Ein Rückblick auf die vierte Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern!«

»Wir wollen unsere Welt zurück!«

Wolfgang Struwe


Ja, sie hat stattgefunden. Einen Tag früher als ursprünglich geplant, am 6. April 2023, konnte die vierte Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern« mit dem Titel »Wir wollen unsere Welt zurück! Widerstand, Rückforderung und Wiederaufbauen! – Autonome Bildung und Organisierung« unter großem Applaus der Teilnehmenden in Hamburg eröffnet werden. Doch nicht, wie die drei vorherigen seit 2012, wie angekündigt im Audimax der Hamburger Universität. Wenige Tage vor dem eigentlichem Beginn des Zusammentreffens von Menschen aus vielen Ländern der Welt, von Kurdistan bis Kanada, von Italien bis Mexiko oder bis zum Amazonas, hatte der Präsident der Universität, Prof. Dr. Hauke Heekeren, den Veranstalter:innen, dem AStA der Universität und dem Bündnis »Network for an Alternative Quest«, aufgrund einer nichtöffentlichen Mitteilung des hamburgischen Verfassungsschutzes die Räumlichkeiten entzogen. »Laut Information des Landesamtes für Verfassungsschutz sind dem Netzwerk mehrere PKK-nahe Gruppierungen zuzurechnen«, erklärte sich die Universitätsleitung in ihrer Stellungnahme dazu.

»Fuck off, Verfassungsschutz!«

Darauf folgte eine starke Solidarisierung; innerhalb kürzester Zeit unterschrieben Hunderte aus dem In- und Ausland eine Protestnote an das Präsidium der Universität, auch, weil mehrere Gesprächsangebote der Veranstalter für eine Lösung vollkommen ignoriert wurden. Am deutlichsten machte sich wohl der Soziologe John Holloway zur Entscheidung der Uni-Leitung Luft. Sein Vortrag in der vierten Session »Bildung« beginnt er mit den Worten: »Wir wollen unsere Welt zurück! Widerstehen, zurückfordern und wiederaufbauen. Macht autonome Bildung und organisiert euch! Und wir rufen mit neuer Wut und mit neuer Entschlossenheit: Fuck off, Dr. Heekeren! Fuck off, Verwaltungsrat der Universität Hamburg! Fuck off, Verfassungsschutz! Wir brauchen euch nicht, wir machen es selbst.«

Ja, und so hat auch das Vorbereitungskomitee gehandelt. Nicht in Frustration und Wut verharrend mussten auf die Schnelle Alternativräume organisiert werden, denn viel Zeit blieb nicht mehr, und ein weiteres Problem war auch, dass die Konferenz wie immer über die Osterfeiertage geplant war, was die Raumsuche nicht wirklich erleichterte.

gut besuchte KonferenzSchließlich konnten entsprechende Räumlichkeiten, das Bürgerhaus in Wilhelmsburg, gefunden werden, wo die Konferenz außer am Samstag stattfinden konnte. Daraus folgte, dass das Programm ein wenig geändert werden musste und bereits am Donnerstagabend mit der Vorführung eines Videos begann, das Redner:innen vergangener Hamburg-Konferenzen zeigte, die inzwischen leider verstorben sind, unter ihnen David Graeber, Michael Panser, Immanuel Wallerstein und Silke Helfrich.

In den folgenden Eröffnungsreden wurde immer wieder die Entscheidung der Uni-Leitung kritisiert: »Es ist ein Skandal und eine Schande, dass eine Universität, die für Wissenschaft, Bildung und Fortschritt steht, sich vom Inlandsgeheimdienst leiten lässt«, betonte Leyla Kaya, Repräsentantin des kurdischen Frauenrats Rojbîn und des Demokratischen Gesellschaftszentrums in Hamburg. Und Luise Dechow von der studentischen Vertretung, dem AStA, brachte den Titel der vierten Konferenz auf den Punkt: »Zu Beginn dieser Konferenz hätten wir nicht gedacht, dass ihr Titel ‚Wir wollen unsere Welt zurück!‘ bedeuten würde: Wir wollen unsere Universität zurück!«

Reimar Heider von der Internationalen Initiative »Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan« ging in seiner Begrüßung auch auf die vermehrten Presseanfragen ein, die sich nach der Kündigung der Räumlichkeiten durch die Universität auf das Verhältnis der Konferenz zur PKK bezogen: »… frage ich mich, was Journalisten und Geheimdienstbeamte meinen, wenn sie fragen, ob eine Nähe zur PKK besteht. Meinen sie, ob die Konferenz sich für demokratische Selbstverwaltung einsetzt? Meinen sie, ob die Konferenz einen radikalen ökologischen Wandel befürwortet? Meinen sie, ob die Konferenz die Organisierung von Frauen befürwortet, um das Patriarchat zurückzudrängen? Wenn wir zu alldem ja sagen, ist das gut und nicht schlecht. Wenn die PKK zu alldem ja sagt, ist das gut und nicht schlecht.«

Dann am Freitagmorgen begann die Konferenz mit einer wirklich bewegenden kurdisch-irischen Musik- und Tanzperformance, welche das Publikum von den Stühlen holte, das begeistert Beifall klatschte und Parolen rief wie »Jin Jiyan Azadî«.

Daraufhin wurde der erste Themenblock, »Das Multizid-Regime«, eröffnet. Der Beitrag der Ko-Sprecherin der Ökologiebewegung Mesopotamiens, Derya Akyol, zum Ökozid in Nordkurdistan wurde verlesen, da sie nicht persönlich teilnehmen konnte. Er kann in dieser Ausgabe des Kurdistan Reports auf den Seiten 8-11 eingesehen werden.

Weitere Beiträge in der ersten Session kamen von Harriet Friedman, Lebensmittelsystemanalytikerin und emeritierte Professorin der Universität Toronto, und von Azra Talat Sayeed, u. a. Vorsitzende der »International Women’s Alliance« (IWA). Sie analysierte die zerstörerischen Folgen des Imperialismus in Pakistan: »Die aktuelle Ernährungs-, Klima- und Wirtschaftskrise des Landes lässt sich auf die halbkoloniale, halbfeudale Produktionsweise zurückführen.«

Für die Klimagerechtigkeitsbewegung in Deutschland war die »Ende Gelände«-Aktivistin Sina Reisch auf dem Podium: Es brauche eine antikapitalistische Analyse, um für Klimagerechtigkeit zu kämpfen.

Nötige Programmänderung

Die zweite Session nach dem Mittagessen, in der es weiter um das »Das Multizid-Regime« ging, wurde von Havin Güneşer, ebenfalls Sprecherin der Initiative »Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan«, eingeleitet. Sie erklärte auch die notwendigen Programmänderungen, die aufgrund des Umzugs der Konferenz in das Bürgerhaus nach Wilhelmsburg notwendig wurden.

Denn am Freitagabend sollte erst einmal Schluss sein im Bürgerhaus. Daher wurde der Samstag ganz den Workshops gewidmet, die dann auch an verschiedenen Orten über den Tag verteilt im Gängeviertel, der Roten Flora, dem Centro Sociale und den Räumen des AStA in der Universität in Hamburg stattfanden. Es hat sich im Nachhinein gezeigt, dass diese Endscheidung auch für folgende Network-Konferenzen berücksichtigt werden sollte. Die 23 Workshops waren so gut besucht, dass die Räumlichkeiten manchmal nicht ausreichten und überfüllt waren. Die Veranstaltungen am Samstag reichten von Diskussionen über Spezialkriegsführung, Jineolojî, armenische Geschichte, Geschichte und Widerstand bis hin zu Kunstprojekten wie dem von Zehra Doğan mit der »Ankebût« (Die Spinne) oder dem von Nika Dubrovski, eine utopische Stadt gemeinsam zu Papier zu bringen, wobei immer neue Diskussionen entstanden bis hin zur Kunst des Geschichtenerzählens und vielem mehr. Am Abend trafen sich dann auch noch viele Konferenzteilnehmende zum gemeinsamen Tanz in der Roten Flora.

Duran Kalkan in der Video-UebertragungBesonders eingehen möchte ich noch auf Duran Kalkans Videobeitrag zur Konferenz in der zusammengelegten fünften und sechsten Session, in dem er einen Blick in die Geschichte der PKK und der Rolle Abdullah Öcalans gab. Kalkan ist Mitglied des Exekutivrats der PKK, die sich, wie er erklärte, »von einer intellektuellen Jugendbewegung zu einer revolutionären Freiheitsbewegung entwickelt hat«.

Die PKK habe bei ihrem radikalen Paradigmenwechsel auch ein grundlegendes Umdenken in ihrer Definition von Führung vollzogen: »Während sie den demokratischen Konföderalismus als den Körper der demokratischen Nation – die politisch-militärische Sphäre – definiert, bezeichnet sie die Parteiführung als deren Seele. Sie ist der Geist der demokratischen Gesellschaft oder der Gesellschaft der demokratischen Nation. Mit anderen Worten, die PKK definiert die Parteiführung als Realität der Gedanken, Gefühle und Bildung. Auf diese Weise vollzog sich der Wandel in der PKK.« In der kurdischen Bewegung wird Abdullah Öcalan Rêber Apo genannt. Rêber ist Kurdisch und bedeutet auf Deutsch Wegbereiter. Kalkan betonte, es sei wichtig, den Unterschied zwischen »dem wegbereitenden Rêber und dem wegbeschreitenden Anführer zu erkennen«. Ein Rêber sei eine Person, »die den Weg findet, ihn öffnet und bewahrt. Sie bildet und organisiert, befasst sich mit dem Geist und der Mentalität, damit dieser Weg gegangen wird«.

Ein erfolgreicher Abschluss

Am späten Sonntagnachmittag fand die vierte internationale Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern« mit einer Zusammenfassung der Inhalte der vergangenen Tage durch Havin Güneşer ihr Ende: »Wir haben gemeinsam von einer besseren Welt geträumt! Wir wissen, wie wichtig es ist, uns zu verbinden. Wir sind die 99 Prozent! Wir sind die Produzenten von Leben und Liebe!« Sie dankte noch einmal allen, die die Konferenz unter diesen widrigen Umständen so erfolgreich ermöglicht haben.

Neben dem reichhaltigen Programm mit den Gästen aus unterschiedlichsten Bewegungen und verschiedenen Ländern dieser Welt fanden viele Begegnungen und interessante Diskussionen auch außerhalb im Foyer und vor dem Wilhelmsburger Bürgerhaus statt. Die Teilnehmenden der Konferenz haben verdeutlicht: Wir wollen und brauchen unsere Welt zurück. Vieles ist durch das kapitalistische patriarchale System zerstört worden und es braucht den Willen und den Mut zu Widerstand, Rückeroberung und Wiederaufbau. Die Durchsetzung der Konferenz und der Raum, der durch sie geöffnet wurde, waren darin ein weiterer wichtiger Schritt. Reimar Heiders Prophezeiung bei der einleitenden Begrüßung: »Die Konferenz wird nicht perfekt, aber sie wird wieder großartig«, hat sich bewahrheitet. Aus den Steinen, die den Veranstalter:innen in den Weg gelegt wurden, sind von den Teilnehmenden der Konferenz beeindruckende Orte der Begegnung, des Voneinanderlernens und des Kennenlernens geschaffen worden.

Auf der Internetseite von »Network for an Alternative Quest« (www.networkaq.net) sind bereits die ersten Mitschnitte der einzelnen Sessionen, ein visueller Rückblick und vor allem auch das Video mit der irisch-kurdischen Musik- und Tanzperformance zu sehen.


 Kurdistan Report 227 | Mai/Juni 2023