Geschichtsforschung als Voraussetzung für Herausforderung der kapitalistischen Moderne

Mit dem Mut der Jeanne d’Arc

Matilda J. Gage, autonome Gruppe in der Initiative Geschichte und Widerstand


Wir werden nicht die Geschichte der Besiegten erzählen, denn wir wurden nicht besiegt. 5000 Jahre Patriarchat bedeuten auch 5000 Jahre Widerstand und freiheitliche und kommunale Lebensweisen und Werte, die insbesondere von Frauen und anderen Geschlechtern durch die Zeit weitergetragen und verteidigt wurden. Sie waren die erste Kolonie des Patriarchats und damit auch die Ersten, die Widerstand organisierten und das Leben verteidigten. In den Märchen, in den Bräuchen, in Gute-Nacht-Geschichten und Liedern finden wir Spuren schon verloren geglaubter Artefakte, eine wirkmächtige Erzählung, über Generationen weitergetragen, oft im Verborgenen – wir hören sie flüstern: »Wenn jemand sagt, du sollst dich abfinden, dich fügen, weil das sei, wie es eben sei und schon immer war, dann lügt er. Was ist, das ist das Ergebnis unermüdlichen Ringens zwischen Herrschaft und Freiheit, und du, du bist ein Teil der Kräfte, die vereint diesen Kampf für die Freiheit entscheiden werden. Mit dem Mut der Jeanne d’Arc, mit der Kriegskunst der Amazonen, der Gerechtigkeit von Frau Holle und der Weisheit der Nornen.«

Als »Matilda J. Gage«, als autonome Gruppe innerhalb der Initiative Geschichte und Widerstand, haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, uns insbesondere die Geschichte von Frauen und Menschen weiterer Geschlechter in Mitteleuropa anzuschauen. Als Frauen und nicht binäre Menschen ist die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte auch deshalb von Bedeutung, da eben diese Geschichte systematisch verleugnet, unsichtbar und verschwunden gemacht wurde. Von Matilda J. Gage bis Silvia Federici können wir dabei auf die Arbeiten und Forschungen vieler aufbauen, die zu verschiedenen Zeiten ähnliche Fragen bewegt haben. Die Philosophie Abdullah Öcalans gibt uns dabei das Werkzeug zu Analyse und Interpretation.

There is a word sweeter than mother, home or heaven. That word is liberty. (Matilda J. Gage)

Mathilda J. GageWir haben uns nach Matilda Joslyn Gage benannt, die, 1826 in den USA geboren, eine radikale Freiheitskämpferin war, die von Beginn an die verschiedenen Kämpfe ihrer Zeit zusammendachte und -brachte. Sie prägte mit ihrem Einsatz, öffentlichen Reden und Schriften maßgeblich die Suffragetten-Bewegung (Frauenwahlrechtskampf), kämpfte für die Abschaffung der Sklaverei und für indigene Rechte. Sie kämpfte auch gegen die Vereinnahmung der Suffragetten-Bewegung durch das konservative Lager, welches den Frauenwahlrechtskampf auf Kosten der Anti-Sklaverei-Bewegung auf die Erringung des Wahlrechts für weiße Frauen reduzierte und grundsätzliche soziale Reformen ablehnte.

In vielen Punkten trat sie durch ihre radikale Haltung und Analyse sowie ihr Geschichtsbewusstsein aus der damaligen Frauenbewegung hervor. Sie stellte den Glauben in Frage, dass die Geschichte ein Prozess der allmählichen Verbesserung, der Evolution hin zu einem zivilisierteren Ziel sei, und wies darauf hin, dass es in der Vergangenheit Frauen gegeben habe, die mehr Freiheit genossen und eine größere Rolle in der Gesellschaft gespielt hatten. Aus diesen Gründen haben wir uns, als wir vor ungefähr drei Jahren mit den Geschichtsarbeiten im autonomen Rahmen begannen, nach ihr benannt. Unsere persönlichen Geschichten mit der Geschichtsforschung beginnen weit früher und wir sind nun an dem Punkt, die Forschungen der vergangenen Jahre zusammenzutragen, sie in eine Form zu bringen, in der sie kollektiviert und diskutiert werden können. Schwerpunkte der Arbeiten waren und sind die Geschichte der Geschlechtervielfalt, Ursachen und Folgen der Hexenverfolgung, Frauen in der Landwirtschaft und Biografien von Frauen, die unser Verständnis von Kämpfen zu verschiedenen Zeiten vertiefen.

Wie könnten wir unsere Menschlichkeit erkennen, ohne die Geschichte zu verstehen? (Abdullah Öcalan)

Sich der eigenen Geschichte bewusst zu werden in ihrer ganzen Dimension bedeutet auch, sich der gesellschaftlichen Wahrheit anzunähern. Zu verstehen, wie sie in den heutigen Zustand geraten ist, zu verstehen, wo die Ursprünge gegenwärtiger Probleme zu finden sind, kann uns einen Schlüssel zu ihrer Lösung geben. Mit dieser Absicht, mit diesem Ziel beginnt die Suche, das ist die Frage, die alles ins Rollen brachte. Die Fragen, die sich daran anschließen – Wer bist du? Was suchst du, und mit wem? Wie sucht ihr und wo? –, führen, jetzt, wo das Ziel klar ist, zu dem Weg, um dorthin zu gelangen. Kurz, die richtige Methode ist entscheidend, denn mit den Methoden der Herrschenden werden wir zu falschen Ergebnissen kommen. Du kannst dich nicht heraushalten, nicht von außen als »objektive Instanz« forschen, während du gleichzeitig den Faden, der lange vor dir begonnen wurde, weiterspinnst. Auch andere Methoden der positivistischen Wissenschaft führen zu unzureichenden Ergebnissen, da ein dichotomes Denken die komplexe Wirklichkeit mit all ihren Schattierungen, Zwischentönen, Parallelitäten und Beziehungsgeflechten nicht fassen kann. Um das fassen zu können, also für eine ganzheitliche Erzählung, müssen wir auch einen ganzheitlichen Blick entwickeln, die Geschichte als lebendigen Prozess begreifen, als Kreislauf wie die Jahreszeiten oder Planetenbahnen und doch nicht in vorherbestimmten Bahnen verlaufend. Herausgezoomt auf einen langen Zeitabschnitt lassen sich Phasen, Brüche und Übergänge erkennen, zeigt sich die Bedeutung einzelner Momente für den weiteren Verlauf der Geschichte. Es zeigen sich wiederkehrende Motive wie der Muttermord durch den Sohn in den Mythologien unterschiedlicher Kulturen oder die Vergeschlechtlichung von Gottheiten in den Schöpfungsmythen. Die Zeiten großer Umbrüche, dann, wenn die fortwährende Wahrheitssuche der Menschheit in neue Methoden mündet, das Leben zu verstehen – der Übergang vom Wahrheitsregime der Mythologie zu Religion und später von Religion zu Wissenschaft –, brachten immer auch eine Verfestigung und Vertiefung des Patriarchats mit sich, einen Prozess, der sich zum Beispiel sehr eindrücklich in der Frühen Neuzeit abspielte und dessen Auswirkungen wir heute noch immer zu spüren bekommen. Denn der Übergang von Religion zu Wissenschaft markierte den Beginn der kapitalistischen Moderne. Er ging Hand in Hand mit der Zerstörung der gesellschaftlichen Position der Frau durch die Hexenverfolgung, die Kolonisierung der Welt durch die Versklavung und Verschleppung abertausender Menschen und die massenhafte Privatisierung von Land, was zu einer Masse an Besitzlosen führte, die fortan von den Herrschenden nach Bedarf als Arbeitskraft auf Stadt, Land oder Meer verteilt werden konnte.

Die Auswirkungen der Hexenverfolgung spüren wir bis heute, der Kampf um die (körperliche) Selbstbestimmung von Frauen ist noch lange nicht zu Ende gefochten. Das Fehlen des Wissens, welches uns die neuzeitlichen Despoten, die sich zu den Herren der Schöpfung aufschwingen wollten, entrissen, fällt uns bis heute auf die Füße.

Wenn wir lernen zu begreifen, wie die Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, entstanden sind, werden wir Lösungen entwickeln, die ganzheitlich genug sind, um die kapitalistische Moderne herauszufordern.

»Die Frauen von heute sind die Gedanken ihrer Mütter und Großmütter, verkörpert und lebendig gemacht. Sie sind aktiv, fähig, entschlossen und zum Sieg entschlossen. Sie haben eintausend Generationen vor sich ... Millionen von Frauen, die bereits tot und verschwunden sind, sprechen heute durch uns.« (Matilda J. Gage)


 Kurdistan Report 227 | Mai/Juni 2023