Aktuelle Bewertung

Der Kampf mit der Türkei wird die Neuordnung der Region bestimmen

Songül Karabulut, Nationalkongress Kurdistan (KNK)


Jin Jiyan Azadi - Das Leben verteidigenIm vergangenen Jahr 2022 weitete sich der 3. Weltkrieg mit dem Ukrainekrieg geographisch Richtung Europa aus. Die Menschen wurden im Zuge dessen durch die nukleare Bedrohung eingeschüchtert. Nicht nur die Menschen in der Ukraine und Russland sind den zerstörerischen Folgen des Krieges ausgesetzt; dessen Folgen sind auch in Europa, dem Mittleren Osten und dem Rest der Welt zu spüren. Auf den Mittleren Osten wirkte sich dieser Krieg auf die Kräfteverhältnisse aus.

Der Mittlere Osten stellt noch immer das Zentrum des 3. Weltkrieges dar. Seit September finden im Iran landesweite Proteste statt, die vom Mullah-Regime brutal angegriffen werden. Die Türkei ist weiterhin der größte Destabilisierungsfaktor in der Region. Im Irak wurde nach einem Jahr endlich eine Regierung gebildet, doch die Probleme sind nicht behoben. Im Gegenteil: Die Konflikte und die Polarisierung im Land nehmen mit jedem Tag zu.

Ostkurdistan und Iran

Der Iran verfolgt seit dem Beginn des 3. Weltkrieges die Strategie, den Krieg außerhalb seiner Grenzen zu führen und in den anderen Ländern der Region zu halten. Dabei profitiert er von der regionalen Instabilität. Der Stellvertreterkrieg zwischen dem Iran und den USA findet daher in Afghanistan, Jemen, Libanon, Syrien und vor allem im Irak statt. Die Achillesferse des Irans ist der gesellschaftliche Widerstand im Inland. Seit September ist das Land mit unerwarteten innenpolitischen Protesten konfrontiert. Nachdem die iranische »Sittenpolizei« die kurdische 22 Jahre junge Frau Jina Amini am 13. September festnahm und durch Folter ermordete, befindet sich das Land in Unruhe. Der Grund ihrer Festnahme war, dass sie ihre Kopfbedeckung nicht entsprechend den religiösen Vorschriften trug, so dass Haarsträhnen zu sehen waren. Dieser Mord wurde zu einem Funken, der ein großes Feuer entfachte. Seit mehr als 2 Monaten finden nun im Iran ununterbrochen landesweite Proteste statt. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen fanden die Proteste in 156 verschiedenen Orten und 143 Universitäten statt. Auch wenn der Iran die USA und iranisch-kurdische Exilgruppen im Irak verantwortlich macht, der Grund für den Ausbruch dieser Proteste ist die harte Repressionspolitik des Regimes gegenüber den ethnischen und religiösen gesellschaftlichen Gruppen sowie gegenüber den Frauen. Der Iran hat es versäumt, den Forderungen der Gesellschaft nach Demokratie und Freiheit nachzukommen. Bei der Bestattung von Jina wurde die Parole »Jin Jiyan Azadî« (Frau, Leben, Freiheit) gerufen. Dieser Slogan verbreitete sich wie Wind im gesamten Iran und weltweit. Aus Protest schnitten sich Frauen ihre Haare ab und riefen »Wir wollen nicht in euer Paradies«. Es handelt sich um einen Frauenaufstand gegen die patriarchale Mentalität und Politik, der alle Forderungen nach Demokratie und Freiheit im ganzen Land vereint hat. »Jin Jiyan Azadî« steht für die Forderung nach einem freien, gleichberechtigten Leben. Die Entwicklungen im Iran zeigen nicht nur, dass Kräfte innerhalb des Systems versuchen, die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern, sondern sie zeigen auch den Widerstand der Völker.

Während der Iran im Inland brutal gegen die Proteste vorgeht, steigert er auch den Druck im Ausland. Menschenrechtsorganisationen sprechen von mehr als 450 getöteten Protestierenden und über 18 000 Festnahmen seit Beginn der Proteste im Iran. Die iranischen Revolutionsgarden gehen vor allem gegen Kurd:innen und Belutsch:innen brutal vor. Informationen darüber, dass der Iran eine große Anzahl seiner Streitkräfte in die kurdischen Gebiete verlagert, werden auch von Augenzeug:innen bestätigt. Das beunruhigt die Kurd:innen zu Recht. Bereitet sich der Iran auf eine Invasion kurdischer Gebiete vor? Das ist die große Frage. Es ist nicht absehbar, wie sich die Lage im Iran entwickeln wird, doch eins ist bereits jetzt klar: Der Iran ist nicht mehr der Iran von vor dem 13. September.

Die Lage in Südkurdistan und im Irak

Der Irak ist ein Schauplatz von Stellvertreterkriegen. Die USA versuchen, den Irak gemeinsam mit der Türkei und Saudi-Arabien zu formen, während der Iran bestrebt ist, seinen Einfluss auf die Schiit:innen zu stärken. Doch die Bevölkerung des Landes ist Müde von diesem Hin und Her. Vor diesem Hintergrund war die Wahlbeteiligung am 10. Oktober 2021 sehr gering (ca. 30%). Das irakische Parlament hat 329 Sitze. Mit einem neuen Wahlsystem ging die schiitische Kraft (Fetih-Koalition), die vom Iran unterstützt wird, geschwächt aus den Wahlen hervor (17 Sitze), während die Al-Sadr-Bewegung mit 73 die meisten Sitze erlangte. Weil er keine Regierung bilden konnte, wie er es erhofft hatte, zog Al-Sadr alle seine 73 Abgeordneten aus dem Parlament zurück, rief seine Anhänger auf die Straße und besetzte das Parlament. Als selbst das nicht zu den gewünschten Ergebnissen führte, erklärte er seinen Rücktritt aus der Politik. Momentan ist Al-Sadr ruhig, aber es ist nicht abzusehen, für wie lange.

Nachdem Al-Sadr sich aus dem Parlament zurückgezogen hatte, gingen die Sitze an die zweitstärkste Kraft über, so dass die Fetih-Koalition schließlich 138 Sitze hat. Die sunnitische Koalition hat 37 und die PDK (Demokratische Partei Kurdistans) 31 Sitze. Beide Kräfte hatten mit Al-Sadr zusammengearbeitet. Ihr Ziel war es, den Einfluss Irans im Irak zurückzudrängen und gemeinsam eine Regierung zu bilden.

Erst ein Jahr nach den Wahlen im Irak konnte am 13. Oktober 2022 eine neue Regierung gebildet werden. Die PDK beansprucht das Amt des Staatspräsidenten für sich, weil sie mehr Sitze erlangt hatte als die YNK (Patriotische Union Kurdistans). Nach langem hin und her konnte schließlich das Staatspräsidentenamt von der YNK besetzt werden. Der neue Irakische Staatspräsident heißt Abdul Latif Rashid, während der Schiite Mohammed Schai al-Sudani als neuer Ministerpräsident fungiert.

Wie man sieht, hat sich an den Kräfteverhältnissen im Irak nichts bedeutend verändert, außer den Namen. Und wie wir sehen, sind die »Wahlsieger« von vor einem Jahr die Opposition von heute, während die »Opposition« von vor einem Jahr sich heute an der Macht befindet.

Niemand erwartet ernsthaft, dass diese Regierung die Probleme des Iraks lösen wird. Der iranische Einfluss ist mit dieser Regierung erneut bestätigt worden, während die USA dieses Mal kürzer gekommen zu sein scheinen. Und kaum ist die neue Regierung an der Macht, erhöht der Iran seinen Druck. Erneut hat Teheran Stützpunkte iranisch-kurdischer Exilgruppen im Irak angegriffen. Ziel waren die PDK-I (Demokratische Partei Kurdistan-Iran) und die Komala. Es gab bereits vier Angriffe innerhalb der letzten zwei Monate 2022. Teheran wirft den iranisch-kurdischen Parteien im Irak vor, die Proteste im Iran anzuheizen. Der irakische Sicherheitsrat erklärte als Reaktion, er werde irakische Soldaten an der Grenze zum Iran, der Türkei und Syrien stationieren. Sollte dies wirklich umgesetzt werden, würde das den Kontrollverlust der Regionalregierung der KRI (Kurdistan-Region Irak) über ihre Grenzen bedeuten: Seit 1991 befinden sich keine irakischen Sicherheitskräfte in Kurdistan. Sie wurden mit der Unterstützung der USA aus Kurdistan verdrängt. Nach dem einseitigen Referendum 2017 verlor die KRI sowohl Gebiete als auch politischen und wirtschaftlichen Einfluss. Wir beobachten erneut die Bemühungen der regionalen Nationalstaaten, ihren jeweiligen Status zu stärken. Vor diesen Hintergründen können wir sagen, dass die Errungenschaften der Kurd:innen in Nordirak immer gefährdeter sind. Der Einfluss der Türkei in Nordirak ist ebenfalls bedrohlich gewachsen. Sie setzt die politischen Parteien unter Druck, sie im Kampf gegen die PKK zu unterstützen. Während die PDK seit längerem die antikurdische Politik der Türkei unterstützt, ist es bei der YNK nicht so offensichtlich. Die Türkei hat ihre politischen Morde gegen die Kurd:innen in dem von der YNK kontrollierten Gebiet erhöht. Am 4. Oktober wurde die Kurdin Nagihan Akarsel, die in Silêmanî als Mitglied der Jineolojî-Akademie am Aufbau einer Frauenbücherei arbeitete, auf offener Straße mit elf Kugeln ermordet. Der türkische Botschafter in Bagdad Ali Riza Güney gestand nur wenige Tage nach dem Mord bei einer Pressekonferenz in Hewlêr (Erbil) den Mord und erklärte, es würden weitere Folgen.

Vorbereitungen für eine neue Offensive der Türkei in Nord- und Ostsyrien

Während dieser Artikel verfasst wird, greift die Türkei Nordsyrien mit Kampfflugzeugen, bewaffneten Drohnen und Artillerie an, ohne sich auf ein bestimmtes Gebiet zu begrenzen. Von Westen (Efrîn) über Minbic, Kobanê, Girê Spî, Amudê, Qamişlo, Til Temir und Dêrik: Städte und Dörfer werden aus der Luft angegriffen. Nicht nur entlang der Grenze, sondern auch tief im Inneren des Landes (70 km von der Grenze) erfolgen Angriffe. Während die Angriffe aus der Luft anhalten, kündigt Erdoğan an, dass auch Bodentruppen angreifen werden. Dass es dazu kommt, ist nicht völlig ausgeschlossen. Jede:r weiß, dass die Türkei für eine Militäroperation in Nord- und Ostsyrien die Zustimmung von Russland und den USA benötigt. Ohne deren Zustimmung ist ein Angriff der Türkei nicht denkbar. Die Verhandlungen halten an, und die Türkei versucht, all ihre Trumpfkarten einzusetzen.

Mitte des Jahres hatte die Türkei bereits ihren Druck erhöht, um Nord- und Ostsyrien zu überfallen. »Wir werden plötzlich einfallen, wenn es soweit ist«, sagte Erdoğan. Das war das große Thema bei dem Treffen zwischen Putin, Raisi und Erdoğan im Juli, sowie bei dem Sotschi-Treffen zwischen Erdoğan und Putin im August. Damals konnte die Türkei die erhoffte notwendige Zustimmung nicht erreichen und musste sich mit der Erlaubnis für begrenzte gezielte Drohnenangriffe zufrieden geben. Was also ist geschehen, dass Russland sich dafür entschied, den Luftraum für die jüngsten Angriffe der Türkei freizugegeben?

Am 13. November explodierte im Zentrum von Istanbul eine Bombe, riss 6 Menschen in den Tod und verletzte Dutzende. Ohne dass der Vorfall aufgeklärt wurde und obwohl die PKK jegliche Verbindung zu dem Anschlag dementierte, erklärte der türkische Innenminister, die PKK und die YPG/YPJ seien die Urheber:innen des Anschlages und versprach Vergeltung. Nur eine Woche später begann die türkische Armee die Militäroperation »Klauenschwert«. Bei ihren Angriffen auf Syrien und Südkurdistan/Nordirak berief sich die Türkei auch auf Artikel 511 der Charta der Vereinten Nationen.

Vertuschte Hintergründe des Bombenattentats in Istanbul

Viele Kenner der Türkei bzw. der AKP waren zu Recht skeptisch bezüglich der Urheberschaft des Bombenattentats. Die Macht der AKP wackelt. Die Türkei hat ein großes Wirtschafts- und Demokratieproblem. Offiziell finden im Juni 2023 Wahlen im Land statt, doch die aktuellen Umfragen beunruhigen die AKP. Sie wird auch diesmal versuchen, mit ihrer Kriegspolitik die Wahl für sich zu entscheiden. Wir haben es mit einem Machthaber zu tun, der sich mit allen Mitteln an die Macht klammert. Diese Regierung hat so viel Dreck am Stecken, angefangen von Korruption bis hin zu Kriegsverbrechen, dass sie für all das zur Rechenschaft gezogen werden wird, sobald sie nicht mehr an der Macht ist. Um das zu verhindern, ist sie bereit, noch deutlich mehr Verbrechen zu begehen. Genauso scheint es nun auch zu kommen: Inzwischen wissen wir über die Täterin des Istanbul-Anschlags, die kurz nach der Bombenexplosion festgenommen wurde, dass sie aus einer dschihadistischen Familie stammt. Ahlam Albashir hat drei Brüder als IS-Kämpfer verloren, und einer ihrer Brüder ist ein Kommandant im von der Türkei besetzten Efrîn. Die Telefonkarte, die sie benutzt hat, ist auf den Namen eines MHP-Ortsvorsitzenden zugelassen. Diese rechtsextreme Partei ist im Regierungsbündnis mit der AKP. Der syrische Araber Ahmad Haj Hasan, der festgenommen wurde, weil Ahlam Albashir vorübergehend in Istanbul bei ihm gewohnt haben soll, erklärte in seiner Aussage, noch nie etwas mit der PKK zu tun gehabt zu haben; jedoch sein Bruder sei als Kämpfer für die FSA2 gefallen.

Es handelt sich um ein bewusst herbeigeführtes Szenario, mit dem die Türkei ihren lang ersehnten Plan, Rojava zu besetzen, umsetzen möchte. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) hat im Parlament einen Antrag zur Untersuchung des Anschlags gestellt, der jedoch mit den Stimmen von AKP und MHP abgelehnt wurde. Wer offenen Fragen im Zusammenhang mit dem Anschlag nachgeht, wird als Verräter:in behandelt. Die Wahrheit wird vertuscht, und alles soll im Dunkeln bleiben.

Der Krieg der Türkei gegen die Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien

Die Türkei bombardiert die Städte und Dörfer Nord- und Ostsyriens mit dem Ziel, zum einen die Bevölkerung zur Flucht zu zwingen und zum anderen, die Verteidigungskräfte von der Grenze zurückzudrängen. Sie versucht den Weg zu ebnen, d.h. die Region für einen Bodenangriff vorzubereiten. Die Türkei greift nicht nur militärische Stellungen an, sondern vermehrt auch die Infrastruktur in der Region. So wurden agrarwirtschaftliche Anlagen zerstört, Öl- und Gasfelder sowie Elektrizitätswerke angegriffen, Getreidesilos bombardiert und Krankenhäuser dem Boden gleich gemacht. Die Türkei nutzt die Gelegenheit auch, um inhaftierte IS-Gefangene frei zu bomben. So kam es zu Angriffen auf das Camp Hol, in deren Folge zahlreiche IS-Gefangene flüchten konnten.

Im Oktober hat die Türkei die militärische Kontrolle der Region Efrîn, die sie seit 2018 besetzt hält, der dschihadistischen Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) übergeben. Die unterschiedlichen dschihadistischen Gruppen, die in Efrîn unter dem Schirm der Türkei operieren, waren in den letzten Jahren außer Kontrolle geraten und zunehmend zersplittert. Darum hat die Türkei HTS in die von ihr besetzen Gebiete gebracht, um alle anderen Gruppen unter deren Dach zu bündeln. Das wurde als Vorbereitung für weitere Besatzungspläne der Türkei verstanden. Die Türkei wird diese Kräfte auch in Zukunft einsetzen, wenn sie versucht, weitere Teile Nordostsyriens zu besetzen. Bei den jüngsten Angriffen sind auch viele syrische Soldaten ums Leben gekommen. Die Türkei versucht, dass ­syrische Regime auf diese Weise unter Druck zusetzen.

Zusammenspiel der Türkei und anderer Mächte im Mittleren Osten

Ich hatte zu Beginn geschrieben, dass der Ukraine-Krieg sich auch auf den Mittleren Osten auswirkt. Russland möchte das NATO-Mitglied Türkei im Kampf gegen die NATO auf seine Seite ziehen. Hinter den Kulissen heißt es, dass die Türkei im Gegenzug dafür, dass Russland den Luftraum von Nord- und Ostsyrien geöffnet hat, ihren Luftraum für Russland öffnen wird. Auch wissen wir von den Bemühungen Russlands, die Türkei und das Assad-Regime zusammenzubringen. Es wurde bekannt, dass es seit längerem zwischen der Türkei und Syrien auf Geheimdienstebene Gespräche gibt. Erdoğan sagte, es könne Gespräche mit Assad geben: »In der Politik ist kein Raum für Ressentiments.« Russland bot sich in diesem Zusammenhang als Drittland für Gespräche an. Die Interessen und Widersprüche zwischen Erdoğan und Assad sind zu unterschiedlich und zu groß, weshalb eine schnelle Übereinkunft nicht zu erwarten ist. Während die Türkei von Syrien als Vorbedingung die Vernichtung der Autonomieverwaltung und die militärische, politische und wirtschaftliche Rückeroberung Nord- und Ostsyriens verlangt, erwartet Syrien von der Türkei, alle besetzten Gebiete zurückzugeben. Mit dem jüngsten Krieg versucht die Türkei, ihre Position gegenüber Assad zu stärken.

Mitte November wurde bekannt, dass die Geheimdienstchefs der USA und Russlands sich in Ankara unter der Gastgeberschaft des türkischen Geheimdienstes MIT getroffen haben. Offiziell hieß es, bei dem Gespräch sei es um das nukleare Risiko sowie um US-Gefangene in Russland gegangen. Das mag die offizielle Version sein, aber die Entwicklungen zeigen, dass es vielmehr um den Angriff der Türkei gegangen sein muss. Das US-Außenministerium warnte vor dem Beginn der neuerlichen Offensive seine Bürger:innen vor Militäroperationen der Türkei im Irak und in Syrien. In der Erklärung wurden alle US-Bürger:innen aufgerufen, die Grenzgebiete zu meiden.

Seit April führt die Türkei in den Medya-Verteidigungsgebieten Zap, Avaşîn und Metîna eine großangelegte Militäroperation durch. Die dortige Praxis der Türkei erinnert an den Vietnamkrieg der USA. Obwohl die Türkei große Verluste zu verzeichnen hat, offen Kriegsverbrechen begeht (indem sie chemische Waffen einsetzt) und ihre eigenen Soldaten verbrennt, propagiert sie ihren Sieg. Nach Angaben der Volksverteidigungskräfte (HPG) haben mehr als 80 Guerillakämpfer:innen ihr Leben durch chemische Kampfstoffe verloren. Obwohl die kurdische Bewegung und die kurdische Bevölkerung die Chemiewaffenangriffe der Türkei öffentlich angeprangert und die internationale Öffentlichkeit zum Handeln aufgerufen haben, tut sich rein gar nichts. Zuletzt sahen sich die HPG dazu gezwungen, Videoaufnahmen von Guerillakämpfer:innen zu veröffentlichen, die einem solchen Angriff ausgesetzt waren.3 Auch veröffentlichten die HPG Aufnahmen, auf denen zu sehen ist, wie Einheiten der türkischen Armee ihre im Kampf gegen die Guerilla getöteten Soldaten anzünden und verbrennen.4 Diese Aufnahmen waren zutiefst erschütternd. Trotz aller Waffen der Welt und trotz der Rückendeckung der NATO und anderer Staaten ist es der Türkei nicht gelungen, die Guerilla zu besiegen. Doch die Wetterbedingungen haben sich nun geändert: Während im Sommer und Herbst für die Türkei militärisch günstige Bedingungen herrschen, bieten Spätherbst, Winter und Frühjahr der Guerilla klare Vorteile. Weil die AKP-MHP weiß, dass sie den Krieg gegen die Guerilla nicht wie propagiert gewinnen wird, also auch keinen entsprechenden Sieg zur Grundlage eines erneuten Wahlsieges machen kann, hat sie erklärt, dass sie nach der Operation gegen die Guerilla eine Offensive gegen Nordsyrien starten wird. Des Weiteren ist für die Türkei der 29. Oktober 2023 ein historisches Datum. An diesem Tag wurde die türkische Republik ausgerufen. Zum 100. Jahrestag möchte Erdoğan sein Großreich ausrufen. Hierfür muss sein größtes Hindernis – die Kurd:innen – besiegt werden. Die AKP hat dementsprechend genügend Gründe, diesen Krieg weiterzuführen.

Das wissen die Großmächte sehr genau. Daher wird die kurdische Karte weiterhin sehr effektiv gegenüber der Türkei eingesetzt, um sie zu Zugeständnissen zu bewegen. Dass die Türkei alles daran setzt, die Kurd:innen zu bekämpfen, sehen wir auch auf der politischen Ebene. Die NATO-Mitgliedschaftsanträge von Finnland und Schweden nutzt die Türkei dafür, eine antikurdische Haltung dieser Staaten zu erzwingen – leider mit Erfolg. Schweden hat ein entsprechendes Gesetz verabschiedet, das ab Januar in Kraft treten soll. Die bisherige NATO-Unterstützung reicht der Türkei nicht aus. Sie zwingt die NATO, die antikurdische Politik samt praktischer Folgen zu einem Grundprinzip der Militärallianz zu erklären.

Vor den Wahlen in der Türkei 2023

Darüber hinaus wird das Verbotsverfahren gegen die HDP vom Verfassungsgericht behandelt. Die HDP hat ihre Verteidigung eingereicht. Viele gehen davon aus, dass die HDP vor den Wahlen verboten sein wird. Die AKP-MHP weiß, dass sie nicht auf Stimmen der Kurd:innen rechnen kann. Daher haben sie sich für den Wahlkampf auf nationalistische Kreise fokussiert, die über Krieg und Feindbilder mobilisiert werden können. Russland hat klar seine Unterstützung für Erdoğan bei den Wahlen ausgesprochen. Jetzt haben Saudi-Arabien der Türkei 5 Milliarden und Qatar ihr 10 Milliarden Dollar zugesagt. Dies ist als Wahlunterstützung für Erdoğan zu sehen. Das Geld wird zwar die wirtschaftliche Krise der Türkei nicht lösen, aber zumindest seine Wirkung bis nach den Wahlen haben.

Wir können also deutlich erkennen, dass die Türkei als Player große Pläne hat und einzig die Kurd:innen als Hindernis betrachtet. Daher stellt der Widerstand der Kurd:innen in allen Teilen Kurdistans ein Schlüsselrolle dafür dar, wie sich die Region entwickeln wird. Ihr Widerstand ist ein Frauenwiderstand gegen Patriarchat und Faschismus. Wer glaubt, der Krieg der Türkei gegen die Kurd:innen werde nur Auswirkungen auf diese beiden Kräfte haben, irrt. Die Neuordnung des Mittleren Ostens wird sich auf die gesamte Weltordnung auswirken. Nicht nur die Zukunft der Kurd:innen in allen Teilen Kurdistans, sondern auch die Zukunft der Region und damit auch der Welt hängt von dem Kampf zwischen den Kurd:innen und der Türkei ab.

Stellen wir uns nur für einige Sekunden vor, dass die Türkei die Kurd:innen besiegt (das wiederum würde bedeuten, dass die Türkei einen Genozid an den Kurd:innen vollzieht): Wie würde sie wohl mit ihrer faschistischen Mentalität und Politik die Region gestalten?

Fußnoten:

1 - Der Artikel beinhaltet das Recht auf Selbstverteidigung.

2 - Freie Syrische Armee, steht unter der Kontrolle des türkischen Staates

3 - https://anfdeutsch.com/kurdistan/aufnahmen-von-chemiewaffenopfern-veroffentlicht-34497

4 - https://anfdeutsch.com/kurdistan/turkische-armee-verbrennt-leichen-von-soldaten-im-kampfgebiet-34805


 Kurdistan Report 225 | Januar/Februar 2023