über unsere Leben entscheiden können, wenn die Wohnungen, in denen wir leben, einem großen Immobilienkonzern gehören und drei Viertel unserer Zeit dem Arbeitgeber? Viele feministische oder antirassistische Erfolge landen hierzulande auf den Plakaten von großen Modeketten oder in Form von Regenbogen-Fahnen vor Supermärkten. Auch ökologische Lebensstile werden durch veganen Wurstersatz und plastikfreie Zahnpasta unterwandert. Sozialökologische Landwirtschaft scheint eine gute Idee, doch fehlen in der Stadt und auf dem Land die Flächen. Eine Freundin, die in der Landwirtschaft arbeitet, erzählte mir kürzlich, wie schwierig es sei, an Boden zu gelangen, da dieser oftmals in den Händen von Großgrundbesitzern sei oder streng durch staatliche Vorgaben kontrolliert werde, Boden also, der der kapitalistischen Verwertungslogik unterliegt.
Deutschland ist nicht nur geographisch nicht Kurdistan, so viel steht fest. Und dennoch wurde ich stutzig bei den romantischen Erzählungen aus Kurdistan der Genoss:innen. Waren das nicht Erfahrungen, die ich zumindest teilweise im eigenen Stadtteil gemacht hatte? Kürzlich lud mich eine Nachbarin bei meinem ersten Besuch zu Baklava ein und ich nehme regelmäßig am durch Nachbarinnen getragenen Frauenfrühstück teil. Immer wieder denke ich auch an meine Kindheit und Jugend zurück. Ich erinnere mich an jährliche Dorffeste, bei denen wir Kinder die Erwachsenen mit Getränken und Essen ausstatteten und dafür ihren Geschichten lauschten. Ich erinnere mich an die Grundschule, in der ich von jedem Kind wusste, wo es wohnte und wer seine Eltern waren. Ich erinnere mich an Spielen auf der Straße und an Verstecke im Maisfeld – alles Überbleibsel eines funktionierenden Dorflebens.
Bei der IDK beschäftigen wir uns seit etwa zwei Jahren damit, diesen Fragen im gesellschaftlichen Leben näher auf den Grund zu gehen. Auslöser war dabei auch die Feststellung, dass sich 2025 die Niederschlagung der Aufstände der Bäuerinnen und Bauern zum 500sten Mal jähren werden. Das sind 500 Jahre, die Dörfern dieser Welt, ausgehend von Europa, große Zerstörung gebracht haben. Wir müssen diese Geschichte verstehen, um herauszufinden, wie wir eine Praxis für die Entwicklung einer demokratischen Moderne in Deutschland entfalten können.
Die Zerstörung der dörflich-agrarischen Gesellschaft
Was aber führte zu der Zerstörung der dörflich-agrarischen Gesellschaft in Europa? Die dörflich-agrarische Gesellschaft ist eine Analyse-Einheit, die wir von Abdullah Öcalan übernommen haben. Sie bezeichnet ein gemeinschaftliches Zusammenleben unter den Prämissen von politischer Selbstverwaltung, z. B. in Form von Versammlungen auf zentralen Plätzen, von Selbstversorgung und der Fähigkeit, sich selbst zu ernähren, sowie von moralischer und militärischer Selbstverteidigung vor Angriffen. Öcalan verortet die ersten Angriffe auf die dörflich-agrarische Gesellschaft vor 5000 Jahren. Damals entstanden das Patriarchat und die Klassengesellschaft. Dennoch blieben wichtige Elemente der dörflich-agrarischen Gesellschaft bestehen. Wir recherchierten in historischer und zeitgenössischer Literatur, lernten alte Lieder und gingen in den Austausch mit kulturellen Gruppen wie Friesen und Sorben. So lernten wir durch die Erzählungen der Alteingesessenen, unserer Eltern und Großeltern die Geschichten der Dörfer kennen, von den Bäuerinnen und Bauern und dem Land selbst, deren Geschichten unsere jetzige Landschaft gestaltet haben. Wir hörten auch die Geschichten der Städte, aus den Mündern von Migrant:innen, sahen sie aus den Augen des Proletariats. Von Anfang an war es uns wichtig zu verstehen, wie die historischen Ereignisse Aufstände von Bäuerinnen und Bauern, Kolonialisierung und Hexenverfolgung zusammenhängen. Es häuften sich die Erzählungen der Einhegungen von Land, von Bäuerinnen und Bauern, die für ihre alten Rechte auf Selbstverwaltung kämpften, von Hexenverfolgungen und von der gleichzeitigen Kolonialisierung der ganzen Welt. Alles das sind Geschichten von Entfremdung und Verleugnung auch der Städte als wichtige Orte der demokratischen Gesellschaft.
Immer deutlicher wurde, dass diese Geschichten unsere Gegenwart massiv prägen und dass eine Analyse unserer gesellschaftlichen Probleme nur vor dem Hintergrund der Ereignisse damals zu verstehen sind. So benannten wir diesen Prozess der Wahrheitssuche »500 Jahre Aufstieg und Niedergang der kapitalistischen Moderne«.
Was ist es also, das »mein« Dorf zu dem hat werden lassen, was es heute ist? Die Arbeitsgruppe arbeitete fünf Linien heraus, die einen Anfang bilden, um diese Frage zu beantworten. Zu diesen Linien gehören die Angriffe auf die dörflich-agrarische Gesellschaft, der Kolonialismus, die Angriffe auf die gesellschaftliche Stellung der Frau, die Verleugnung der Stadt und die Militarisierung, wobei die fünfte Linie auch im Hinblick auf die aktuelle Situation entstand, in der wir eine komplexe Militarisierung der Gesellschaft erleben.
Vor mehr als 500 Jahren
Wir müssen uns eine Gesellschaft vorstellen, die zu großen Teilen aus Bäuer:innen und Handwerker:innen besteht, die zunehmend unter der Herrschaft von Kirche und Adel ausgebeutet wird.
Die Verfügung über gemeinschaftliche Flächen, die Allmende, »beförderte nicht nur Formen kollektiver Entscheidungsfindung und Kooperation; sie war auch die materielle Grundlage, auf der Solidarität und Gesellschaftlichkeit der Bauern gediehen. Sämtliche Feste, Spiele und Versammlungen der bäuerlichen Gemeinschaft fanden auf der Allmende statt. Die soziale Funktion der Allmende war für Frauen besonders bedeutend. Sie verfügten über weniger Landtitel und geringere gesellschaftliche Macht und waren daher für ihre Subsistenz, Autonomie und ihren gesellschaftlichen Verkehr besonders stark auf die Allmende angewiesen.« (Federici 2022:90)
Es war genau diese Allmende, derer die Bäuerinnen und Bauern zu Beginn des 16. Jahrhunderts nach und nach bestohlen wurden. In diesem Zusammenhang findet das Wort »Einhegung« ihren Ursprung in jener zeitgenössischen Praxis, dass Adelige die Allmende-Flächen umzäunten und Dörfer sowie Schuppen abreißen ließen, um so die eingehegten Flächen in den Privatbesitz zu überführen. Zum wachsenden Unmut der Landbevölkerung trug bei, dass die immer höheren Abgaben in Geldleistungen umgewandelt wurden und somit viele Bäuerinnen und Bauern Schulden anhäuften, wodurch sich die soziale Spaltung enorm vergrößerte.
Zeitgleich erstarkte eine europaweite soziale Bewegung, die Häretiker:innen. Ihre Anhänger:innen organisierten sich dort, wo sie lebten, in losen Zusammenhängen und bauten ein Unterstützungsnetz auf. Auch viele Frauen waren Teil der Bewegung ebenso wie Teil der großen gesellschaftlichen Aufstände, vor allem in Süddeutschland, gegen die Einhegungen und die Etablierung der Lohnarbeit. Einen Höhepunkt dieser Aufstände bildete die Ausrufung der sogenannten »Memminger Artikel« im Jahre 1525. Dies waren 12 Artikel, in denen die Forderungen der demokratischen Gesellschaft nach ihrem alten Recht auf Selbstverwaltung, Selbstversorgung und Selbstverteidigung zusammengefasst wurden und die erstmalig durch den um 1450 durch Gutenberg entwickelten Buchdruck mannigfaltige Verbreitung fanden. Daraufhin schlossen sich der Adel, die Kirche und die stärker werdende Handelsklasse für die Niederschlagung der Aufstände zusammen. Dabei verloren nicht nur mehr als 130.000 Menschen ihr Leben, auch nahm man den Gemeinden ihr Recht auf eigene Rechtsprechung und verbot Feste und Zusammenkünfte sowie den Besitz von Waffen. Dieser systematische Angriff auf die dörflich-agrarische Gesellschaft beschreibt die erste Linie, eine andere stellt der Prozess der Kolonialisierung dar, die u. a. auf einer zentralisierten Militarisierung in Händen der Herrschenden basiert und dies nicht nur in Europa. Händler:innen und Regierende errichteten, beginnend etwa in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, weltweit erste Kolonien, um dort Ressourcen in ihren Besitz zu bringen und sich die Arbeitskraft versklavter Menschen anzueignen. Auf die Bündnisse zwischen europäischen Arbeiterinnen und Arbeitern und der indigenen Bevölkerung in den Kolonien reagierte man u. a. mit der Institutionalisierung von Rassismus, z. B. durch separierende Gesetze und Regelungen.
Die Etablierung der kapitalistischen Moderne ging mit einer systematischen Entmachtung und Rollenverengung von Frauen in der Art und Weise einher, dass Frauen vorrangig den Nachschub an Arbeitskräften und die stillschweigende Versorgung des Lohnproletariats sichern sollten. Frauen wurden um ihr Selbstbestimmungsrecht betrogen, indem man das Wissen um ihre Körper z. B. als »teuflisch« verurteilte. Eine weitere Linie bildet darauf basierend deshalb der Aspekt gezielter Hexenverfolgung, bei der im deutschsprachigen Raum mindestens 50.000 Menschen zumeist vor weltlichen Gerichten verurteilt und grausam getötet wurden.
Es waren damals Frauen, die die Bewegung in die Städte anführten, als man ihnen das Land und die Allmende nahm. Sie waren es auch, denen in den Städten die Organisierung in Zünften und die Ausübung der meisten Berufe verboten wurden. Männer fürchteten unter zunehmendem Konkurrenzdruck durch die aufsteigende Handelsklasse um ihre Stellung. Getrennt vom Land und von den Gemeinschaften wurden die Städte zu Orten der Armut, der Lohnarbeit und der Machtzentralisierung. Diese Entwicklungstendenz konnte vor allem durch einen Prozess der Industrialisierung und eine damit beginnende Entwicklung zum Industrialismus durchgesetzt werden. Die fünfte Linie ist daher die Verleugnung der Stadt.
Der Untergang des Dorfes
Mein Dorf soll hier etwas stellvertretend stehen für eine Entwicklung, die in vielen Regionen Deutschlands vor sich ging. Das Land als Lebensort verlor immens an Bedeutung, die Menschen fanden dort aus verschiedenen Gründen immer weniger Arbeit und vor allem Frauen hatten es schwer zu bestehen. Das dauert bis heute fort. Erst vor knapp 45 Jahren wurden die umliegenden Dörfer zu einer Gemeinde zusammengeschlossen und verloren damit noch weiter an Selbstverwaltungsrechten. Vor 15 Jahren verschärfte sich die Situation weiter dadurch, dass die nächstliegende Stadt Teil der Gemeinde wurde und sowohl die Verwaltung als auch der politische Fokus dorthin verlagert wurden. Aber auch in dem Stadtteil, wo ich wohne, sieht es nicht viel besser aus, denn das dritte Mal innerhalb von zehn Jahren wurden die großen Wohnblöcke verkauft. Und jedes Mal stieg die Miete trotz Kürzungen bei der Hausmeisterei, der Gartenpflege und der Ausstattung. Wie so oft wohnen hier besonders viele Menschen aus ehemals kolonialisierten Ländern.
Was wir aus der Geschichte der letzten 500 Jahre verstehen können, ist, dass die Trennung der Gesellschaft vom Land und dann die Trennung des Einzelnen von der Gesellschaft die Grundlage für die heutige Ausbeutung der Gesellschaft bilden.
Die Analyse des Aufstiegs der kapitalistischen Moderne vor 500 Jahren kann uns ein Werkzeug sein, unsere eigene Geschichte von Widerstand und Unterdrückung besser kennenzulernen. Was wir daraus machen, wie und was wir verändern wollen und müssen, um z. B. eine menschenwürdige und solidarische Gesellschaft zu gestalten, wird maßgeblich unser Denken, Planen und Handeln perspektivisch begleiten und bestimmen.
Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023
Chronologie des internationalen Komplotts gegen Abdullah Öcalan
Billige und verräterische Diener – rechtlich und moralisch verloren
Ömer Güneş, Rechtsanwalt, Heidelberg
»Es gibt keinen Staat, der unser Gewicht tragen kann, es gibt keinen Platz für uns auf der Erde.« (Abdullah Öcalan)
Die souveränen Mächte der 1990er Jahre trafen wichtige Entscheidungen für viele Veränderungen im Nahen Osten. Eine dieser Entscheidungen war die Auflösung der kurdischen Bewegung und folglich die Auslieferung ihres Anführers Abdullah Öcalan an die Türkei. Die USA und einige NATO-Länder erarbeiteten gemeinsam mit der Türkei einen Plan, der in die Tat umgesetzt wurde. Demnach sollte Herr Abdullah Öcalan in einem Akt der Piraterie entführt und an die Türkei ausgeliefert werden. Zu diesem Zweck forderte die syrische Regierung aufgrund des politischen Drucks und der Kriegsdrohungen der USA und der Türkei gegen Syrien Herrn Öcalan auf, das Land endgültig zu verlassen. Als dieser erkannte, dass die syrische Regierung diesem Druck nicht würde standhalten können, musste er Syrien verlassen. Nach Beratungen mit der kurdischen Bewegung war er der Meinung, dass Europa die beste Option sei, und wandte sich dorthin. Herr Öcalan wollte die kurdische Frage nach Europa tragen. Er bat dort um politisches Asyl, versuchte, einen politischen und rechtlichen Status zu erlangen. Die europäischen Staaten haben ihn jedoch unter der Verletzung nationalen und internationalen Rechts unrechtmäßig abgeschoben. Etliche Staaten beteiligten sich freiwillig oder unfreiwillig an der Deportation, an der Verletzung des Rechts und an der internationalen Verschwörung gegen Herrn Öcalan.
Über seine Auslieferung an die Türkei im Rahmen einer internationalen Verschwörung gäbe es viel zu sagen. Es gibt zahlreiche Erklärungen und Dokumente zu diesem Thema. Ich glaube jedoch, dass das Ausmaß der Verschwörung, die Rolle der an der Verschwörung beteiligten Staaten und die Verletzung des Völkerrechts anhand der Chronologie der Entführung Herrn Öcalans besser verstanden werden. Daher werde ich die Chronologie des Komplotts darlegen und Ihnen die Interpretation überlassen.
9. Oktober 1998: Abreise aus Damaskus
Abdullah Öcalan, der Syrien aufgrund des politischen und militärischen Drucks der USA und der Türkei verlassen musste, erreichte am 9. Oktober 1998 per Flugzeug aus Damaskus den Athener Flughafen Hellinikon. Keine:r der Abgeordneten, die Öcalan eingeladen hatten, kam zum Flughafen, sie ließen ihn also allein. Hier wurde er vom griechischen Geheimdienst EYP empfangen. Die Regierung hatte dessen Leiter, General Stavrakakis, und den EYP-Offizier Savvas Kalenderidis beauftragt, Öcalan und die ihn betreffenden Entwicklungen zu verfolgen. Die beiden überbrachten ihm am Flughafen die Botschaft der griechischen Regierung, derzufolge er Griechenland sofort verlassen müsse, die Regierung werde ihn nicht in ihrem Land aufnehmen.
9. Oktober - 12. November 1998: Moskauer Tage
9. Oktober: Nach 6 Stunden Wartezeit am Flughafen flog Öcalan nach Moskau. Dort wohnte er im Haus des Vorsitzenden der Liberalen Partei, Wladimir Schirinowski. Es begannen Verhandlungen zwischen der kurdischen Seite und Russland über Öcalans politischen Status. Fünf Tage später teilte Russland ihm und seinen Freund:innen mit, dass er das Land verlassen müsse. Aus diesem Grund war er gezwungen, seinen Aufenthaltsort zu verlegen, und wechselte in ein Haus in der Stadt Odinzowo außerhalb von Moskau. Alexej Mitrofanow, der Vorsitzende des geopolitischen Ausschusses der Duma, der Öcalan zum politischen Status verholfen hatte, legte der Duma-Versammlung einen Vorschlag vor.
Am 4. November wurde dieser Antrag angenommen und Öcalan wurde politisches Asyl gewährt. Der russische Geheimdienst verfolgte ihn jedoch genau und fand heraus, wo er sich befand. Daher begann Öcalan, sich im Haus von Mitrofanow aufzuhalten. Während dieser Zeit reiste Wladimir Schirinowski in die Türkei und knüpfte dort enge Beziehungen. Der Druck der USA, Kreditgespräche mit dem IWF, politische Zugeständnisse der Türkei – die russische Führung zwang Öcalan, trotz der Asyl-Entscheidung der Duma Russland zu verlassen.
6. November: Der stellvertretende russische Außenminister Alexander Awdejew erklärte bei einem Treffen mit dem Außenministerium in der Türkei, dass Öcalan aus Russland ausgewiesen werde.
9. November: Die kurdische Vertretung, die daraufhin mit der italienischen Regierung verhandelte, erhielt eine positive Antwort und somit beschloss Öcalan, nach Italien zu gehen.
Am 12. November verließen Öcalan, der kurdische Vertreter Ahmet Yaman und ein Abgeordneter aus Italien Moskau und landeten auf dem Flughafen Leonardo da Vinci in Rom.
12. November 1998 - 16. Januar 1999:
Versuche zur Lösung der kurdischen Frage in Rom
Die italienische Regierung einschließlich des Ministerpräsidenten bemühten sich während Öcalans Aufenthalt in Italien um seinen politischen und rechtlichen Status, und darüber und über die Lösung der kurdischen Frage nahmen sie Verhandlungen mit diversen europäischen Ländern auf. Öcalan wiederum beantragte vor Gericht einen politischen Status in Italien. Kurd:innen aus allen europäischen Ländern kamen nach Rom, um ihn zu unterstützen.
20. November: Das Berufungsgericht in Rom lehnte den Antrag der Türkei auf Auslieferung Öcalans wegen der Todesstrafe in der Türkei und Öcalans politischer und ethnischer Identität ab.
Am selben Tag äußerte sich die US-Außenministerin Madeleine Albright: »Öcalan ist in der Tat ein Problem. Wir wollen seine Auslieferung (…) Wir haben gesagt, dass wir die Türkei dabei bevorzugen werden.«
Die deutsche Regierung wollte ihre Interessen gegenüber der Türkei nicht für die Kurd:innen aufs Spiel setzen. Sie hatte aufgrund eines alten Ermittlungsverfahrens einen Haftbefehl gegen Öcalan erlassen. Dieser Beschluss war zwar negativ zu werten, erschwerte aber eine Auslieferung Öcalans an die Türkei oder schloss sie gar aus. Aufgrund des politischen Drucks der USA und der Türkei traf die deutsche Regierung jedoch die politische Entscheidung, die Haftanordnung aufzuheben.
Der italienische Ministerpräsident Massimo D’Alema besuchte Deutschland, Frankreich, Großbritannien und einige andere EU-Staaten und unternahm Versuche, Öcalan und die kurdische Frage auf eine demokratische Plattform zu bringen.
Öcalan schrieb Briefe an viele Einzelpersonen, Organisationen und Staaten, um dafür zu sorgen, dass die kurdische Frage in Europa diskutiert wird. Er selbst stellte der Öffentlichkeit ein Sieben-Punkte-Lösungspaket vor. Er stellte die kurdische Frage auf einer internationalen Plattform zur Diskussion und lud Europa ein, sie zu lösen. Obwohl einige Regierungen und Staaten positiv reagierten, blieben D’Alemas politische Initiativen auf Druck der USA erfolglos. Aufgrund dieses politischen Drucks und des innenpolitischen Gleichgewichts in Italien wollte die italienische Regierung nicht, dass Öcalan länger in Italien bleibt. Öcalan und kurdische Funktionär:innen bewerteten die Situation wiederholt, die Bedingungen für den weiteren Aufenthalt wurden jedoch immer schwieriger, und er musste Italien verlassen.
16. Januar 1999: Öcalan und einige Mitglieder der kurdischen Delegation (Ahmet Yaman, Mecit Memocan) flogen von Rom nach Moskau. Auf dem Flughafen Gorki wurde Öcalan von den kurdischen Vertreter:innen in Russland, einigen Parlamentsabgeordneten und Polizeibeamt:innen empfangen.
In Moskau und Minsk
18. Januar: Auf Anweisung des russischen Premierministers Primakow trafen sich einige russische Sicherheitsbeamt:innen mit Öcalan. Dabei teilten sie ihm mit, dass die Regierung ihm nicht erlaube, in Russland zu bleiben, dass sie nicht bereit sei, ihn aufzunehmen, und dass er Russland innerhalb von drei Tagen verlassen müsse.
Der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit traf in Ankara mit dem russischen Botschafter Alexander Lebedew zusammen und erhielt die Zusicherung, dass Öcalan nach seiner Festnahme sofort abgeschoben werden würde.
In dieser Zeit wurde Öcalan klar, dass er in keinem Land bleiben konnte, und er beschloss, nach Kurdistan zurückzukehren.
20. Januar: Die russischen Behörden setzten Öcalan in ein Flugzeug, erlaubten ihm jedoch nicht, über Armenien nach Kurdistan zurückzukehren. Sie brachten ihn gegen seinen Willen nach Duschanbe, der Hauptstadt von Tadschikistan. Etwa eine Woche lang wurde er dort in Isolationshaft gehalten.
27. Januar: Auf sein Drängen und seine Reaktion hin wurde Öcalan per Flugzeug nach Moskau zurück- und dort zwei Tage lang in einem Haus untergebracht. Um eine Lösung für seine politische Situation zu finden, wendeten sich die kurdischen Vertreter:innen an Antonis Naxakis, den ehemaligen Admiral der griechischen Marine. Naxakis versuchte, die Abgeordneten und anderen Politiker:innen zu erreichen, die Öcalan zuvor eingeladen hatten, jedoch ohne Erfolg.
29. Januar: Nach Konsultationen reiste eine kurdische Delegation über St. Petersburg, flog dann mit einem griechischen Flugzeug nach Griechenland. Am selben Tag berichtete die russische Wirtschaftszeitung Kommersant über den Grund für die Ausweisung Öcalans aus Russland: dass auf dem Weltwirtschaftsforum im Schweizer Davos bekannt gegeben worden sei, dass sich Russland, die USA und die Türkei auf das Geschäft »Öcalan gegen Öl« geeinigt hätten. Tatsächlich erklärte Öcalan später bei der Bewertung dieser Angelegenheit, dass »Russland an dieser Verschwörung beteiligt war, um einen Kredit vom IWF zu erhalten«.
31. Januar: Öcalan flog von Athen nach Minsk, begleitet von Savvas Kalenderidis, seinem Anwalt Victor Poppe, einem Geheimdienstmitarbeiter namens Michalis Covaras, einem zypriotischen Geschäftsmann und Melsa Deniz, einer kurdischen Vertreterin, und sie warteten auf die Ankunft eines russischen Flugzeugs, das sie in die Niederlande bringen sollte. Es kam nicht, sie warteten stundenlang bei minus 19 Grad Celsius. In der Zwischenzeit drängte Stavrakakis, der Leiter des EYP, die griechischen Beamt:innen, Öcalan dort zu lassen und nach Griechenland zurückzukehren. Außerdem erklärte die niederländische Regierung offiziell, sie wolle Öcalan nicht haben, und sperrte den Luftraum für die Flugzeuge, die für Öcalan eingesetzt wurden.
1. und 2. Februar: Öcalan wurde etwa 12 Stunden lang auf dem Flughafen von Minsk festgehalten und kehrte am nächsten Tag, dem 1. Februar, nach Athen zurück. Er wurde mit seiner Begleitung von Stavrakakis und einigen anderen Geheimdienstangehörigen empfangen. Stavrakakis forderte ihn dringend auf, Griechenland zu verlassen und sich nach Libyen zu begeben. Sie lehnten Öcalans Vorschlag ab, nach Europa zu gehen. Öcalan bat sie um ein paar Tage Aufschub, bis er einen passenden Ausweg gefunden habe. Sie gewährten ihm zunächst zwei Tage, reduzierten diese Frist dann aber auf einen Tag. Daraufhin schlug die griechische Delegation Südafrika als Option vor und bat Öcalan, auf der Insel Korfu zu warten, bis sie eine Lösung gefunden hätten. Öcalan, Melsa Deniz und İbrahim Ayaz, die ihn begleiteten, Savvas Kalenderidis, ein weiterer Geheimdienstler Covaras und ein zypriotischer Geschäftsmann flogen nach Korfu.
Auf Korfu
In der Zwischenzeit wurden alle vom griechischen Geheimdienst auf Anregung Öcalans vorbereiteten Möglichkeiten, nach Italien oder in andere europäische Länder zu reisen, von der griechischen Regierung abgelehnt.
Während Öcalan sich auf Korfu aufhielt, berichtete der griechische Außenminister Pangalos dem US-Botschafter in Griechenland, Nicholas Burns, über die Situation Öcalans. Burns bat ihn, Öcalan nicht in Griechenland zu beherbergen, sondern ihn nach Kenia zu bringen und sich dann in nichts einzumischen.
Auf Korfu bot die griechische Seite Öcalan an, bis zum Abschluss der Bemühungen um Südafrika in einem anderen Land Afrikas zu bleiben, d. h. in einem Drittland. Öcalan und die kurdische Delegation reagierten heftig auf diesen Vorschlag. Daraufhin wurde Öcalan in einem Telefonat mit dem EYP mitgeteilt, dass ihm eine »Staatsgarantie« gewährt und er in der griechischen Botschaft in dem Drittland »unter Staatsgarantie« untergebracht werden würde. Öcalan und die kurdische Delegation akzeptierten diesen Vorschlag nur widerwillig, da sie keine andere Wahl hatten. Vor dem Abflug wurde das Flugzeug jedoch aus unbekannter Ursache in einen Unfall verwickelt und sie starteten von einer anderen Insel.
In Kenia
2. Februar: Das Flugzeug mit Öcalan an Bord landete auf dem Flughafen Jomo Kenyatta in der Nähe von Nairobi, der Hauptstadt Kenias. Öcalan und die Kurd:innen, die ihn begleiteten, waren sehr überrascht darüber. Auf die Frage »Warum Kenia?« hieß es, die internationale Verschwörung stehe kurz vor einer Beendigung.
3. Februar: Am 3. Februar begannen die US-amerikanischen und kenianischen Geheimdienstagent:innen mit der physischen Überwachung Öcalans. Der zypriotische Geschäftsmann verließ Nairobi und kehrte in sein Land zurück, während der griechische Geheimdienstoffizier Savvas Kalenderidis, der nach Südafrika fliegen wollte, am Flughafen ohne jegliche Begründung aufgehalten wurde.
4. Februar: Der CIA-Vertreter in Ankara teilte der Türkei mit, dass sie Öcalan in Nairobi abholen könnten. Der türkische Präsident, der Ministerpräsident, der Generalstabschef und der Unterstaatssekretär des MIT hielten eine Dringlichkeitssitzung ab und begannen mit den Vorbereitungen.
5. Februar: Die griechische Botschaft in Nairobi bekam die Anweisung aus Athen, Öcalan aus der Vertretung zu entfernen. Botschafter Kostoulas und sein Stellvertreter beschlossen, Öcalan in das UN-Gebäude in Nairobi zu bringen und dort für ihn Asyl zu beantragen. Ihr Entschluss wurde jedoch von der griechischen Regierung abgelehnt.
6.-12. Februar: Griechische Beamt:innen begannen, politischen und psychologischen Druck auf Öcalan und sein kurdisches Team auszuüben, damit sie die Botschaft verlassen. Die Dosis dieses Drucks wurde von Tag zu Tag erhöht. Vorschläge, nach Tansania oder Somalia zu gehen, wurden von Öcalan entschieden abgelehnt. Er machte Gegenvorschläge, aber als er sie nicht dazu bringen konnte, eine seiner Alternativen zu akzeptieren, reichte er am 12. Februar einen Asylantrag bei der griechischen Botschaft ein und wartete auf die Ankunft von Anwält:innen aus Europa. Der Asylantrag wurde jedoch nicht bearbeitet. Etwa zu dieser Zeit ersuchte der US-Geheimdienst die ugandischen Behörden, die heimliche Ankunft eines Flugzeugs auf dem internationalen Flughafen Entebbe in der Nähe der Hauptstadt Kampala zu ermöglichen und die Namen und Pässe der Passagier:innen nicht zu überprüfen. Auf Anweisung des ugandischen Präsidenten wurde der Bitte entsprochen. Dieser Ort wurde als Basis für die Verschleppung von Öcalan aus Nairobi genutzt. Das Flugzeug aus der Türkei wartete hier. Die griechische Regierung gab der Botschaft strikte Anweisungen, Öcalan aus der Botschaft zu entfernen.
12.–14. Februar: Öcalan beschloss nach Verhandlungen mit seinen Freund:innen und seinem griechischen Anwalt, die Botschaft nicht ohne Garantien und Sicherheit für sein Leben zu verlassen. Er verlangte vom Botschafter, dass internationales Recht auf ihn angewendet und er entsprechend geschützt und nicht an die Türkei ausgeliefert werden würde. Er lehnte auch den Vorschlag des Botschafters auf Kirchenasyl aus Sicherheitsgründen ab. Die griechischen Minister:innen für Inneres, Äußeres und öffentliche Ordnung informierten Botschafter Kostoulas und den Geheimdienstmitarbeiter Kalenderidis über ihre gemeinsame Entscheidung, Öcalan mit physischer Gewalt aus der Botschaft zu entfernen. Sie teilten auch mit, dass zu diesem Zweck vier Polizeibeamt:innen aus Athen kommen würden.
Öcalan richtete am 13. Februar wichtige Erklärungen an die europäische Gemeinschaft und die Staaten, die demokratischen Gruppen und die kurdische Öffentlichkeit und forderte sie auf, Maßnahmen zu ergreifen, um die Verschwörung zu verhindern.
In der Zwischenzeit schaltete sich der italienische Rechtsanwalt Giuliano Pisapia, der Öcalan besuchte, ein und versuchte, ihn an die italienische Botschaft ausliefern zu lassen. Es gelang ihm jedoch nicht, die griechische Sicherheitsbarriere zu überwinden.
In dieser Phase intervenierte der kenianische Sicherheitsdienst und bedrohte Öcalan und dessen Begleitung, indem er sie ständig bedrängte, Nairobi und Kenia zu verlassen, da sie sonst gewaltsam entfernt werden würden.
15. Februar: Unter dem gemeinsamen Druck der kenianischen Sicherheitskräfte und der griechischen Behörden teilten Öcalan und seine Begleitung den Behörden mit, dass sie die Botschaft nur verlassen könnten, wenn sie in ein europäisches Land ausreisen dürften. Beide Seiten behaupteten, ihn in die Niederlande bringen zu können. Folglich wurden Öcalan und seine Freund:innen aus der Botschaft gedrängt und auf verbrecherische Art und Weise von einander getrennt.
Der Botschafter, der Öcalan versprochen hatte, ihn zu begleiten, stieg nicht in das Auto ein. Die kenianischen Sicherheitskräfte nahmen Öcalan den griechischen Behörden ab und übergaben ihn den Behörden im Flugzeug in die Türkei, das am Flughafen wartete.
Nach den Worten des an der Verschwörung beteiligten griechischen Geheimdienstlers Kalenderidis hat Griechenland die Kurd:innen verraten. Die Bemerkung von Antonis Naxakis bringt die Rolle des griechischen Staates bei der Entführung Öcalans auf tragische Weise zum Ausdruck: »Die Amerikaner:innen waren auf der Suche nach einem billigen Diener. Griech:innen oder Türk:innen? Leider muss ich zu meiner Schande sagen, dass wir uns als billiger und verräterischer erwiesen haben. Natürlich hat nicht nur der griechische Staat in rechtlicher und moralischer Hinsicht verloren, sondern auch Italien, Deutschland, Frankreich, Belgien und viele andere Staaten.«
Öcalans langfristige Reaktion auf die internationale Verschwörung gegen ihn bestand darin, wichtige Theorien über alternative demokratische Gesellschaftsmodelle für die Kurd:innen und den Nahen Osten anzubieten. Er verkörpert heute eine eher philosophische Version der historischen Rollen von Mandela und Gandhi. Während er mit den Büchern, die er im İmralı-Gefängnis geschrieben hat, alle zur demokratischen Lösung der kurdischen Frage einlädt, stellt er auch die universellen Prinzipien der Koexistenz auf einer philosophischen und sozialen Verhandlungsbasis vor.
Quellen:
Cemal Uçar, Die Nägel des Kreuzes, Warum wurde Abdullah Öcalan entführt? Anatomie einer internationalen Verschwörung, Mezopotamya Yayınları 2021.
Abdullah Öcalan, Manifest der demokratischen Zivilisation, 5. Band, Die kurdische Frage und die Lösung der demokratischen Nation, Die Verteidigung der Kurden, die mitten in einem kulturellen Genozid stehen, Aram Yayinlari 2011; noch nicht auf deutsch erschienen.
Untersuchungsberichte des griechischen Parlaments.
https://firatnews.com/guncel/uluslararasi-komplonun-perde-arkasi-ii-152026 (ANF | Hinter den Kulissen des internationalen Komplotts – I–II).
https://guncelgercek.wordpress.com/2010/10/09/kalenderidisin-ocalan-ile-17-gunu/ (Dokumente des Öcalan-Prozesses in Athen).
Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023
Das PKK-Verbot zum 30. Jahrestag überdenken
Das PKK-Verbot als Angriff auf die kollektive Identität der Kurd:innen
Mahmut Şakar, Rechtsanwalt, stellv. Vorsitzender von MAF-DAD e.V. – Verein für Demokratie und internationales Recht
Im November 2023 jährt sich zum 30. Mal der Tag, an dem das deutsche Innenministerium ein umfangreiches Betätigungsverbot für die PKK erließ und sogleich vollstreckte. Auch wenn wir den 26. November 1993 symbolisch als Ausgangspunkt für die Kriminalisierungspolitik gegenüber den Kurd:innen nehmen, so zeigt ein Blick auf die Düsseldorfer Prozesse (begannen ab 1989) und die bis in das Jahr 1986 zurückreichende Repressions- und Bestrafungspraxis, dass wir es in Wirklichkeit mit einer bis zu 40 Jahre alten rechtlichen und politischen Ausrichtung zu tun haben.
Bereits das Datum ist aussagekräftig: Die verbotsorientierte, aggressive Haltung Deutschlands gegenüber dem jahrzehntelangen politischen und sozialen Kampf des kurdischen Volkes hat sich parallel zur modernen Geschichte der kurdischen Frage entwickelt. Die kurdische Frage meint die grundlegendsten menschlichen, existentiellen und soziokulturellen Forderungen des kurdischen Volkes, denen in der Geschichte immer wieder mit den Praktiken der Massaker, der Migration und der ethnischen Säuberungen begegnet wurde.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit den sogenannten kurdischen Aufständen zwischen 1925 und 1938, kämpfte das kurdische Volk gegen seine brutale Unterdrückung durch den türkischen Staat. Nach einer Übergangsphase begann die kurdische Frage ab Mitte der 70er Jahre mit dem Aufkommen der nationalen Befreiungskämpfe und dem Wind der 68er Jugendbewegung, wenn auch schwach, wieder aufzublühen. Der faschistische (türkische) Militärputsch von 1980 versuchte dieses Wiederaufleben von Anfang an durch Folter, äußerste Brutalität und unmenschliche Praktiken, vor allem im Gefängnis von Amed (tr. Diyarbakır), im Keim zu ersticken. Mit dem Beginn des bewaffneten Widerstandes der PKK am 15. August 1984 erreichte der Freiheitskampf des kurdischen Volkes jedoch ein Stadium, das bis heute bestimmend ist. Erst ab diesem Zeitpunkt wurden die kurdische Existenz, ihre grundlegenden Forderungen und ihr Streben nach der Anerkennung von Rechten und Gerechtigkeit international sichtbar. Der existenziell geführte Kampf der Kurd:innen gegen die Verleugnung der kurdischen Identität, die Assimilation durch den türkischen Staat und die Brutalität der Vergangenheit wurde unumgänglich. Diese Entwicklung und die innenpolitische Neuausrichtung gegen die PKK veranlassten die Türkei, den Umgang mit der PKK in den Mittelpunkt ihrer internationalen Beziehungen zu stellen. Seitdem hat sich insbesondere die NATO (das nordatlantische Verteidigungsbündnis der North Atlantic Treaty Organization) in der kurdischen Frage aktiv auf die Seite der Türkei gestellt. Deutschland war das erste und prominenteste Land, das sich im Namen der NATO den Forderungen des kurdischen Volkes nach der Gewähr von Grundrechten und Freiheiten widersetzte.
Die Gründe dafür können Gegenstand einer anderen Diskussion sein. Vor allem aber ist der 40-jährige juristische und politische Orientierungsprozess Ausdruck der Haltung des deutschen Staates gegenüber den Forderungen des kurdischen Volkes nach einer Sichtbarmachung der kurdischen Frage.
Die Politik des Verbotes zur Unterstützung des Völkermordes an den Kurd:innen
Tatsächlich hat sich diese Synchronität in der Umsetzung der deutschen Kriminalisierungspolitik fortgesetzt. Bei allen wichtigen historischen Ereignissen des kurdischen Volkes hat Deutschland seine Verbotspolitik zum Nachteil der kurdischen Gesellschaft betrieben. Dafür gibt es viele Beispiele. Schauen wir uns zunächst die Bedingungen an, unter denen der Verbotsbeschluss vom 26. November 1993 umgesetzt wurde. Es ist klar, dass wir dieses Thema nicht nur als eine innerdeutsche Angelegenheit betrachten können.
Das Jahr 1989 war das Jahr der ersten massiven Volksaufstände und Mobilisierungen, die in der kurdischen Politik als Serhildan von Botan bekannt wurden. Diese Volksaufstände, die sich nach und nach über ganz Kurdistan ausbreiteten, stellten ein Novum in der Geschichte Kurdistans dar. Denn sie wuchsen und entwickelten sich unter der Führung derjenigen, die den untersten Klassen der Gesellschaft angehörten, unter der Führung der am meisten Unterdrückten und insbesondere unter der Führung der Frauen. Sie breiteten sich weit über nationale Grenzen hinaus aus. Zum ersten Mal in der Geschichte stießen die Forderungen nach Rechten und Freiheit auf ein so breites Interesse und wurden von der gesamten Gesellschaftsstruktur getragen. Vor diesem Hintergrund diskutierte und beschloss der türkische Staat in seinem höchsten Gremium, dem Nationalen Sicherheitsrat (MGK), ab 1992 eine von der NATO patentierte Strategie zur Bekämpfung der Bevölkerung, die als »Kriegsführung geringer Intensität« oder »Counter-Guerilla-Kriegsführung« bezeichnet wird. Der türkische Journalist Ismet Berkan erklärte in seinem Artikel vom 6. Dezember 1996, er habe die Protokolle dieser Entscheidung gelesen.
Wir alle kennen die Folgen dieser Entscheidung.
Tausende von Dörfern wurden niedergebrannt und mussten evakuiert werden. Intellektuelle, politische und zivile Persönlichkeiten wurden auf offener Straße ermordet. Die Hizbulkontra (türkische Hizbollah) wurde für diese Morde verantwortlich gemacht. Sie gilt als die Vorgängerin der im Dezember 2012 gegründeten Hüda-Par (tr. Hür Dava Partisi), der heutigen Wahlpartnerin der AKP.
Tausende von Menschen verschwanden. In Kurdistan warten heute noch immer Massengräber auf ihre Öffnung. Diese Phase erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren 1993/94. Auch Menschenrechtsaktivist:innen und Journalist:innen, die über diese höllische Phase in der Öffentlichkeit berichteten, wurden ermordet und gefoltert. Zeitungszentren wurden bombardiert und mit massivem Druck und Zensur wurde versucht, jede Berichterstattung zu unterbinden.
In diese Zeit fällt auch das Verbot der PKK in Deutschland. Mit dem Verbot wurden umgehend zahlreiche kurdische Vereine und Verbände überall in Deutschland sowie Nachrichtenagenturen und Zeitungen geschlossen. Das kurdische Potential in Europa, das die Ereignisse in Kurdistan in die Welt hätte tragen können, wurde von dem deutschen Staat massiv unterdrückt. Ziel war es, Protestaktionen in Deutschland gegen diesen schweren Angriff und das brutale Vorgehen des türkischen Staates gegen die kurdische Zivilbevölkerung zu unterbinden und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit zu vermeiden.
Wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der in Europa ansässigen Kurd:innen in Deutschland lebt, wird klar, dass das Verbot darauf abzielte, die Kurd:innen in ganz Europa handlungsunfähig zu machen. Nicht nur die internationale Solidarität sollte unterbunden werden, sondern insbesondere auch die in Deutschland lebenden Kurd:innen sollten daran gehindert werden, tiefere Verbindungen zu Kurdistan aufzubauen und sich an dem Freiheitskampf ihres Volkes zu beteiligen. Diese Parallelität sagt uns auch Folgendes: Das noch immer bestehende PKK-Verbot in Deutschland unterstützt bis heute die Gewalt- und Völkermordpolitik des türkischen Staates in Kurdistan und ist deren politische Stütze und ein wesentlicher Teil ihrer Umsetzung auf der internationalen Bühne.
Das PKK-Verbot in Deutschland ist ein Ausnahmezustand
Das Verbot der PKK, welches am 26. November 1993 mit einem Runderlass des damaligen deutschen Innenministers Manfred Kanther (CDU) begann und seit 30 Jahren ständig aktualisiert wird, ist zu einer umfassenden staatlichen Politik geworden. Wenn es um die Kurd:innen geht, ist ein ministerieller Runderlass ein Text, der weit über seinen eigentlichen Geltungsbereich und sein Format hinausgeht. Diese Maßnahme wirkt fast wie eine verfassungsmäßige Regelung dauerhaft, kontinuierlich und bindend für alle vergangenen und zukünftigen Regierungen. Deutschland begegnet den Kurd:innen, die seit jeher Demokratie und Freiheit fordern, mit einer unnachgiebigen Politik des Verbots. Aus der Schwere und der Wirkung dieses Rundschreibens von 1993 wird deutlich, dass es sich um eine außerordentliche Rechtsvorschrift gegen die Kurd:innen handelt. Wenn es um die kurdische Frage geht, betont Deutschland, ebenso wie die Türkei, bis heute, dass es selbstverständlich keine Sonderregelung anwende. Im Gegenteil, Deutschland stellt seine außergewöhnlichen und diskriminierenden politischen und rechtlichen Praktiken in einem derart routinemäßigen Stil und Verfahren dar, als wären sie vollkommen normal und entsprächen den üblichen Gepflogenheiten.
Ein ähnlicher rechtlicher und politischer Ansatz lässt sich beispielsweise bei den Ausgangssperren in sieben Provinzen und 17 Distrikten Kurdistans in den Jahren 2015/16 beobachten. Im Bericht des damaligen UN-Hochkommissars für Menschenrechte vom 27. Februar 2017 heißt es, dass die Ereignisse und Zeugenaussagen »ein Bild der Apokalypse« zeichnen. Ungefähr 2.000 Menschen, darunter 1.200 Zivilist:innen, verloren ihr Leben. Mehr als 200 junge Zivilist:innen wurden in Kellern lebendig verbrannt. Mehr als 355.000 Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben, ganze Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Schaut man sich an, worauf der türkische Staat diese Vorgänge rechtlich stützt, so stellt man fest, dass weder das Kriegsrecht noch der Ausnahmezustand ausgerufen wurden, sondern dass als Referenz der Artikel 11/c des Provinzgesetzes ohne nähere Bestimmung herangezogen wurde. Dieser Artikel regelt lediglich die Befugnis des Gouverneurs, der in erster Linie für die Provinzen zuständig ist, Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Diese Routinevorschrift erlaubt es nicht annähernd, Entscheidungen mit derart schwerwiegenden Folgen für ein großes geographisches Gebiet zu treffen. Aber genau das ist und meint die kurdische Frage:
Die staatliche Verwaltung, die Justiz und der Sicherheitsapparat wissen, wie in Kurdistan gewöhnliche Entscheidungen und Befugnisse umgesetzt werden, dass es nämlich für Massaker und schwere Verbrechen keiner besonderen Befugnisse und Regelungen bedarf. Straflosigkeit ist somit weitverbreitete Staatspolitik. In Deutschland sind sich die Institutionen, insbesondere der Sicherheitsapparat, der Tiefe dieser Verbotspolitik bewusst und wissen auch, dass es sich um staatliche Politik handelt. Der Beitrag dieser Mechanismen zur Aufrechterhaltung des Verbots über einen so langen Zeitraum ist nicht zu übersehen. Aber auch die vom Staat relativ unabhängigen Institutionen handeln aus einem ähnlichen »Bewusstsein« heraus. Die Presse zum Beispiel ignoriert den Schaden und die Ungerechtigkeit, die der kurdischen Gesellschaft durch das 30 Jahre andauernde Verbot zugefügt wurden. Sie bauscht stattdessen jedes noch so kleine Phänomen gegen die Kurd:innen und für das Verbot auf, was zeigt, dass der Staat seine Hausaufgaben gemacht hat.
Die Haltung der Justiz gegenüber dem Verbot
Die interessanteste und ambivalenteste Institution in der deutschen Kriminalisierungs- und Verbotspolitik ist die Judikative. Gleichzeitig spielt sie eine sehr wichtige Rolle. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Gewaltenteilung funktioniert, es also in Deutschland normalerweise keine Einmischung der Verwaltung in die Judikative gibt, so wird dennoch deutlich, dass die Judikative kein Kontroll- und Gegengewicht zur Exekutive und Sicherheitsbürokratie darstellt, insbesondere im Zusammenhang mit Verfahren nach §§ 129a und b StGB. Die Tatsache, dass ein großer Teil der kurdischen Gemeinschaft in Deutschland in der Justiz keine Hoffnung auf eine Lösung der andauernden Unterdrückung und Nötigung sieht, insbesondere die feste Überzeugung, dass Fälle nach §§ 129a und b StGB ganz automatisch eine Bestrafung nach sich ziehen, führt dazu, dass die Institution der Judikative als Teil der großen Koalition der Verbote wahrgenommen wird. Auch in Verfahren nach §§ 129a und b StGB werden die schrittweise Erhöhung des Strafmaßes und die Verhängung von Strafen von 4–5 Jahren, obwohl keine Gewalttätigkeit vorgeworfen wird, als Handeln der Justiz im Rahmen der grundlegenden staatlichen Strategie verstanden.
Die Tatsache, dass Deutschland die Meinungs- und Organisationsbemühungen gegen eine systematische und langjährige Völkermordpolitik, wie die Angriffe des türkischen Staates auf die Zivilbevölkerung, die Keller von Cizîr (tr. Cizre), die ethnischen Säuberungen in Efrîn, den Einsatz chemischer und anderer verbotener Waffen, durch Gesetz und Justiz im Keim ersticken will, zeigt zudem, dass die Justiz als Institution in Deutschland hochgradig politisiert ist, und macht die Behauptung, Deutschland sei ein unabhängiger Rechtsstaat, lächerlich.
Diese Wahrnehmung vertieft das Misstrauen der kurdischen Gesellschaft gegenüber der deutschen Justiz und führt zu der Schlussfolgerung, dass es sinnlos ist, seine Rechte vor Gericht einzufordern, sich zu verteidigen oder gar eine Anwält:in zu engagieren, wenn man mit einem Strafverfahren nach §§ 129a/b StGB konfrontiert wird. Es herrscht der Glaube vor, dass die Verteidigung von vornherein aussichtslos ist, dass, egal was man tut oder sagt, das Urteil schon vorher feststeht. Die abschließende Schlussfolgerung ist, dass der deutsche Staat insgesamt eine auf Kriminalisierung und Verboten basierende Strategie gegenüber den Kurd:innen verfolgt und dass alle staatlichen Institutionen/Mechanismen eine Position innerhalb dieser Strategie einnehmen.
Schlussfolgerung: Das PKK-Verbot als Angriff auf die kollektive Identität der Kurd:innen
Natürlich könnten die Haltung und die Praktiken der staatlichen Institutionen in Deutschland gegenüber der kurdischen Gemeinschaft noch ausführlicher beschrieben werden. Die vorliegende Darstellung reicht jedoch aus, um das Geschehen in einen Kontext zu stellen. Die seit fast 40 Jahren bestehenden Verwaltungsvorschriften gegen die Kurd:innen, die Art und Weise, wie sie von der Polizei und den Geheimdiensten umgesetzt werden, die Aufgabe der Justiz, diese Praktiken zu legitimieren, und die Ausrichtung der Presse, diese Praktiken zu verschleiern oder Kurd:innen ins Visier zu nehmen, zeigen uns, dass die Verbotspolitik in Deutschland die vorherrschende staatliche Politik gegen die Kurd:innen ist und dass das hauptsächliche Angriffsziel dieser Politik die kollektive Identität der Kurd:innen ist.
Die Organisation von und Teilnahme an demokratischen Veranstaltungen, das Singen kurdischer Lieder, das Feiern von identitätsstiftenden Volksfesten wie Newroz, die Organisierung von und Teilnahme an traditionellen Gedenkfeiern für die im Krieg getöteten Menschen, die Äußerung von Einwänden gegen die Isolation und die Haftbedingungen Öcalans, das Tragen von Symbolen, Fotos, Fahnen, das Skandieren bestimmter Parolen, die Gründung eines Verlages, die Veröffentlichung und der Verkauf von Büchern, die Herausgabe von Musikkassetten und CDs, die Archivierung und Veröffentlichung kurdischer Musik, das Schreiben von Zeitungsartikeln oder Nachrichten, die Kritik am nunmehr seit 30 Jahren bestehenden PKK-Verbot und der Einsatz für dessen Aufhebung … All diese und viele weitere Praktiken sind in Deutschland regelmäßig Gegenstand polizeilicher Ermittlungen und staatlicher Repression geworden. Die Summe all dieser Aktivitäten macht bereits einen großen Teil der kurdischen Identität aus. Die Kriminalisierung dieser politischen, sozialen, kulturellen und intellektuellen Aktivitäten bedeutet folglich die Kriminalisierung der kurdischen Identität und letztendlich die Kriminalisierung der kollektiven Existenz der Kurd:innen und ihrer ethnischen Struktur. Das herrschende System in Deutschland hat die grundlegendsten Forderungen der Kurd:innen aus der politischen Diskussion ausgeschlossen und sie stattdessen zu einem Teil deutscher Sicherheitspolitik gemacht. Auch die kollektive Identität und ethnische Existenz der Kurd:innen sind zum Ziel dieser Sicherheitspolitik geworden. Es ist notwendig, diese Realität hinter dem Fortbestehen des Verbots zu sehen, das trotz all der bereits vergangenen Jahre und Belastungen noch immer mit hoher Intensität fortgesetzt wird. Eine demokratische Haltung und Solidarität mit dem kurdischen Volk gegen das Verbot bedeuten nicht nur, die Grundrechte der Kurd:innen zu verteidigen, sondern auch ihre kollektive Existenz.
Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023
Aserbaidschan und die Türkei setzen auf militärische Expansion im Kaukasus
Das schnelle Ende der armenischen Enklave in Bergkarabach
Elmar Millich
Am 24. April 1915 begannen das Osmanische Reich und seine Verbündeten einen groß angelegten Völkermord an den einheimischen Armenier:innen. Dieser als »Aghet« bezeichneten Katastrophe gedenken an diesem Datum immer noch Armenier:innen in aller Welt. Der Völkermord begann mit der Verhaftung und Deportation armenischer Intellektueller in Konstantinopel. Darauf folgten Massendeportationen der armenischen Bevölkerung in die syrische Wüste, in deren Folge ca. eine Million Armenier:innen ums Leben kamen. Tausende von Siedlungen, Kirchen und Klöstern, Schulen und Bibliotheken sowie Manufakturen wurden zerstört. Eine unbekannte Menge an Eigentum und Reichtum wurde beschlagnahmt und geplündert. Angeführt wurde dieser Völkermord vom Komitee für Einheit und Fortschritt (»İttihat ve Terakki«), den Banden der Teşkilât-ı Mahsusa (einer paramilitärischen Sonderorganisation), den Hamidiye-Kavallerie-Regimentern und den Offizieren der osmanischen Armee. Das alles unter der Beobachtung von Offizieren der mit der Türkei verbündeten deutschen Wehrmacht.
Nach 107 Jahren, in der letzten Septemberwoche dieses Jahres, kam es unter den Augen der Weltgemeinschaft als Folge der Angriffe der aserbaidschanischen Armee wieder zu einer Vertreibung fast der gesamten auf etwa 120.000 Einwohner:innen geschätzten armenischen Bevölkerung aus der Region Bergkarabach. Begonnen hatten die neuen von der aserbaidschanischen Regierung als Antiterroroperation bezeichneten Angriffe am 19. September mit massivem Artilleriebeschuss der armenischen Enklave vor allem auf deren Hauptstadt Stepanakert. Dabei kamen laut Angaben der dortigen Behörden 27 Personen ums Leben und 200 wurden verletzt. Als Folge kapitulierte die Selbstverwaltungsbehörde und verkündete ihre Selbstauflösung zum 1. Januar 2024. Es begann der Exodus der seit Jahrhunderten ansässigen lokalen Bevölkerung.
Die Zerschlagung der Selbstverwaltungsstrukturen in Bergkarabach scheint von der aserbaidschanischen Regierung von langer Hand vorbereitet worden zu sein. Im Dezember 2022 begann die Blockade des Latschin-Korridors, der Hauptverkehrsroute zwischen dem Kernland Armeniens und Bergkarabach, dessen Sicherheit in einer am 9. November 2020 unter Vermittlung Russlands geschlossenen Waffenstillstandsvereinbarung gewährleistet worden war. Die Blockade, die als angebliche Aktion von »Umweltaktivist:innen« startete, wurde von Russland als Garant des Abkommens nicht verhindert. Die Blockade hatte verheerende Folgen für die armenische Bevölkerung, die teilweise von der Strom- und Gasversorgung abgeschnitten war. Die Preise für Lebensmittel und Dienstleistungen explodierten. Zwar kam es Anfang September unter Vermittlung des Roten Kreuzes zu einer Übereinkunft, Hilfslieferungen aus Armenien über den Korridor wieder zuzulassen, falls auch Hilfsgüter aus Aserbaidschan akzeptiert werden würden. Aber wenige Tage später begannen die Angriffe und machten die Übereinkunft gegenstandslos.
Die Rolle der Türkei
Vorausgegangen waren der jüngsten Eskalation – wie schon bei den kriegerischen Auseinandersetzungen 2020 – enge Absprachen Aserbaidschans mit seinem maßgeblichen Verbündeten Türkei. Ebenfalls erfolgten auffällig viele Flugbewegungen zwischen Aserbaidschan und Israel – dem neben der Türkei – Hauptlieferanten von Rüstungsgütern. Am 23. September, kurz nach der erzwungenen Kapitulation von Bergkarabach, traf sich der türkische Präsident Erdoğan mit seinem aserbaidschanischen Amtskollegen Ilham Alijew symbolisch in Nachitschewan, einer zwischen Armenien, dem Iran und der Türkei isoliert gelegenen aserbaidschanischen Exklave, zur Grundsteinlegung für eine Gaspipeline. Erdoğan rechtfertigte die vorausgegangene Militäraggression als Operation Aserbaidschans im eigenen Land und bekundete Stolz darüber, dass sie so schnell und erfolgreich verlaufen sei.
Die nach einer langjährigen Friedensphase bis 2020 plötzlich begonnene Aggression Aserbaidschans entspringt einer eng mit der Türkei abgestimmten Strategie. Beide sehen sich als »Brudervölker« unter der gemeinsamen Ideologie des Panturkismus. Die Türkei steht hinter den neuen Angriffen nicht nur mit Worten, sondern auch durch Waffenlieferungen und der Bereitstellung von Drohnen (insbesondere der TB-2-Drohne). Bereits die Besetzung von Teilen Bergkarabachs und die Vertreibung der armenischen Bevölkerung im Jahr 2020 hatte Erdoğan als »den größten Sieg der türkischen Außenpolitik im Jahr 2020« bezeichnet. Sowohl 2020 als auch 2022 wurden Soldaten und Söldner aus den besetzten Gebieten in Syrien und Libyen nach Aserbaidschan verlegt. Auf beiden Seiten sollen 5000 Soldaten getötet worden sein. Die am 10. Dezember 2020 in Baku durchgeführte Siegesparade über Armenien nahm Präsident Erdoğan auf Augenhöhe mit Präsident Alijew ab und verkündete, der politisch und militärisch geführte Kampf sei noch nicht zu Ende, sondern werde an vielen anderen Fronten weitergehen.
Insgesamt scheint sich der aserbaidschanische Präsident seinen türkischen Kollegen Erdoğan zum Vorbild genommen zu haben. Er hält ein außenpolitisches Gleichgewicht in den Beziehungen zum Westen und zu Russland und erklärt seine militärischen Aggressionen zu »Antiterroroperationen«, analog zur Türkei, wie sie es mit ihren kontinuierlichen völkerrechtswidrigen Angriffen auf die kurdischen Siedlungsgebiete in den Nachbarländern Syrien und Irak hält. Sicher wird er auch zur Kenntnis genommen haben, dass nach dem Einmarsch türkischer Truppen 2018 in die syrisch-kurdische Provinz Efrîn die darauf folgende Vertreibung Zehntausender Kurd:innen und die anhaltend schweren Menschenrechtsverletzungen in der Region nicht zu einem internationalen Aufschrei führten.
Die internationalen Reaktionen auf die jüngste Aggression Aserbaidschans blieben verhalten, vor allem in Relation zu der sogenannten »Zeitenwende« infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine. Seitens der Bundesregierung blieb es bei folgenlosen Aufrufen zur militärischen Deeskalation, wie aus einem am 22. September stattgefundenen Telefonat von Bundeskanzler Olaf Scholz mit seinem armenischen Amtskollegen Nikol Paschinjan berichtet wird. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock schloss sich der US-Regierung an und forderte eine internationale Beobachtungsmission in Bergkarabach, um die Sicherheit der armenischen Bevölkerung zu gewährleisten. Allerdings erst, nachdem schon 70 % von dort geflohen waren. Der Zentralrat der Armenier:innen in Deutschland wies in einer Presseerklärung vom 29. September darauf hin, dass er sich mehrfach an die deutsche Bundesregierung gewandt habe und die Katastrophe zu verhindern gewesen wäre.
Tatsächlich hat die Eskalation im Kaukasus die Bundesregierung auf dem falschen Fuß erwischt, hatte man mit Aserbaidschan doch gerade bedeutende Abkommen über Erdgaslieferungen getroffen, um russische Ausfälle zu kompensieren. Kanzler Scholz lobte den aserbaidschanischen Präsidenten Alijew erst bei einem Staatsbesuch am 14. März 2023 in Berlin als »Partner von wachsender Bedeutung«. Auch die meisten deutschen Medien zeigten zwar Empathie für die Armenier:innen, vermieden es aber, Aserbaidschan als Aggressor zu benennen. Zuweilen wurde auf den völkerrechtlich ungeklärten Status der Region verwiesen oder der aktuelle Angriff durch historische Rückblenden relativiert, wobei es zweifellos in dem langanhaltenden Konflikt auch zu Übergriffen der armenischen Seite gekommen sein mag. Es drängt sich der Verdacht auf, dass man die angebliche völkerrechtliche »Singularität« des russischen Angriffs auf die Ukraine nicht relativieren wollte, auf die sich Politik und Medien nach wie vor konzentrieren. Auch von anderen westlichen Staaten, der EU und den USA blieb es bei allgemeinen Appellen. Von wirtschaftlichen Sanktionen gegen Aserbaidschan oder gar militärischer Unterstützung für Armenien war nie die Rede.
Aber auch Russland ließ seinen armenischen Verbündeten fallen. Kam es schon bei der Belagerung des Latschin-Korridors seinen Verpflichtungen nicht nach, gab es genauso während der jüngsten Eskalation kaum diplomatische, geschweige denn militärische Unterstützung für Armenien. Das liegt nicht nur daran, dass Russland aufgrund seines seit anderthalb Jahren geführten Krieges in der Ukraine kaum in der Lage wäre, massive militärische Unterstützung zu leisten. Russland sieht sich im gesamten Kaukasus im Kampf um Einfluss als direkter Kontrahent der Türkei, die immer noch NATO-Mitglied ist, auch wenn sie in der Region eine eigenständige Außenpolitik verfolgt. Sich offen gegen Aserbaidschan zu stellen, hätte ihren wirtschaftlichen und politischen Einfluss auf die kaukasischen Länder deutlich zugunsten der Türkei geschwächt. Armenien wurde zum Bauernopfer.
Im Gegensatz zur Türkei richtet sich die militärische Zusammenarbeit zwischen Aserbaidschan und Israel nicht explizit gegen Armenien, sondern soll das sich seit Jahren entwickelnde Bündnis gegen Israels Erzfeind Iran stärken. Dass sich dabei die durch türkische und israelische Aufrüstung bewirkte militärische Überlegenheit vor allem gegen Armenien wendet, wird dabei von der israelischen Regierung als Kollateralschaden in Kauf genommen. Dabei gäbe es aufgrund der gemeinsamen Völkermorderfahrung des jüdischen und des armenischen Volkes im 20. Jahrhundert gute Gründe für mehr Sensibilität. Die ist allerdings von der aktuellen Regierung kaum zu erwarten, geben doch rechtsextreme Kabinettsmitglieder offen die Vertreibung aller Palästinenser:innen aus dem Westjordanland als Ziel ihrer Politik an.
Diskussion um ethnische Säuberung
Während des Exodus der armenischen Bevölkerung aus Bergkarabach setzte eine internationale Diskussion ein, ob es sich dabei um eine ethnische Säuberung handele, wie es der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan Aserbaidschan vorwarf. Dessen Regierung bestand darauf, dass die Ausreise der Armenier:innen »freiwillig« erfolge. Unterstützung für diese Sichtweise lieferte der russische Präsidialamtssprecher Dimitri Peskow mit seinen Ausführungen, es gebe keine größeren Berichte über Gewalt gegen armenische Zivilist:innen in Bergkarabach und damit auch keinen »direkten Grund« für ihre Flucht.
Allerdings haben die Armenier:innen für ihre Flucht unabhängig von der aktuellen Situation gute Gründe. Während der Kampfhandlungen 2020 und auch danach war es zu Vorwürfen der Folterungen und Exekutionen gefangener armenischer Soldaten gekommen, trotzdem diese Anschuldigungen nicht international verifiziert werden konnten. Ebenso ist die seit Monaten anhaltende aserbaidschanische Rhetorik in der Politik und den Medien von Chauvinismus und offenem Hass geprägt. Sicher Grund genug, aktuellen Sicherheitserklärungen aus Baku zur Beschwichtigung der Weltöffentlichkeit nicht zu trauen. Außerdem ist der armenischen Bevölkerung aufgrund des Völkermordes von 1915 ein Trauma zuzugestehen, vor allem wenn der Nachfolgestaat des für die »Aghet« verantwortlichen Osmanischen Reiches, die Türkei, als maßgeblicher Verbündeter und Waffenlieferant von Aserbaidschan auftritt.
Auch nach der Zerschlagung von Bergkarabach und der Vertreibung der dortigen Bevölkerung dürfte der Expansionshunger des aserbaidschanischen Präsidenten Alijew noch nicht gestillt sein. Beim oben erwähnten Besuch Erdoğans in Nachitschewan forderten beide als nächsten Schritt einen von Aserbaidschan beherrschten Korridor durch südarmenisches Staatsgebiet, der die zwischen Armenien, der Türkei und dem Iran isolierte gleichnamige Enklave mit dem aserbaidschanischen Kernland verbinden soll. Dieses »Sangesur-Korridor« genannte Areal soll eine direkte Landverbindung zwischen Ankara und Baku ermöglichen und vor allem dem besseren Wirtschaftsaustausch zwischen den »turkmenischen Brudervölkern« dienen. Auf internationaler Bühne stellt sich bislang vor allem der Iran dagegen, der seine eigenen Interessen bedroht sieht. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Aserbaidschan und die Türkei sich als Nächstes daranbegeben, das armenische Kernland zu zerteilen, haben sie doch im Schatten des Ukrainekrieges von der internationalen Gemeinschaft außer verbalen Protesten nichts zu befürchten. Präsident Erdoğan schickt sich an, gegenüber den Armenier:innen mit der Politik fortzufahren, die das Osmanische Reich aufgrund seiner Kapitulation im Ersten Weltkrieg stoppen musste. Und die Welt schweigt dazu genauso wie zu seinen anhaltenden Verbrechen gegen die kurdische Bevölkerung.
Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023