Frauenforschungszentrum und Frauenbibliothek in Silêmanî stehen vor der Eröffnung
Die Rückeroberung der Geschichte der kurdischen Frau
Interview mit Necîbe Qeredaxî, Mitglied der Jineolojî-Akademie
Nicht mehr lange und das Frauenforschungszentrum und die kurdische Frauenbibliothek in Silêmanî (Sulaymaniyah) in Südkurdistan werden eröffnet. Aus diesem Anlass führte der Kurdistan Report ein Gespräch mit Necîbe Qeredaxî. Sie ist Mitglied der Akademie der Jineolojî und engagiert in diesem Projekt.
Die Arbeit der Initiative zur Gründung des »Zentrums für Forschung, Archivierung und Bibliothek kurdischer Frauen« ist bereits weit fortgeschritten. Sie ist das Ergebnis der Bemühungen vieler Frauen und eng verbunden mit Nagihan Akarsel, die am 4. Oktober 2022 in Silêmanî ermordet wurde. Öffentliche Äußerungen eines hochrangigen türkischen Politikers deuten darauf hin, dass dieser Mord im Auftrag der türkischen Regierung geschah. Kannst du uns etwas über die Person Nagihan und ihre Rolle bei der Initiative zur Gründung der Bibliothek sagen?
In den meisten Ländern der Welt, auch im Nahen Osten, gibt es Frauenbibliotheken, feministische Bibliotheken und entsprechende Archive. Insgesamt wissen wir derzeit von 400 solcher Institutionen weltweit. Das Besondere an unserem Projekt ist, dass wir hier an der ersten kurdischen Frauenbibliothek der Welt arbeiten. Sie wird nicht »nur« eine Bibliothek sein, sondern auch ein Forschungszentrum und ein umfassendes Archiv.
Wer sich mit dem Projekt beschäftigt, kommt um den Namen Nagihan Akarsel nicht herum. Nagihan Akarsel war eine der Frauen, die zusammen mit anderen Akademikerinnen, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen und Aktivistinnen dieses Projekt vorangetrieben haben. Bis zum 4. Oktober 2022 – an diesem Tag wurde sie in der südkurdischen Stadt Silêmanî, dem Standort unserer Bibliothek, vom türkischen Geheimdienst auf offener Straße aus dem Hinterhalt hingerichtet. Dass es der türkische Geheimdienst war, ist ein offenes Geheimnis, auch der türkische Staat macht keinen Hehl daraus. Deshalb möchten wir an dieser Stelle noch einmal an Nagihan Akarsel als politische Aktivistin erinnern, die bis zuletzt für ein freies Denken gekämpft hat.
Nagihan war in der ersten Gruppe, die sich Anfang 2020 traf, dabei und hat das Projekt seither eng begleitet und geprägt. In dieser Phase haben wir vor allem diskutiert, wie ein notwendiger Schutzraum für das Wissen und die Erinnerung von Frauen in der Gesellschaft realisiert werden kann und welche Strategie es dafür braucht.
Schon in dieser Phase hat Nagihan aktiv zur Verwirklichung eines Traums vieler kurdischer Frauen beigetragen. Der Traum bedeutet, einen Ort für kurdische Frauen zu schaffen, an dem ihr Wissen im lokalen, regionalen und globalen Kontext archiviert, gesammelt und geschützt wird und an dem sie ihre Gefühle und Erfahrungen austauschen können. Dieser Ort soll ihnen das Gefühl geben, dass Grenzen und Staaten keine Barrieren zwischen ihnen sein können. Heute ist dieser Traum wertvoller denn je.
Nach dem Mord an Nagihan haben sich viele gefragt, warum es ausgerechnet sie getroffen hat. Ich glaube, wir haben eine klare Antwort darauf. Dieser Anschlag ist Ausdruck und Fortsetzung des Krieges, der von der Herrschermentalität, vom Staat und seinen im Nahen Osten herrschenden Kolonial- bzw. Kollaborationsmächten und vor allem von der patriarchalen Mentalität ausgeht. Es ist ein Krieg, der seit 5.000 Jahren gegen die Gesellschaft und vor allem gegen die Frauen geführt wird. Nagihan hat es getroffen, weil sie stellvertretend für den historischen Kampf der kurdischen Frauen steht, die sich genau dieser Mentalität hier auf dieser Erde widersetzen.
Im vergangenen Jahrhundert haben sowohl die von außen kommenden Kolonialmächte als auch die unterdrückenden Staaten in der Region die kurdische Gesellschaft und vor allem die kurdischen Frauen als große Gefahr für sich gesehen und sie deshalb gezielt angegriffen. Sie haben versucht, ihnen die Hoffnung zu nehmen. Gerade deshalb ist der Wille, unser Projekt hier fortzusetzen, von weitreichender Bedeutung. Wir erhalten damit diese Kultur des Widerstandes und schaffen eine solide Basis für die Hoffnung. Es ist also ein strategisch sehr wichtiges Projekt, und die daran beteiligten Frauen sind entsprechend bereit, viel zum Gelingen beizutragen. Sie haben erkannt, dass diese Arbeit generell gegen die patriarchale Mentalität des Staates und der Herrschenden gerichtet ist.
Genau diese Kräfte haben die Gefahr für ihre eigene Existenz erkannt und den feigen Mordanschlag auf Nagihan verübt. Sie haben diese wichtige Vertreterin der Frauenbewegung mit der Absicht getötet, unsere Hoffnung zu töten. Damit wollen sie ihre Existenz ein kleines bisschen verlängern. Das ist der Rahmen, in dem dieser Angriff gesehen werden muss. Es ist ein Angriff auf die Frau an sich und durch sie auf die Gesellschaft als Ganzes.
An dieser Stelle möchte ich noch ein paar Worte über Nagihan Akarsel persönlich sagen. Nagihan hat, wie so viele Frauen in der Freiheitsbewegung, mit dem Stift in der Hand, getrieben von ihren Träumen und ihrer Überzeugung, alles gegeben, um das verlorene Wissen, die zerstörte Weisheit der kurdischen Frau wiederzufinden. Anfangs suchte sie Antworten in ihrer journalistischen Arbeit, später in der wissenschaftlichen Arbeit der Jineolojî. Sie wollte die Kraft von Bildung und Wissenschaft nutzen, um an Transformationsprozessen mitzuwirken. Dabei hat sie nicht nachgelassen, an sich selbst und an den Frauen ihrer Umgebung zu arbeiten. Auch bei Männern hat Nagihan immer versucht, Prozesse anzustoßen. Für sie gab es keinen Unterschied zwischen »wichtiger Arbeit« und »unwichtiger Arbeit«. Sie konnte sich für alle Belange anderer begeistern, und durch ihr Einfühlungsvermögen hat sie viele Menschen erreicht und Erlebtes und Erfahrungen aus ihrem Leben weitergeben. Sie hat den Schmerz und die Freude der Menschen um sie herum geteilt und wirklich mitempfunden. Ihr Leitspruch war: »Bevor du Bücher liest, musst du in den Menschen lesen.« Denn so sehr sie Bücher schätzte, so sehr kritisierte sie diejenigen, die ihr Wissen nur aus Büchern bezogen. Sie war davon überzeugt, dass echtes gesellschaftliches Wissen, das zur Veränderung der Gesellschaft beitragen kann, nur aus dem Leben der Menschen kommen kann.
Nach der Ermordung Nagihans war die Botschaft der Frauen klar: »Wir setzen Nagihans Traum fort!« Das ist ein klares Zeichen der Ablehnung der Besetzung des Landes und für soziale, politische und wirtschaftliche Freiheit im Kontext des Mentalitätswandels und des Auf- und Ausbaus selbstverwalteter Strukturen. Aus diesem Grund sehen wir den erfolgreichen Aufbau der Bibliothek auch als Teil der Selbstverteidigung der gesamten Gesellschaft.
Nagihan Akarsel war Schriftstellerin, Journalistin, Akademikerin und Aktivistin. Sie war eine Frau mit ausgezeichneten Beziehungen zur Gesellschaft, kreativ in ihrer Praxis und klar und stark in ihrer Meinung. Sie versprühte Energie und brachte Leben an scheinbar tote Orte. Ihre Sprache war eine sehr lyrische Sprache. In ihrem Kampf schuf sie so viele kollektive Werte, dass sie zu einer wahren Pionierin der Kultur und des Geistes des Widerstandes wurde. Sie hat so viel Energie und Freude in unser Bibliotheksprojekt gesteckt und es bereichert. Obwohl die Stadt, in der sie lebte, stark von patriarchalen Herrschaftsstrukturen dominiert ist, hat sie es geschafft, junge Frauen, Lehrerinnen, Professorinnen, Künstlerinnen, Autorinnen und Akademikerinnen um sich zu sammeln. Auch Frauen außerhalb Kurdistans hat sie erfolgreich in die Diskussionen und Forschungsarbeiten einbezogen. Ihr ist es zu verdanken, dass dieses Projekt möglich wurde.
Die Bibliothek bzw. das dazugehörige Archiv und Forschungszentrum entsteht, wie du erwähnt hast, in der Stadt Silêmanî. Warum habt ihr euch für diese Stadt entschieden? Und wann soll die Bibliothek eröffnet werden?
Über den Ort haben wir lange nachgedacht und viel diskutiert, denn es gibt viele Städte und Dörfer, die für die kurdischen Frauen von Bedeutung sind. Unsere Wahl fiel auf Silêmanî, denn in der 250-jährigen Geschichte dieser Stadt sehen wir eine konstante und starke Präsenz von Denkerinnen und Künstlerinnen. Sie haben die Stadt geprägt und bekannt gemacht.
Natürlich ist der Aufbau eines Zentrums für Archivierung, Forschung und Bibliothek kurdischer Frauen ein nationales, wenn nicht sogar ein globales Frauenprojekt. Viele Frauen aus den vier Teilen Kurdistans und auch aus der Diaspora sind daran beteiligt. Die Jineolojî als Wissenschaftsbereich spielt neben anderen wissenschaftlichen und akademischen Erfahrungen kurdischer Frauen eine sehr zentrale Rolle.
Die Maßstäbe und Methoden der Jineolojî sind für unsere Arbeit sehr hilfreich. Sie haben uns geholfen, Wissen zu erlangen, zu verteidigen und weiterzugeben. Es ist bedauerlich zu sehen, wie wenig Frauen sich bisher darum gekümmert haben, ihr eigenes Wissen zu archivieren, selbst Wissenschaft zu betreiben und die Geschichte aus ihrer eigenen Perspektive festzuhalten. Frauen wurden davon abgehalten, sich Wissen anzueignen. Gerade deshalb ist es für die Zukunft notwendig, das Wissen von der herrschenden Perspektive zu befreien und frei zugänglich zu machen. Dies erfordert einen gut organisierten und umfassenden Kampf auf der Basis von freiem Willen und fester Überzeugung. Die Bibliothek kann dafür eine große Unterstützung sein.
Die Eröffnung soll relativ bald stattfinden. Wir werden rechtzeitig über das genaue Datum informieren. Ein abwechslungsreiches Programm mit kulturellen und künstlerischen Beiträgen wird vorbereitet. Außerdem arbeiten wir intensiv an Konzepten zur Präsentation der Bücher und der Leistungen der Frauen.
Wie ordnet ihr eure Arbeit in die Tradition von Frauenbibliotheken in anderen Teilen der Welt ein? Welche inhaltlichen Schwerpunkte setzt ihr? Strebt ihr eine Vernetzung mit anderen Frauenbibliotheken in anderen Ländern an?
Mit dem Projekt der Archivierung, der Forschung und des Aufbaus der kurdischen Frauenbibliothek haben wir uns auf zwei Leerstellen, die wir füllen wollen, konzentriert. Die eine Ebene ist die regionale, d. h. wir wollen in erster Linie in Kurdistan und im Nahen Osten unserer Verantwortung gerecht werden und Antworten auf die Fragen der Frauen geben, aber auch die zweite Ebene, die internationale, darf nicht vernachlässigt werden. Wir wollen unser Wissen auch im globalen Kontext teilen und von den Errungenschaften ähnlicher Frauenprojekte profitieren.
Im Moment vernetzen wir im Rahmen der Projektarbeit kurdische Frauen aus dem kulturellen und akademischen Bereich und aus entsprechenden Institutionen. Wir sind Teil des FLA-Netzwerks1. Diese Zusammenarbeit wollen wir in Zukunft vertiefen und unser eigenes Netzwerk global erweitern. Zurzeit arbeiten wir in Form von (Online-)Treffen, Konferenzen, über unsere Website, aber auch durch direkten Kontakt zusammen. Es ist uns wichtig, ein möglichst breites Spektrum von Frauenbibliotheken, Frauenarchiven, feministischen und queer-feministischen Organisationen zu erreichen. So wollen wir in Zukunft auch im globalen Kontext Antworten auf folgende Fragen finden: Was haben kurdische Frauen geschaffen? Welche Leistungen finden wir in der Geschichte? Wie haben sie gelebt und wie sieht ihr Leben in der jüngeren Vergangenheit aus? Was waren bzw. sind die Projekte kurdischer Frauen?
Wir konzentrieren uns auf das Sammeln schriftlicher, akustischer und anderer Werke und Bücher, die von kurdischen Frauen geschrieben oder ausgewählt wurden. Dazu gehören auch die Werke, die über kurdische Frauen geschrieben wurden. Die Autorinnen müssen nicht unbedingt Kurdinnen sein. Wir gehen davon aus, dass über kurdische Frauen von unterschiedlichsten Menschen aus der ganzen Welt und aus unterschiedlichsten Kulturkreisen geschrieben wurde. Die von Frauen geschaffenen Medien, die wir sammeln, können wirklich alles sein: Bücher, Artikel, Zeitungen, Tagebücher, Texte, Gedichte, Romane, niedergeschriebene Erinnerungen, Forschungsarbeiten, Bilder, Erzählungen, Heilkunde, Dengbêj2, mythologische Epen, Elemente des Naturglaubens usw. Für uns spielt es keine Rolle, ob es sich um Produkte von Individuen oder von Kollektiven handelt, in welcher Sprache oder in welchem kurdischen Dialekt sie verfasst wurden.
Wir sammeln alle Werke, die unserer Meinung nach einen positiven Beitrag zur Forschung leisten können.
Ihr wollt nicht nur eine Bibliothek sein, sondern auch ein Archiv, ein Gedächtnis und ein Forschungszentrum. Was umfasst die Arbeit des Zentrums alles?
Bei diesem Projekt, der kurdischen Frauenbibliothek, soll nicht nur Material an einem Ort gesammelt werden. Es geht uns vor allem darum, einen Ort zu schaffen, an dem sich Frauen und Jugendliche entwickeln und ausdrücken können. Sie sollen an diesem Ort die Möglichkeit haben, ihre Geschichten und Erfahrungen miteinander zu teilen und zu dokumentieren. Vor allem sollen die Frauen ermutigt werden, über ihr eigenes Verhältnis zur Gesellschaft, zu ihrer Umwelt und zur Natur nachzudenken, darüber zu schreiben und zu diskutieren.
Diese Form des Wissens- und Erfahrungsaustausches verhindert, dass Wissen und Erfahrungen in Vergessenheit geraten oder aussterben. Diese neue Perspektive versuchen wir in unserem Projekt umzusetzen. Beim Archivieren darf es nicht nur um die Aufarbeitung der Vergangenheit gehen, sondern auch um das Wachhalten einer ganzheitlichen Lebenserinnerung, um damit eine nachträgliche Neuschreibung der Geschichte aus Herrschaftsperspektive zu verhindern.
Eine weitere wichtige Aufgabe der Bibliothek wird der Forschungsbereich sein. Hier ist uns die umfassende Beschäftigung mit Kultur, Sprache, Kunst, Literatur, Gesellschaftswissenschaften etc. wichtig. Diese Arbeit wird wahrscheinlich zum größten Teil außerhalb der Bibliotheksräume stattfinden. Kleine mobile »Forschungsgruppen« werden zu den Frauen in der Gesellschaft gehen, mit ihnen sprechen und auf dieser Ebene einen Wissensaustausch schaffen. Es gibt bereits viel Erfahrung mit dieser Art von Forschungsarbeit, aber es gab bisher keinen Ort, an dem dieses Wissen zusammengeführt wurde. Genau diesen Ort, an dem die wichtigen Analysen im Kontext des Gesamtbildes entstehen, wollen wir jetzt schaffen.
Die Bibliothek soll auch ein Ort der Begegnung werden. So wollen wir Studierende, Autorinnen, Künstlerinnen, Akademikerinnen und alle, die von dem hier gesammelten Wissen profitieren und es erweitern können, willkommen heißen. Es gilt auch, den kurdischen Frauen ihren Reichtum vor Augen zu führen.
Im Rahmen der Arbeiten haben sich bereits Frauen zusammengefunden, die mit den Perspektiven der Jineolojî ein »Xwebûn3-Projekt« begonnen haben. Dabei handelt es sich um ein Kunstprojekt, in dem die Frauen zu den Wurzeln zurückkehren, sich selbst kennen lernen, die Probleme der Gesellschaft in ihrer eigenen Persönlichkeit erfassen und eine Bewusstseinsentwicklung durch ihre Kunst zum Ausdruck bringen. Sie machen damit einen wichtigen Schritt.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf ein anderes Thema aufmerksam machen. Die bestehende Geschichtsschreibung ist geprägt von äußerer und innerer Unterdrückung, die sowohl die kurdische Frau als auch die kurdische Gesellschaft als Ganzes betrifft. Die kurdische Frau sah sich der Ausbeutung und Unterdrückung durch äußere Kräfte ausgesetzt, gleichzeitig aber auch der Ausbeutung und Unterdrückung in der eigenen Gesellschaft durch den kurdischen Mann. Wir sehen diese parallelen Ströme des »Identitätsdiebstahls«, des »Geschichtsdiebstahls« und des »Glaubensdiebstahls«4, die sowohl die kurdische Frau als auch die kurdische Gesellschaft insgesamt betreffen. Bis zu einem gewissen Grad haben aber die Kultur, die Sprache und die Tradition der Gesellschaft die Frau und ihre Errungenschaften verteidigt und verhindert, dass sie in Vergessenheit geraten.
Alles, was geschrieben wurde, steht unter dem Einfluss der orientalistischen Mentalität. Darin aufgeworfene Diskussionen können sowohl positive als auch negative Elemente in sich tragen. Die Texte können einen vermeintlich objektiven Beitrag von außen leisten, aber wir dürfen nicht vergessen, dass all diese Texte orientalistisch, eurozentristisch und vor allem mit einer Staatsmentalität geschrieben wurden oder zumindest stark davon beeinflusst waren.
Aus diesem Grund sehen wir die Frauenbibliothek und die mit ihr verbundenen Strukturen in der Verantwortung, das vorhandene Wissen aus und über Kurdistan von jeglicher Unterdrückung zu befreien und neue Perspektiven in die Diskussion um die kurdische Geschichte und die Geschichte der kurdischen Frau einzubringen. Deshalb ist es so wichtig, dass jede Form der Dokumentation an den Wurzeln der Geschichte der Gesellschaft ansetzt und immer das Ziel vor Augen hat, die Freiheit des Wissens, der Frau und der Gesellschaft zu erreichen. Dies ist eine der wichtigsten Lehren aus 50 Jahren Kampf der kurdischen Frauen, die sich sowohl in der Theorie als auch in der Praxis bewährt hat. Dieses Verständnis hat viele Türen geöffnet und Wege geebnet, die uns unserer eigenen Befreiung näherbringen können. Darum ist die Eröffnung der Bibliothek und das Verbreiten des Wissens über sie so wichtig.
Ein weiteres Ziel ist die Schaffung einer eigenen Dokumentationskultur von Frauen. Die Leistungen von Frauen wurden immer als wertlos betrachtet. Es schien nicht notwendig, sie aufzuschreiben, zu dokumentieren, zu präsentieren, zu veröffentlichen oder zu drucken. Aber was meinen wir, wenn wir von den historischen Leistungen der Frauen sprechen, die in der geschriebenen Geschichte keine Beachtung finden? Meinen wir nur das geschriebene Wort? Natürlich nicht. Natürlich soll unsere Bibliothek ein Ort sein, den Frauen nicht nur physisch besuchen können, sondern auch ein Ort, an dem die ungeschriebene Geschichte der Frauen oder der Gesellschaft studiert werden kann. Wir haben viel darüber diskutiert, welche Bereiche unsere Bibliothek abdecken soll, und waren uns einig, dass das mündlich überlieferte Wissen, das in der Praxis des Lebens bis heute sehr präsent ist, einen wichtigen Platz einnehmen muss.
Andererseits ist es unser Ziel, unsere Geschichte aus unserer Perspektive neu zu schreiben und sie von patriarchaler und staatlicher Mentalität zu befreien. Wenn wir dies tun, wenn wir uns selbst und unsere Vergangenheit kennen lernen, wenn wir lernen, die Gegenwart zu verstehen und wenn wir beginnen, unsere Zukunft kreativ zu gestalten, dann können wir einen gesellschaftlichen Prozess der Befreiung von Sklaverei und Individualisierung einleiten. Dabei ist die Befreiung und Säuberung des Wissens und der Wissenschaft von patriarchalen, staatlichen und unterdrückerischen Mentalitäten eine Aufgabe, die wir nicht allein in Kurdistan lösen können, sondern nur auf globaler Ebene. Deshalb haben wir ein großes Interesse an einem internationalen Austausch mit Strukturen, die das gleiche Ziel verfolgen.
Unser oberstes Ziel ist es, zu den Wurzeln des Wissens zurückzukehren, auch das im mündlich überlieferten Wissen Verborgene wiederzuentdecken. Sei es in Form von Märchen, mythischen Erzählungen oder tragischen Liebesgeschichten. Ihre Erforschung haben wir uns zur Aufgabe gemacht, mit dem Ziel, den Moment zu finden, in dem wir begonnen haben, unsere Freiheit zu verlieren. Deshalb ist die Forschung gerade hier in Kurdistan und im Nahen Osten so wichtig. Insbesondere die Erforschung der Vielfalt der Frauenkunst und -kultur in den Bereichen Wirtschaft, Gesundheit, Architektur, Kleidung, Musik, Sprache, Dengbêj und Poesie ist von großer Bedeutung, denn sie drücken am besten aus, was wir als Gesellschaft verloren haben und was wir uns wieder aneignen müssen.
Wenn wir uns die mündliche und ungeschriebene Geschichte der Frauen vor Augen führen und so an der Enthüllung der Wahrheit der Frauen arbeiten, können wir sehen, wie die Herrschaft über die Frauen ursprünglich aufgebaut wurde. Dieser Ansatz hat sich theoretisch, konzeptionell und in der Selbstorganisierung im Kampf für die Freiheit der kurdischen Frauen entwickelt. Es gibt ein Sprichwort: »Jedes Gras wächst auf seinen eigenen Wurzeln.« Das Kurdische Frauenbibliotheks-, Archiv- und Forschungszentrum wurde gegründet, um diese historischen Wurzeln aufzudecken und zu dokumentieren und daneben die heute existierenden Bücher zu sammeln. Alles zusammen soll für die Leser:innen, die Forscher:innen und die gesamte Gemeinschaft leicht zugänglich sein.
Bei genauer Betrachtung sehen wir, dass der weltweite Widerstand der Frauen vor allem in Kurdistan so stark und präsent ist, weil hier die Wurzeln, die Geschichte und die Kultur einer starken und langen Widerstandsgeschichte zu finden sind. Die Frauenbibliothek als Zentrum wird einen wichtigen Beitrag zur Freilegung dieser Wurzeln zu leisten.
Werdet ihr in den Räumen des Zentrums Bildungsangebote und Veranstaltungen durchführen? Habt ihr dafür schon eine inhaltliche Planung?
Ich möchte euch einen kurzen Einblick in unsere Diskussionen über diese Frage geben. Wir denken darüber nach, wie wir die Erfahrungen und die Arbeit ähnlicher Bibliotheken und Archive weltweit ergänzen und bereichern und was wir Neues zur Art der Dokumentation beitragen können. Wir wollen unsere eigenen Erfahrungen und Forschungen aus der Perspektive der kurdischen Frau einbringen, wobei wir selbstverständlich die Forschung, die Bewertung des Entdeckten sowie dessen Verteidigung und schließlich die Einbettung in eine ganzheitliche soziologische Analyse im Auge behalten. Dabei ist es uns wichtig, die Frau nicht nur in der Kategorie des Geschlechts zu betrachten, sondern ihre Perspektive im Rahmen des demokratischen Konföderalismus zu sehen, die im Widerspruch zum Paradigma des Staates, des Patriarchats und des Kapitalismus steht. Oberstes Ziel ist es, sich dem letztgenannten Paradigma auf allen Ebenen vollständig zu entziehen und stattdessen das eigene Paradigma zu erforschen und als Leitlinie zu setzen. Die patriarchale Mentalität hat es in vielerlei Hinsicht geschafft, in diese Welt einzudringen und ihr ihre Geschichte aufzuzwingen, während die Geschichte der Gesellschaft und der Frauen immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde.
Wenn wir sagen, die Geschichte der Frauen ist noch nicht geschrieben und es ist unsere Verantwortung, das zu tun, dann meine ich – und das möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen – nicht, dass es darum geht, viele Dokumente anzuhäufen. Deshalb beschäftigen wir uns sehr stark mit der Frage, wie Wissen, das sich nicht auf Papier bannen lässt, trotzdem dauerhaft erhalten werden kann. Das meiste Wissen, auf das wir uns außerhalb der Städte beziehen, das Wissen, das im Leben in den Dörfern, in den Bergen und in der Gesellschaft entsteht, wird nirgendwo festgehalten. Dieser größte Teil des kurdischen Wissens wird von den alten Frauen an die junge Generation weitergegeben, ohne dass es bewusst als Wissen, als Bildung wahrgenommen wird. In der Poesie, der Heilkunst, den Geschichten, der Umgangssprache, den Sprichwörtern, der Mythologie, den Riten und Ritualen gibt es viel verborgenes Wissen, das uns helfen kann, die ungeschriebene Geschichte zu verstehen.
Welche Art von unterstützender Zusammenarbeit wünscht ihr euch von politisch engagierten Menschen in Deutschland?
Das Zentrum für Archivierung, Forschung und Bibliothek kurdischer Frauen ist eine strategische Arbeit. Es gibt kurzfristige, mittelfristige und langfristige Etappenziele. Ich habe jetzt viel über unsere mittel- und langfristigen Ziele gesprochen. Unser erster Schritt wird die Eröffnung des Zentrums sein. Wir haben eine Unterstützungskampagne in Kurdistan und in anderen Ländern der Welt organisiert. Wir wollen so viele Frauen wie möglich erreichen. Jede Frau, die von der Eröffnung unserer Frauenbibliothek gehört hat, soll sich als Teil davon sehen und selbst Informationen, die sie teilen möchte, schicken. Frauen sollen hierherkommen, sie sollen das Projekt finanziell, materiell oder ideell unterstützen, aber auch selbst in den Prozess des Forschens, Diskutierens und Verteidigens einsteigen. Davon träumen wir, und wir freuen uns auf eure Beiträge und Ideen.
Dieses Interview gibt uns die Möglichkeit, in Deutschland lebende Frauen, auch kurdische Frauen zu erreichen. Das ist wichtig, denn wir brauchen Unterstützung.
Die Liste der Möglichkeiten, die Bibliothek zu unterstützen, ist lang. Wir sind offen für vielfältige Projektideen. Wer unser Projekt finanziell unterstützen möchte, kann dies über unsere Arbeitsgruppen hier in Kurdistan tun.
Natürlich können uns auch digitale Arbeiten zugeschickt werden. Für Rückfragen sind wir erreichbar unter
Und es gibt noch eine Möglichkeit, unser Projekt zu unterstützen: Greift die Idee auf und arbeitet selbst am weltweiten Aufbau ähnlicher Frauenzentren und Frauenbibliotheken.
Necîbe, wir danken dir für das Interview und wünschen euch gutes Gelingen!
1 Feminist and Women’s Libraries and Archive Network: fla-network.com
2 Dengbêj werden im Kurdischen die Sänger:innen genannt, die historische Begebenheiten, Mythen, Legenden, wichtige Ereignisse in einem besonderen Gesangsstil vortragen. Die Dengbêj-Kunst ist eine Form der mündlich überlieferten Literatur.
3 Xwebûn bedeutet Selbstwerdung oder Selbstsein.
4 Mit diesen drei Begriffen wird zum Ausdruck gebracht, dass einerseits die Staaten des Mittleren Ostens in Verbindung mit den imperialen Mächten versuchten, die Existenz der kurdischen Identität und Geschichte zu leugnen. Gleichzeitig versuchten die kurdischen Männer, den Frauen ihre Identität und ihren Glauben an sich selbst zu nehmen.
Kurdistan Report 228 | Juli / August 2023