Erfahrungen eines Kriegsverletzten im Kampf gegen den »IS«

Der nicht endende Kampf

Siwar Rojdem, YPG-Kämpfer während der Befreiung Til Temirs vom »IS«


Der YPG-Kämpfer Siwar Rojdem berichtet über seinen Weg in die kurdische Bewegung, seine Kämpfe, seine schwere Verletzung und seinen Willen, auf anderen Feldern weiter zu kämpfen.

Während des arabischen Frühlings und zu Beginn der Revolution in Rojava, kannte ich die kurdische Bewegung noch nicht. Ich sah die Hevals1, wie sie zu uns nach Til Temir2 kamen, wie sie den Kampf gegen den »Islamischen Staat« (IS) aufnahmen und Kontrollpunkte auf den Straßen errichteten. Aber wer sie waren und warum sie gekommen waren, verstand ich damals noch nicht. Trotzdem unterstützen wir sie, denn wir sahen, dass sie gute Menschen waren, die uns nichts Böses wollten. So kam es häufig vor, dass wir abends zu den Hevals in ihre Stellungen gingen. Wir brachten Bretter und Holz mit, manchmal auch ein bisschen Öl, damit sie sich wärmen konnten. Gleichzeitig wollten wir sie auch kennenlernen. Sie erzählten uns davon, was in Kurdistan geschah und von der Perspektive, die Abdullah Öcalan entwickelt hat und die sie nun umsetzen wollten. Sie erzählten uns von der Revolution. Wir lernten die kurdische Bewegung langsam kennen, und mit ihr lernten wir auch uns selbst besser kennen.

In dieser Zeit entschieden sich viele dazu, sich den »Selbstverteidigungseinheiten Kurdistans« (YXK) – dem Vorläufer der »Volksverteidigungskräfte« (YPG) – anzuschließen. Aber viele hatten auch Zweifel. Nicht wenige unterstützen den IS. Das syrische Regime war sehr darum bemüht, Gerüchte zu verbreiten, dass es der kurdischen Bewegung nur darum gehe, eine kurdische Elite zu schaffen, die dann wiederum die Araberinnen und Araber unterdrücken würde. Erst mit der Zeit wurden diese Vorurteile ausgeräumt und viele von den Zweifelnden schlossen sich dem Kampf gegen den IS an. Doch bis heute ist es eine der wichtigsten Arbeiten der Selbstverwaltung, gezielt gegen diese Propaganda des syrischen Staates anzuarbeiten und die Menschen zusammenzubringen.

Der Wille, sich der Freiheitsbewegung anzuschließen

In dieser Zeit entschied auch ich mich dazu, mich der Bewegung anzuschließen und mich am Kampf zu beteiligen. Doch man ließ mich nicht. Die Hevals wussten, dass sich vor mir bereits viele aus meiner Familie der Bewegung angeschlossen hatten und einige dann im Kampf ihr Leben verloren hatten. Daher wollten die Hevals verhindern, dass meine Familie noch mehr Schmerz erleiden müsse. Auch gab es neben den militärischen Arbeiten viel im sozialen Bereich zu tun. Denn einerseits drängte man den IS zurück, andererseits musste auch ein System der Organisierung und Verwaltung aufgebaut werden. Immer wieder schickten die Hevals mich also zurück und meinten: »Heute nicht Heval Siwar. Wir brauchen dich an anderen Stellen.« Und jedes Mal kehrte ich in die Werkstatt zurück, in der ich arbeitete. Ich reparierte unter anderem auch die kaputten Autos der Hevals und musste jedes Mal zusehen, wie sie an die Front fuhren und ich zurückblieb.

Je mehr Menschen sich den YXK anschlossen, desto schneller weitete sich der Kampf aus. Die Hevals planten dementsprechend eine neue Front vor Til Temir zu eröffnen und gingen dafür mit einer Einheit in das Dorf Xeybîş. Sie planten dort ihr Lager aufzuschlagen, um aus dem Dorf heraus zu agieren. Daher richteten sie auch eine Straßenkontrolle ein. Als die Menschen des Dorfes sie zum Essen einluden, setzen sie sich mit ihnen zusammen, um zu reden und sich gegenseitig besser kennenzulernen. Es befanden sich jedoch auch getarnte Söldner des IS im Dorf, die Betäubungsmittel ins Essen mischten. Es dauerte nicht lange, bis die Hevals nach dem Essen und während des Teetrinkens mit den Bewohnern des Dorfes einschliefen. Die Söldner des IS hatten diesen Moment abgewartet, und während eine Gruppe von ihnen die Hevals, die die Straßenkontrolle durchführten, angriff, richtete eine weitere Gruppe die schlafenden Hevals einen nach dem anderen hin. Die letzten von ihnen verbrannten sie bei lebendigem Leibe. Neben einigen Hevals, die ich zuvor kennengelernt hatte, befand sich auch mein Cousin Rojdem unter den Getöteten. Nur wenige Wochen später fiel auch noch Rojdems Bruder Îbrahîm. Nun konnte mich nichts mehr halten. Ich ging zu den Hevals und sagte ihnen, dass sie tun könnten, was sie wollten, aber nichts in dieser Welt würde mich mehr davon abhalten können, mich dem bewaffneten Kampf anzuschließen. Nach stundenlanger Diskussion gaben sie schließlich nach. Ich hatte mein Ziel erreicht.

Zurück in Til Temir

Nachdem ich meine Ausbildung in den YXK erhalten hatte, ging ich zurück in die Region von Til Temir. Als Kämpfer kehrte ich in die Heimat zurück, und das Bewusstsein darüber, ließ in mir ganz neue Gefühle aufkommen. Ich hatte mich stark verändert und kam mir vor wie ein ganz anderer Mensch. Als wäre ich neu geboren. Ich machte mir viele Gedanken über die Zukunft. Was würde sein? Wie würde es werden? So marschierten wir auf das Dorf Menacir bei Til Temir zu. Wir blieben dort für eine längere Zeit, in der ich oft als Fahrer unterwegs war und nachts zusammen mit anderen für die Sicherheit und den Schutz der Umgebung verantwortlich war. So fand ich mich langsam in mein neues Leben ein. Auf viele meiner Fragen entwickelten sich langsam Antworten, und so begann ich nach und nach das revolutionäre Leben kennenzulernen. Es gefiel mir, und ich lernte es lieben.

Da in meiner Familie bereits einige ihr Leben im Kampf gelassen hatten, hielten die Hevals stets eine schützende Hand über mich. Sie ließen nicht zu, dass mir etwas geschehe. Wann immer es zu Auseinandersetzungen kam, setzten sie mich ans Steuer eines Autos und übergaben mir die Aufgabe, aus dem Hinterland Munition heranzuschaffen. Ich wollte mit den Hevals nicht diskutieren, da sie andere Probleme hatten, also ließ ich mich auch immer wieder darauf ein.

Das erste Mal im Kampf

Eines Tages starteten die islamistischen Söldner einen umfassenden Angriff auf das Dorf Xeybîş und die gesamte Umgebung von Til Temir. Sie wollten die Gegend mit einem Schlag besetzen. Wir wurden gerufen, um die Verteidigung zu unterstützen, indem wir rund um den Hügel Til Cuma Verteidigungsstrukturen ausbauten, um den Angriff des Feindes zu bremsen. Wir hatten eine Doçka3 zu unserer Verteidigung bei uns, die es uns ermöglichte, unsere Stellung gut halten zu können. Um das Dorf Xeybîş einnehmen zu können, hätten sie es umzingeln müssen, aber dabei standen ihnen unsere Stellungen auf dem Til Cuma im Weg. Es entwickelten sich heftige Gefechte im Dorf und die Hevals mussten die Entscheidung treffen, sich zurückzuziehen, um noch mehr Verluste zu vermeiden. Somit waren wir zur vordersten Front geworden.

Ab vier Uhr morgens nahmen die Dschihadisten vor allem uns ins Visier. Es war das erste Mal, dass ich selbst an den Kämpfen beteiligt war. Ich war so nervös und aufgeregt, dass ich Angst davor hatte, dass mein Herz platzen würde, falls es nur noch ein wenig schneller schlagen würde. Um mich selbst zu motivieren und meinen Drang, mich umzudrehen und wegzulaufen zu besiegen, habe ich mir immer wieder gesagt: »Vergiss nicht, warum du das machst. Nimm deinen Mut zusammen und räche Rojdem, Îbrahîm und die anderen Hevals.« Dann zischte ein Heval mir plötzlich zu, dass sich da schwarze Schatten bewögen. Wenige Sekunden später hatte die Auseinandersetzung begonnen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was alles geschah und wie die Zeit verging. Zu viel passierte auf einmal.

Die feindlichen Kräfte griffen mit voller Kraft an, da sie sahen, dass wir nur wenige waren. Sie wollten den Hügel unbedingt einnehmen, um das von ihnen besetzte Dorf abzusichern. Gerade als unsere Lage immer enger zu werden schien, kam Heval Hîwa mit einigen Hevals, um uns zu unterstützen und um uns ein Stück weit abzusichern.

Wir hatten Heval Hîwa zuvor nicht kennengelernt, aber schon oft von ihm gehört. Alle sprachen von seiner Hevaltî4 und der Art und Weise, wie er kämpfte, lebte und als Kommandant voranschritt. Als es nun hieß, »Heval Hîwa ist da!«, gab uns allein diese Nachricht schon viel Kraft.

Während wir unter Beschuss standen, fiel der Heval neben mir plötzlich zu Boden. Es war das erste Mal, dass ich einen verwundeten Freund sah. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich konnte nicht zu ihm, denn kaum, dass er hingefallen war, hagelte es um uns so viele Kugeln, als ob es regnen würde. Wäre ich aufgestanden und zu ihm gerannt, wäre ich wohl nicht weit gekommen und hätte direkt neben ihm gelegen. Ich erwiderte immer wieder das Feuer, meine Augen ruhten jedoch auf dem Heval. Ich sah, dass er am Kopf getroffen war und dass es eine schwere Verletzung sein musste, er aber am Leben war. Heval Hîwa kam von hinten zu mir. Er hatte mitbekommen, dass der Heval verwundet worden war. Wir sprachen uns kurz ab, dann gab ich ihm Deckung und er robbte los. Er packte den Freund am Fuß und beeilte sich, ihn in die Stellung zu ziehen. Dort verband er ihm schnell den Kopf und wir konnten ihn dann Stück für Stück von der Front wegbringen, nur um dann direkt wieder unsere Plätze einzunehmen.

Kurze Zeit später kniete ich gemeinsam mit Heval Devrîm in einer Stellung. Ich hatte den Freund noch nicht vergessen, und das Bild, wie er getroffen zu Boden fiel, ging mir nicht aus dem Sinn. Heval Devrîm hatte viel Erfahrung und war schon in vielen Auseinandersetzungen gewesen, deswegen hatten uns die Hevals zusammengestellt.

Es war mittlerweile schon spät in der Nacht geworden. Die Dschihadisten hatten bis dahin große Verluste hinnehmen müssen. Trotzdem war es nicht leichter geworden, denn wir waren müde. Da ich so wenig Erfahrung hatte, fiel es mir ungemein schwer, auszumachen, aus welcher Richtung ich beschossen wurde, auch wenn das Mündungsfeuer die Stellungen der Feinde gut erkennbar machte. Heval Devrîm riss mich daher immer wieder an der Schulter nach unten oder zur Seite, um mich aus der Schusslinie zu holen. So passierte es dann einmal, dass ich mich wegducken wollte, mich dabei jedoch genau in die falsche Richtung duckte. Just in dem Moment als Heval Devrîm mich schnell in die andere Richtung zog, traf mich ein dumpfer Schlag am Kopf, so dass ich vor Schock zu Boden fiel. Vor lauter Überraschung und ohne zu wissen, was überhaupt passiert war, sagte ich reflexartig »Au!«. Heval Devrîm schaute mir ins Gesicht und grinste: »Hast du gesehen Heval Siwar? Du schützt dich nicht gut genug. Viel hat nicht gefehlt.« Er hatte mich gerade im letzten Moment herumgerissen. Die Kugel hatte mich am Kopf nur leicht gestreift. Hätte er nicht reagiert ... aber so etwas wie »hätte«, gibt es im Krieg nicht.

Langsam ging uns die Munition aus, denn wir hatten uns nicht auf ein so langes Gefecht eingestellt. Da der Nachschub unter meiner Verantwortung stand, musste ich eine Lösung finden. Ich schickte immer wieder kleine Teams los, um Munition zu holen, doch kamen sie irgendwann nur noch mit leeren Händen zurück. Neue Munition musste aus Til Temir herangeschafft werden, und das konnte nur ich selbst erledigen. Ich wollte mich aber nicht von den Hevals an der Front losreißen. Erst als Heval Devrîm mich mit ruhiger aber sicherer Stimme ansprach und mir dir Wichtigkeit dieser Aufgabe in kurzen Worten zusammenfasste, machte ich mich auf den Weg. Der Weg war weiter als gedacht, und ich verspätete mich deutlich. Als ich den Hügel wieder erreichte, waren die Gefechte bereits eingestellt worden. Beide Seiten hatten sich in ihre Stellungen zurückgezogen und ruhten sich aus.

Gegenoffensive gestartet

In der Offensive war es dem IS gelungen, einige Gebiete um Til Temir zu besetzen, weswegen wir auch noch länger auf dem Hügel blieben und ein weiteres Vorrücken an dieser Stelle verhinderten. Es war die Zeit, in der wir die Gegenoffensive »Şehîd5 Gelhat« starteten. Durch die Offensive wurden die Dörfer auf dem Weg nach Kobanê befreit und der Grundstein der Befreiung Kobanês gelegt. Parallel dazu begann unsere Offensive »Sehîd Rûbar«, welche die Befreiung der Cizîrê-Region einleitete. Auch unser Tabûr6 sollte Teil dieser Offensive sein, weswegen wir in gemeinsamen Sitzungen die Pläne diskutierten. Wir beteiligten uns an der Offensive »Şehîd Rûbar«, die sich auch schnell gut entwickelte. Es gelang uns rasch, nahezu täglich zwei oder drei Dörfer zu befreien. So erreichten wir bald den Berg Evdil Ezîz, aber wir hatten bis dahin auch viele Gefallene in den eigenen Reihen.

Persönlich konnte ich mir während der Offensive einen Traum erfüllen. Mein Cousin – Sehîd Rojdem – hatte als Verantwortlicher einer Doçka gekämpft und ich hatte mir daher immer gewünscht, in seine Fußstapfen zu treten. Nicht nur, dass ich im Rahmen der Offensive die Möglichkeit bekam, als Verantwortlicher einer Doçka zu kämpfen, ich erhielt tatsächlich auch genau die Doçka von Şehîd Rojdem. Sie begleitete mich lange und kam oft zum Einsatz. So sehr ich mich um ihre Pflege bemühte, zeigte sie doch zunehmend starke Verschleißspuren. So kam es, dass ich mich gemeinsam mit Heval Ednan in einer Gefechtspause auf den Weg machte, um die Doçka reparieren zu lassen.

Wir warteten gemeinsam im Dorf Til Hemam darauf, dass die Doçka wieder Instand gesetzt wurde. Damit wir etwas Nützliches tun konnten, teilten uns die Hevals in die Absicherung der Umgebung ein. Wir hatten viele Dörfer der Umgebung befreit, doch bedeutete das oft nicht viel. Viele der Menschen, die in den Dörfern lebten, standen lange unter der Dauer-Propaganda des IS und waren misstrauisch. Einige hatten den IS sogar unterstützt aber versuchten, sich jetzt als Opfer zu inszenieren. In manchen Dörfern lebten die Söldner versteckt, nur darauf wartend, im richtigen Moment aktiv zu werden und uns zu attackieren. Es ist wie in allen Revolutionen der Geschichte, dass heroischer Widerstand und garstiger Verrat sehr dicht beieinander liegen. Wir waren uns dessen bewusst und versuchten, dementsprechend immer auf alles vorbereitet zu sein.

Es war Sommer und brütend heiß, wie es in Rojava üblich ist. Heval Ednan und ich saßen gemeinsam im Schatten einer Mauer in der Mitte des Dorfes und beobachteten die Umgebung. Neben uns stand unser Auto, auf der die Doçka normalerweise befestigt war. Sie war mittlerweile auch fertig repariert und wir warteten nur noch darauf, dass uns die Hevals mitteilten, wohin wir uns als nächstes begeben sollten. Da meinte Heval Ednan zu mir: »Schau mal Heval Siwar. Da kommen ein Motorrad und dahinter einige Leute genau in unsere Richtung.« Wir machten uns also auf und gingen ihnen entgegen. Auf die Frage, warum sie gekommen seien, antworteten sie uns, sie seien gekommen, um einige Sachen aus ihren Häusern zu holen. Sie hätten hier gewohnt, bis die Islamisten sie verjagt hätten. Damals hätten sie keine Möglichkeit gehabt, etwas einzupacken und mitzunehmen. Das wollten sie nun nachholen. Wir sagten ihnen, dass es gefährlich sei, da wir die Region noch nicht von den Minen der Islamisten säubern konnten, und wir empfahlen, noch nicht in die Häuser zurückzukehren. Verbieten konnten wir es ihnen nicht, da es schließlich ihre Häuser waren. Sie berieten sich, und eine kleine Gruppe ging in die Häuser. Kurz darauf kamen sie zurück, und gemeinsam verließ die Gruppe das Dorf vorerst wieder.

Nur wenige Minuten, nachdem die Gruppe gegangen war, kam erneut ein Motorrad. Es war ein Mann mit einem Kind. Er deutete auf ein Haus, meinte es sei seines und dass er von dort etwas holen müsse. Seine Antwort auf unsere Frage, wo er gerade leben würde, machte uns stutzig. Er meinte, er käme aus Xeybîş, eben jenem Dorf, wo sich noch immer bekanntermaßen einige Islamisten versteckten. Auch das Haus auf das er nun deutete, hatte keinen guten Ruf, denn dort hatte zuvor einer der Verwalter des IS gelebt. Wir entschieden uns dazu, den Mann und sein Kind erst einmal aufzuhalten und zuerst das Haus zu untersuchen. Die Vermutung war, dass sich vielleicht noch Islamisten im Haus verstecken würden oder dass sich dort versteckte Waffen oder Sprengstoff befinden könnten. Wir ließen Hevals bei den beiden und machten uns auf den Weg zum Haus.

Es war eines der traditionellen Lehmhäuser und umfasste drei Räume. Wir betraten den ersten Raum, welcher komplett leer und ohne Verstecke war. Als nächstes betraten wir den dritten Raum und umgingen dabei zunächst den Hauptraum des Hauses. Hier befand sich lediglich ein alter staubiger Tisch, auf dem zusammengefaltete Tücher und ein paar vereinzelte Batterien lagen. Es fühlte sich falsch an, hier zu sein. Es kam mir so vor, als ob mir jemand ins Ohr flüstern würde: »Geh weg! Du solltest nicht hier sein! Geh!«. Ich wollte auch gehen. Das Haus fühlte sich bedrohlich an. Ich teilte meine Bedenken mit Heval Ednan, der sie jedoch mit einer Handbewegung wegwischte. Er wollte das Haus absichern, denn früher oder später musste das sowieso gemacht werden.

Minenfallen des IS

Ich wollte immerhin vorsichtiger vorgehen, doch auch Heval Ednan war mittlerweile nervös geworden und wollte die Kontrolle möglichst schnell abschließen. Ich konnte ihn noch davon überzeugen, unser Minenräumkommando anzufunken, aber dann wollte er doch nicht mehr warten. Es war, als würde ihn irgendeine Kraft anziehen. Da ich ihn nicht alleine gehen lassen wollte, stellte ich mich hinter ihn, um ihm gegebenenfalls den Rücken freizuhalten. Er stieß die Tür zum großen, letzten Raum des Hauses auf. Die Tür öffnete, sich und ohne zu wissen, was passiert war, lag ich auf einmal an der Wand auf der anderen Seite des Raumes. Ich wusste nicht wo, oben und wo unten war. Überall war Staub, und ich konnte praktisch nichts erkennen. Eine mit der Tür verbundene Mine war explodiert. Ich drehte mich um und konnte spüren, dass mir soweit nichts geschehen war und ich nur leichte Verletzungen hatte. Ich richtete mich also auf, denn ich wollte nach Heval Ednan schauen, doch als ich meinen Fuß aufsetzte, trat ich auf eine zweite Mine, die mich erneut durch die Luft schleuderte und nun vollends das Haus zum Einsturz brachte.

Es dauerte dieses Mal eine ganze Weile, bis ich meine Augen wieder öffnen konnte und wieder zu Bewusstsein kam. Im ersten Moment wusste ich gar nichts mehr. Weder wusste ich, wo ich mich befand, noch was passiert war. Erst langsam kamen Gedanken zurück in meinen Kopf. Die Hevals waren nicht weit von uns entfernt gewesen und kamen nach dem Geräusch der Explosion sofort herbeigelaufen. Meinen Schreien folgend, fanden sie mich unter den Trümmern und zogen mich raus. Ich, der ich noch nicht wirklich bei Sinnen war, hielt sie für Islamisten, die mich verschleppen wollten und schrie und versuchte, mich mit dem letzten bisschen Kraft zu wehren. Erneut verlor ich das Bewusstsein, aber auf dem Weg zum Krankenhaus, kam ich immer wieder zu mir. Ich lag in einem Auto mit meinem Kopf auf dem Knie von Heval Dêrsim, der sah, dass ich für einen Moment wieder zu mir gekommen war. Er fragte mich, wie es mir ginge. »Besser als dir!« antwortete ich ihm und wurde wieder ohnmächtig. Das Nächste, was ich wahrnahm, war, wie ich ins Krankenhaus gebracht wurde und ein Arzt rief: »Den Operationssaal freimachen, wir haben einen Verwundeten!«

Das nächste Mal kam ich dann endgültig wieder zu Bewusstsein. Wieder wusste ich zunächst nicht, wo ich war und seit wann ich hier war. Um mich herum war alles so komisch weiß, und ich war so verwirrt, dass ich weder merkte, in was für einem Zustand ich mich befand, noch, dass ich unfassbare Schmerzen hatte. Als ich merkte, wo ich war, rief ich sofort nach einem Arzt, der auch sofort kam. Ich wollte wissen, was passiert war. Er meinte: »Ach, es ist nichts Großartiges passiert. Du hast eine Kugel ins Bein bekommen. In vier Tagen wirst du wieder aufstehen, und es wird dir wieder gut gehen.« Ich glaubte ihm nicht, denn auch wenn ich noch nicht ganz bei Sinnen war, fühlte sich alles anders an, als wenn ich nur eine Kugel ins Bein bekommen hätte. Ich fragte also noch einmal, worauf der Arzt aber nicht antwortete, sich einfach umdrehte und den Raum verließ. Ich wurde wütend und verstand gar nichts mehr. Ich wollte aufstehen und den Arzt zur Rede stellen, also schob ich die auf mir liegende Decke zur Seite, um mich aufzurichten. Als ich sah, was sich unter der Decke befand, wollte ich es nicht glauben. Ich schlug die Decke schnell wieder zurück und tat so, als ob ich das eben nicht gesehen hätte. Mein Gehirn schien einen Aussetzer zu haben. Immer wieder zog ich die Decke zurück, und hoffte, etwas anderes zu sehen und legte sie dann doch jedes Mal wieder rasch zurück, als ich sah, dass sich nichts geändert hatte. Ich konnte gar nicht mehr denken und wusste nicht mehr weiter. Meine Beine waren einfach nicht mehr da. Erneut rief ich nach dem Arzt. Ich wollte wissen, was passiert war. Was war aus meinen Beinen geworden? Statt mir eine Antwort zu geben, meinte der Arzt nur, dass sie meine Familie gerufen hätten und sie gleich da sein würde.

Nach langer Zeit sah ich zum ersten Mal meinen Bruder und einen meiner Cousins wieder. Ich wollte sofort wissen, was passiert war. Alles andere war mir egal. Als sie erzählten, was sie wussten, fiel es mir Stück für Stück wieder ein, und die erste Frage, die mir in den Sinn kam, war die Frage nach Heval Ednan. Sie sagten mir, dass es Heval Ednan gut gehe und er auch, nicht weit von hier, in einem Krankenhaus liege, sein Zustand aber stabil sei. Seit dem Moment, als er und ich das Haus in Til Hemam betreten hatten, waren mittlerweile 26 Tage vergangen. Ich war in ein Koma gefallen, und es war lange unklar gewesen, ob ich es überhaupt überleben würde. Nun war ich aber zurück, und es freute mich zu hören, dass es auch Heval Ednan gut ging. Ich wollte eigentlich direkt zu ihm, aber mir war klar, dass das gerade schwierig sein würde. Also schwieg ich.

Ich musste noch zweieinhalb Monate im Krankenhaus verbringen, in denen ich mich die ganze Zeit fragte, wie es weitergehen würde. Ich hatte keine Beine mehr. Das schwebte mir die ganze Zeit vor Augen, und es fiel mir schwer, mir auszumalen, was das bedeuten würde. Ich kämpfte mit mir selbst, und oft schien es mir so, als ob ich es nicht aushalten würde. Die Hevals im Krankenhaus sahen das und wollten mich aus dieser Stimmung herausholen. Sie wollten mich aufbauen und mir zeigen, dass ich nicht nutzlos geworden war, nur weil ich meine Beine verloren hatte. Sie wollten mir klar machen, dass der Kampf für mich nicht hier enden würde, sondern ich noch einiges vor mir hätte. Damit ich mich nicht so allein fühle, kamen mich zwei Freunde besuchen, die auch ihre Beine verloren hatten und im Rollstuhl saßen. Was mich besonders an ihnen faszinierte, war die Tatsache, dass von allen Menschen, die ich um mich herum sah, ausgerechnet sie stets die beste Laune hatten. Bei ihnen war so eine große Lust am Leben zu spüren, wie bei niemand anderem. Erst als ich mir das bewusst vor Augen führte, war mir klar, dass es noch viele Jahre sein würden, die es zu kämpfen gelte und vor allem, dass das alles kein Kampf ist, den wir nur auf militärischer Ebene führen müssen. Wir haben eine Gesellschaft zu organisieren und eine Struktur zu schaffen, die Antworten auf die Probleme der Menschen gibt. Ein Kampf, der niemals enden wird, und an dem sich jede und jeder beteiligen kann. So konnte ich mich allmählich wieder sammeln und konnte schließlich das Krankenhaus verlassen. Ich freute mich richtig darauf, meine neuen Arbeiten kennenzulernen, und genauso freute ich mich auch darauf, endlich Heval Ednan wiederzusehen. Kaum standen wir vor der Tür des Krankenhauses, sagte ich zu den Hevals, dass ich direkt zu ihm will. Die Hevals meinten aber zu mir, dass sie mich doch erst einmal nach Hause bringen würden, damit ich mich einleben könne. Wir würden Heval Ednan ja später besuchen können. Ich war wahnsinnig gespannt, wie es ihm ging und versuchte, mich darauf vorzubereiten. Ich wollte nicht überemotional sein, wenn wir uns wiedersehen und wollte ihm vor allem Kraft geben. Aber ich folgte den Hevals erst einmal.

Gedenken der Gefallen im Kampf gegen IS in Til TemirWann immer ich jemanden zu Besuch in mein Haus kommen hörte, horchte ich auf und fragte mich, ob das nun endlich Heval Ednan sei. Tagelang ging das so, bis mich eines Tages die Hevals von der Presse besuchten. Auf die Frage, wie ich ihnen helfen könne, meinte der Heval zu mir: »Wir sind gekommen, weil wir deine Geschichte hören wollten. Wir wollen, dass alle hören, was dir passiert ist und wie Heval Ednan gefallen ist.« Er sagte das so direkt, da er nicht wusste, dass sich bisher niemand getraut hatte, mir das zu sagen. Ich war sprachlos. Niemand hatte es mir gesagt. Ich bat die Hevals freundlich, mich alleine zu lassen. Erst in diesem Moment begann mein neues Leben wirklich. Es war genau dieser Moment, in dem ich mich davon überzeugte, dass ein Apoci7 allen Umständen zum Trotz Widerstand leisten kann und dass es nichts gibt, was eine Kämpferin oder ein Kämpfer auf dem Weg zum Erreichen ihrer oder seiner Freiheit aufhalten kann.

Fußnoten:

1 - »Heval« lässt sich ins Deutsche grob als Freund bzw. Freundin übersetzen und wird meistens als Anrede von den Menschen benutzt, die sich mit der kurdischen Bewegung verbunden fühlen.

2 - Mehrheitlich kurdische Stadt im Norden Syriens, knapp 30 km von der syrisch-türkischen Grenze entfernt.

3 - Die eingekurdischte »DSchK« ist ein überschweres sowjetisches Maschinengewehr im Kaliber 12,7 x 108 mm. Zumeist werden sie auf Autos montiert, um beweglich zu bleiben. Die YPG verfügen mittlerweile sowohl über dieses Modell, als auch über Maschinengewehre größeren Kalibers.

4 - »Hevaltî« lässt sich schwer ins Deutsche übersetzen, würde wörtlich aber Freundschaft bedeuten. Es impliziert die Bindung die jemand mit den Menschen um sich herum aufbaut, wie er/sie mit den Menschen in seinem/ihrem Umfeld umgeht, wie er/sie Menschen hilft und sich für sie entwickelt.

5 - »Şehîd« bedeutet soviel wie Gefallene oder Gefallener und impliziert, dass eine Person ihr/sein Leben im Kampf für etwas, das einen Mehrwert für die Gesellschaft und nicht für sich selbst schafft, gelassen hat.

6 - »Tabûr« ist in der kurdischen Militärsprache die Bezeichnung einer Einheit, die in etwa einem Bataillon entspricht. Bei der heutigen YPG ist die kleinste Einheit das »Tîm« bestehend aus i.d.R. 2–6 Personen, dass »Taxim« mit i.d.R. 10–30 Personen und das Tabûr mit 100 bis hin zu Hunderten Kämpferinnen und Kämpfern.

7 - »Apoci« steht für Menschen, die sich auf die Ideen und Gedanken Abdullah Öcalans beziehen und Teil der Revolution in Kurdistan sind.


 Kurdistan Report 227 | Mai/Juni 2023