Der Anfang vom Ende des theokratischen Regimes im Iran

»Jin Jiyan Azadî« – eine soziale Explosion

Hêmin Ermew


Patriarchat tötet weltweit  - Demonstration in Hamburg zum Internationalen Tag gegen Gewalt an FrauenEin großer Revolutionär sagte einst: »Der Iran ist bei Literatur und Revolution das Frankreich des Nahen Ostens!« Wie wahr, dies zeigt erneut die aktuell stattfindende »Revolution von Jina«. Die iranische Gesellschaft ist eine sehr lebendige, die – wenn die Regierung nicht auf die Interessen des Landes und der Gesellschaft eingeht oder gar Unrecht begeht – aufsteht und eine ganz klare Haltung zeigt, die sogar das politische System in die Grenzen weisen kann. Historisch genauso wie heute. Oft war sie es, die ihre Könige stürzte und neu einsetzte, und nicht selten waren es die Köpfe einiger Clans und Stämme im Iran, die führend waren bei der Veränderung der Monarchie oder des Imperiums im Allgemeinen, da es grausam oder zu einer schweren Belastung für die Gesellschaft geworden war. Manchmal zeigte die Gesellschaft ihre Opposition gegen die unterdrückerische Regierung, indem sie neue Glaubensrichtungen und andere Organisierungsformen begründete. Die Geschichte des Irans ist aber viel mehr als der Wechsel eines Königs und viel mehr als die Machtintrigen in der Monarchie.

In den vergangenen hundert bis hundertfünfzig Jahren hat sich die Geschichte verändert. In den Fokus rückte die Bildung von Bewegungen, Institutionen, Vereinen und Parteien. Die in den nationalstaatlichen Grenzen des Irans lebenden Menschen haben die neuen Organisationsformen als Chance zur Selbstermächtigung erkannt und angefangen, dementsprechend zu leben. Es begann die Zeit der Rebellionen, die in Wellen – dem Meer gleichend – mindestens alle vierzig bis fünfzig Jahre heranbrausten. Die Volksbewegungen im Iran haben ihre deutlichen Spuren in der Geschichte hinterlassen. Ein wichtiger Wendepunkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts beeinflusste die gesamte Region: die »Revolution der Legitimität« [Konstitutionelle Revolution]. Die Völker des Irans wollten die Herrschaft des Schahs brechen und ihn ihren Interessen und ihrer Kontrolle unterwerfen. Es war ein Kampf, der durch das Eingreifen damaliger Weltmächte – insbesondere Großbritanniens und Russlands – letztlich nicht von Erfolg gekrönt wurde. Stattdessen wurde unter Reza Schah eine neue Dynastie, die der Pahlavis, gegründet und somit eine neue Form der Herrschaft im Rahmen des Nationalstaatsmodells geschaffen. Ein neuer Iran wurde kreiert. Von da an bis zur Revolution von 1979 wurde starker Widerstand geleistet. Es war ein bunter Widerstand, getragen von verschiedensten Kräften, von links wie auch rechts, religiös, aber auch national, mal auf die politische und mal auf die soziale Ebene beschränkt. Die Revolution von 1979 siegte, doch durch sie begann der Krieg der Ideologien, Perspektiven und Hoffnungen. Der islamische Flügel nutzte dabei den Iran-Irak-Krieg und die allgemeine Mobilisierung der Menschen, um Macht zu sammeln und damit gegen die anderen Strömungen der Revolution vorzugehen. Für die alleinige Herrschaft wurden der Reihe nach andere Kräfte zerschlagen, allen voran linke und nationale.

Absolute Kontrolle und absolute Macht

Die folgenden Jahre nutzten die radikalen Schiiten, drangen in alle Winkel des neuen Staates ein und versuchten, eins zu werden mit der Herrschaft und dem Iran. Unter dem neuen Regime wurde eine Verfassung geschaffen, in der viele der Richtungen verboten wurden, von denen der Widerstand zuvor geprägt gewesen war und die die Revolution zum Erfolg geführt hatten. Allmählich wurden im Iran die Gesetze der Scharia eingeführt und mit den streng religiösen Gesetzen wurde der Punkt erreicht, an dem die Menschen ihr persönliches Leben nicht mehr selbst kontrollieren konnten. Angefangen von gesellschaftlicher Organisierung und politischer Verwaltung bis tief hinein in das persönliche und familiäre Leben begannen die Gesetze nach der Scharia des Schiitentums der zwölf Imame und nach der theoretischen Grundlage der absoluten Autorität des Ayatollahs, des Führers des Irans (damals Chomeini und heute Chamenei), zu greifen. So entwickelten sich die neuen Gesetze der neuen Regierung und schufen so Tag für Tag die Grundlagen für weitere Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten, mit denen die Gesellschaft konfrontiert worden ist. Es wurde die Basis für den Hass der Menschen geschaffen, die heute den Aufstand proben und nach Revolution rufen.

Situation der Menschen im Iran verschlechterte sich von Tag zu Tag

Von 1979 bis zum Ende des Sommers 2022 erhoben sich die Menschen der iranischen Gesellschaft immer wieder gegen das Regime, wurden jedoch meist mit Gewalt vom Regime zurückgeschlagen und hart bestraft. In der Zeit hat sich nichts geändert. Der iranische Staat ist auf absolute Kontrolle und absolute Macht aus. In diesem System ist kein Raum für Möglichkeiten wie Reformen, im Gegenteil sehen wir, dass er, statt sich zu verändern und anzupassen, noch totalitärer wird als zuvor. Was sich im Inneren zeigt, war und ist auch nach außen nicht anders. Von der radikal schiitischen islamischen Ideologie getrieben, verleibten sie sich Gebiete ein, feindeten die Philosophie Rojavas [Anm.: der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens] an und schufen sich außenpolitisch viele Feinde, nicht zuletzt mit Staaten wie USA und Israel auch in der westlichen Welt. Sowohl die Feindseligkeit des iranischen Regimes gegenüber Rojava einerseits als auch die finanzielle Unterstützung islamisch-schiitischer Kräfte andererseits sorgten dafür, dass der Selbstprofilierung von Befehlshabern, Kommandanten und Unternehmern des Regimes Tür und Tor geöffnet wurde, und es hat somit dazu geführt, dass die Führung des Landes, statt der Gesellschaft und dem Aufbau zu dienen, unter die Führung von Gruppen außerhalb des Irans geraten ist, aber auch von profitorientierten Gruppen innerhalb des Landes. Sie haben große Holdings unter dem Namen von Stiftungen geschaffen und sich so auch auf wirtschaftlicher Ebene die Kontrolle über das gesamte Land gesichert. Während Belutschistan kaum über Infrastruktur verfügt, es bspw. keine Schulen gibt, organisiert das iranische Regime Dutzende radikaler Gruppen von Afghanistan bis zum Libanon. Diese Politik verursacht sozioökonomische Konflikte und die Situation der Menschen hat sich logischerweise von Tag zu Tag verschlechtert. Auf der einen Seite herrschen Grausamkeit und Ungerechtigkeit, auf der anderen Seite ist es schwierig, den Lebensunterhalt zu verdienen, es ist kompliziert zu studieren und im Allgemeinen herrscht eine anscheinend unlösbar gewordene psychosoziale Spannung.

In den letzten zehn bis zwanzig Jahren haben sich verschiedene Teile der Gesellschaft auf lokaler Ebene mehrfach gegen das Regime erhoben, wurden aber von dessen Sicherheitskräften jedes Mal zurückgeschlagen. Die stattgefundenen Aufstände stellen sich aber heute als Vorbereitung und Übung für die Gesellschaft heraus. Als sich damals durch die harten Maßnahmen der Vereinigten Staaten die finanzielle Lage des Regimes verschlechterte und seine Abhängigkeit von der Gesellschaft wuchs, nahm die Repression noch einmal stark zu. Ihr Leben wurde den Menschen allmählich zur Hölle. Die Ermordung einer kurdischen Frau, Jina Amini, durch die Sittenpolizei – deren Name allein vor dem Hintergrund ihrer Praxis nicht höhnischer sein könnte – führte wie zu einer Explosion innerhalb der Gesellschaft, die von Kurdistan, dem schwächsten Ort des Regimes, ausging und sich rasant verbreitete.

Feuer der Rebellion

Die kurdische Gesellschaft, die seit Beginn der Revolution von 1979 immer das Ziel von Anfeindungen und Angriffen durch die regimetreuen Kräfte war, immer unter der Unterdrückung und Ungerechtigkeit lebte, die stets mit einem kulturellen Genozid konfrontiert war und die für den Iran Zehntausende von Menschenleben auf Kriegsschauplätzen hat lassen müssen, wartete nur darauf auszubrechen und dem ein Ende zu setzen. Einerseits stützt sie sich im Iran auf die eigene traditionelle Kultur und es gelang ihr, zur Fahnenträgerin in Bereichen wie Kultur, Literatur und Kunst zu werden, andererseits lernte sie aus den Widerständen und Aufständen in den anderen Teilen Kurdistans. Das schuf eine Grundlage und formte den ersten Schritt. In den letzten Jahren hat es in Ostkurdistan nahezu täglich kulturelle, künstlerische und soziale Entwicklungen gegeben, die das widerspiegelten. Wie sehr es brodelte, sah man auch an der Reaktion der Menschen, als bspw. Abdullah Öcalan 1999 in einem internationalen Komplott entführt wurde, oder bei den großen Erdbeben in Kirmaşan oder auch beim Kampf um Kobanê.

Als sich die kurdische Gesellschaft getrieben von der Ermordung Jina Aminis erhob, erfasste das Feuer der Rebellion alle Regionen und verbreitete sich in ganz Ostkurdistan an einem Tag. Aber nicht nur in Kurdistan war die Situation derart unerträglich geworden. Auch in Belutschistan, wo die Ungerechtigkeit gegen die Belutsch:innen nicht geringer ist als gegen Kurd:innen, haben sie angefangen, heftigen Widerstand zu leisten. Das iranische Regime griff sie massiv an, sie wurden hart bekämpft, weil sie Sunniten sind, aber vor allem auch, weil sie von Anfang an Waffen eingesetzt haben, und wegen der klassischen nationalistischen Politik des Regimes. Die Angriffe auf Belutsch:innen haben bereits Hunderte das Leben gekostet. Auch andere Teile der iranischen Gesellschaft und der hier lebenden Volksgruppen sind bisher in die Aufstände involviert. Aber die kurdische Gesellschaft wird immer mehr mit dem Regime allein gelassen, viele ziehen sich zurück und es besteht die Gefahr, dass sie erneut niedergerungen wird.

Frauen reißen die gesamte Gesellschaft mit

Der Aufstand, der leicht als Revolution bezeichnet werden kann, unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den vorangegangenen. Zunächst einmal steht er unter einem mittlerweile weltweit gehörten Motto: »Jin Jiyan Azadî« (Frau, Leben, Freiheit). Diese Parole stellte einen großen Teil der Gesellschaft, nämlich die Frauen, in den Vordergrund, und so, wie sie auf die Straßen zogen, rissen sie die gesamte Gesellschaft mit. Diese Haltung und diese Überzeugung waren so stark, dass ihnen niemand widerstehen konnte und alle sich dieser Front anschlossen. Es wurde zu einer einheitlichen Kraft der Gesellschaft und der Völker. Zweifellos sind Ungerechtigkeit und Unterdrückung von Frauen, Frauenrechten, Frauenkämpfen und die Situation von Frauen im Allgemeinen ein Thema, das die ganze Welt betrifft. In einem männerdominierten System ist für Frauen kein Platz bzw. nur ein kleiner Platz in der schattigen Ecke des Raums. Die unterdrückte Kraft der Frauen brach ebenfalls dort zu Tage, wo sie früher oft mit am schwächsten galt: in Kurdistan und im Iran, wo die Lage der Frauen und ihre Teilhabe am Leben kaum mehr existent schienen! Die Ermordung einer jungen Frau, das organisierte Auftreten von Frauen auf den Straßen und das Verbrennen des für so viel Gewalt stehenden Hidschabs sind im Iran zu Punkten großer Transformation geworden. Bereits jetzt sind Dinge und Symbole eingerissen worden, die nie wieder kommen sollen.

Eine Revolution, die die gesamte Region und sogar die Welt betreffen wird

Während der Zeit Reza Schah Pahlavis, der Europa nachahmte, sollte der Hidschab der iranischen Frauen abgeschafft werden, und es war eine islamische, gegenüber der Dynastie von Reza Schah und seinem Sohn oppositionelle Kraft, die sie schließlich tötete. In der Zeit der »Islamischen Republik« wollten sie nun den Frauen gewaltsam den Hidschab aufsetzen, was den Beginn des Zusammenbruchs des Regimes verursachte und das Wasser zum Überkochen brachte. Die Opposition der Frauen in der iranischen Gesellschaft endete nicht mit der herrschenden Macht und dies kann als Zeichen der Macht der Frauen in der iranischen Gesellschaft im Allgemeinen und in der kurdischen Gesellschaft im Besonderen verstanden werden. Dieser Aspekt ist der wesentliche Unterschied zwischen der aktuellen Revolution und ihren Vorgängerinnen, und man kann sie als eine Revolution betrachten, die die gesamte Region und sogar die Welt betreffen wird. Wie die Beteiligung der Frauen am Krieg um Kobanê und Şengal weltweit Aufsehen erregte und zum Thema in Kunst und Kultur, in Filmen und Serien sowie in der Politik wurde und ihre Widerspiegelung fand, lässt sich gut an der Revolution in Kurdistan und im Iran ablesen, die starke Beteiligung von Frauen wird eine neue Phase der Veränderungen in der Welt bedeuten.

Ein anderer Unterschied zwischen dieser Revolution und früheren Aufständen ist die Beteiligung aller Teile der Gesellschaft und aller Bewegungen. Junge Menschen beteiligen sich daran in großem Umfang, und viele von ihnen werden vom Staat getötet. Derzeit sind 86% der iranischen Bevölkerung nach der Revolution von 1979 Geborene. Die iranische Gesellschaft ist eine junge Gesellschaft und die hohe Beteiligung am Widerstand ist ein Zeichen dafür, dass die neue Generation die alten »gerontokratisch-religiös-oligarchisch-männlichen« Autoritäten überwindet. Die Leistung der Jugend überraschte alle. Ob im Bereich der kollektiven Dynamik, der Solidarität und des Mutes oder bei Kreativität, Kultur und Kunst. Zwischen der alten »gerontokratisch-religiös-oligarchisch-männlichen« Macht und der »jung-kreativ-fortschrittlichen« Dynamik klafft eine große Lücke. Zweifellos hat der Gerontokrat Erfahrung, Ambitionen und Verbindungen, aber die Dynamik der Jugend kann keine Fortsetzung finden, ohne dass die Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben geschaffen werden; es führt kein anderer Weg dorthin. Über kurz oder lang sehen wir zweifellos die Erfolgschancen der jungen Dynamik steigen.

Zudem ist die Beteiligung sunnitischer Geistlicher und religiöser Minderheiten (zum Beispiel der Yarsan/Kaka’i) eine Stärke der Aufstände. Es ist das erste Mal, dass religiöse Menschen ihre Position vereint, stark und mutig an der Seite und mit der Gesellschaft und auf fortschrittliche Weise zeigen. Sie sind auch ein wichtiger Teil der Gesellschaft; entgegen ihrem früheren Verhalten, unter den entsprechenden Bedingungen entweder das Regime zu unterstützen oder sich zumindest herauszuhalten, hat sie dessen repressive Praxis mittlerweile objektiv auf die andere Seite gebracht, und jetzt sind sie Teil des gesellschaftlichen Kampfes gegen das Regime geworden. Es ist auch klar zu sehen, dass ein erheblicher Teil derjenigen, die sich noch nicht trauen, offen in die Opposition zu gehen, deutlich mit der Revolution sympathisiert und nicht weniger Hass auf das Regime verspürt.

Kunst und Kultur blühen komplett neu auf

Ein weiterer Punkt, der diese Revolution von anderen unterscheidet, ist der Zeitpunkt der Entstehung künstlerisch-kultureller Werke. Während dieser zwei Monate der Revolution gab es immense kulturelle und künstlerische Impulse. Seit Beginn der Revolution wurden Hunderte von Liedern, Hymnen, Gedichten, Gemälden, Musikvideos, Cartoons und Kunstwerken aller Art geschaffen, so viele wie in kaum einer anderen Revolution der Welt, noch während die Revolution begann und die Menschen vom noch herrschenden Regime so viel zu befürchten hatten. Die Kultur der Völker des Irans ist ohnehin sehr reich, bisher haben die Verbote des Regimes vieles an künstlerischer Inspiration unterdrückt. Die sozialen Medien sorgen im Zusammenspiel mit der Revolution dafür, dass die Kultur gerade komplett neu aufblüht. Das gilt als eine der zahlreichen Entwicklungen in der iranischen Gesellschaft und insbesondere in Kurdistan und transportiert den metaphysischen, spirituellen und moralischen Teil der Revolution. Die aufblühende Kunst verleiht der Revolution ihren Geist. Jetzt gibt es Hunderte von Sprüchen, Gesängen, Melodien und Liedern, die die Menschen zusammenbringen und die zur Stimme der Menschen geworden sind. Sogar alte Lieder werden aus den Regalen geholt, sie werden entstaubt und erklingen neu, viele von ihnen in die verschiedensten Sprachen übersetzt.

Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie spielt in der Revolution eine wichtige Rolle, die nicht unterschätzt werden darf. Obwohl sich im Zentrum des Irans große Teile der Bevölkerung versammelt haben und sich viele Chancen und Möglichkeiten bieten, spielte die Peripherie in den jüngsten Aufständen eine größere Rolle. Die Zentralisierung des herrschenden Systems verursachte Ungerechtigkeit und Unterdrückung in der Peripherie und vor allem in den ländlichen Gebieten. Das stärkte auch das Fundament für die Aufstände. Die Geschichte des Irans kennt zahlreiche soziale und politische Proteste. Oft wurde das zentrale Regime durch die vom Land her aufkommende Macht gestürzt. Auch bei dieser Revolution ist deutlich geworden, dass das Freiheitsstreben in der Peripherie wesentlicher stärker ist als in dem vom Regime streng kontrollierten Zentrum, in den Metropolen. Zu einer Zeit, in der in Kurdistan und Belutschistan ein ungleicher Krieg herrscht und die Menschen mit Steinen und Stöcken auf ein Regime losgehen, das Drohnen einsetzt, die selbst die USA und Israel beunruhigen, sind die aufbegehrenden Stimmen in den Zentren noch zu schwach. Das ist ein Thema, über das viel diskutiert werden kann, es stand dabei aber für mich im Fokus, die Bedeutung des Verhältnisses zwischen Zentrum und Peripherie aufzuzeigen und dass in der »Revolution von Jina« bisher ein gutes Gleichgewicht gefunden worden ist. Denn würden die Proteste nur in den Metropolen stattfinden, während das Land weiter schweigt, hätte die Revolution ebenfalls keine Perspektive.

Vielfältigkeit, Multiethnizität, Demokratie und Anerkennung der Rechte der Frauen

In diesem Zusammenhang hat sich ein Zusammenschluss von Menschen aus Kurdistan, Belutschistan und Gilan gebildet, die die Situation nicht länger hinnehmen wollen. Er umfasst Menschen verschiedenster Volksgruppen. Aber Azari und arabische Menschen aus Khuzestan haben sich bisher noch nicht der Notwendigkeit entsprechend und wie sie es früher schon taten an den aktuellen Aufständen beteiligt. Doch vernimmt man auch aus diesen Gruppen eine zunehmende Inakzeptanz gegenüber dem Handeln des Regimes. Und das verdeutlicht ebenfalls, dass sie grundsätzlich keine Anhänger des Regimes sind, weil sie eben auch in den Jahren zuvor immer wieder ihre Ablehnung gezeigt und sich auch immer wieder Aufstände aus diesen Reihen formiert haben. Der Grund dafür liegt vor allem in der Härte und Grausamkeit gegenüber den Völkern und der Verletzung ihrer ganzen ethnischen und religiösen Rechte (bspw. der Kurden, Belutschen, Sunniten und Yarsan). Natürlich entwickelt sich dann auch bei ihnen Widerstand. Das zeigt, dass die nationalstaatliche Politik in der Region gescheitert ist und dass das Regime mit dieser »Ein Staat, eine Armee, ein Volk«-Mentalität nicht mehr weitermachen kann. Diese Krise der Nationalstaatlichkeit im Nahen Osten und auch darüber hinaus sowie die Art und Weise, wie Regierungen diese Nationalstaatlichkeit in all ihrer Härte gegen die Völker anwenden, und die Tatsache, dass bereits einige Nationalstaaten sogar gescheitert sind, verdeutlichen, dass es keinen Ausweg mehr gibt außer der Realisierung von Vielfältigkeit, Multiethnizität, Demokratie und der Anerkennung der Rechte der Frauen außerhalb eines Nationalstaates.

Ein technischer Aspekt in Verbindung mit den oben genannten Punkten sind die Möglichkeiten der digitalen Welt und der sozialen Netzwerke, die gerade optimal genutzt werden. Sie sind eine soziale Kraft, um die Aktivitäten des Regimes aufzudecken. Es gibt kaum einen Ort auf dieser Welt, den die Stimme der Rebellen nicht erreicht hat. Nur durch die Sperrung des Internets schwächt das Regime diese Stimmen. Es schaltet das Netz ab oder verlangsamt es erheblich, um den Zugang zu Nachrichten über den Aufstand zu verhindern. Es ist eines der Hauptprobleme der Menschen in den Tagen der Rebellion.

Im Allgemeinen ist es eine Revolution, eine große Veränderung und Transformation und eine soziale Explosion, die stattfindet. Die Dynamik von Frauen, Jugendlichen und der unterdrückten Gesellschaft sowie der Geist von Freiheit und Gleichheit sind förmlich greifbar. Die Gesellschaft hat sich gegen Männlichkeit, Theokratie und Ungerechtigkeit erhoben. Die Kurd:innen als Hauptantriebskraft des Anstoßens und der Fortsetzung der Revolution zeigen ihre historische und kulturelle Stärke. Ebenso wie in der Türkei die Kurd:innen die Hauptkraft der sozialen und politischen Opposition sind und in Syrien die Kraft wurden, die Gefahr des IS (sogenannter Islamischer Staat) zu beseitigen, so spielen sie diese Rolle nun auch im Iran. Die große Chance der Revolution besteht darin, dass das Empfinden, die Philosophie und das Denken der kurdischen Gesellschaft nicht nationalistisch, sondern pluralistisch, nicht sexistisch, sondern egalitär sind.

In dieser Revolution gibt es Probleme des Kräftegleichgewichts. Man sieht die Rückständigkeit der gegnerischen Regime-Kräfte, insbesondere in Bezug auf ihr Patriarchat und ihren Individualismus. Aber auch die oppositionellen gesellschaftlichen Kräfte sind noch immer sehr verstreut, was ein sehr großes Problem darstellt. Aber das ist ein anderes Thema, das einer unabhängigen, weitaus tieferen Auseinandersetzung bedarf.

Weltmächte zeigen kein Interesse am Sturz des Regimes

Auch die Haltung der Weltmächte und internationalen Kräfte ist ein wichtiges Thema. Bis jetzt haben die entscheidenden Kräfte kein Interesse an einem Sturz des Regimes gezeigt. Sie wollen nur, dass es schwach ist und sich ihnen unterwirft. Dagegen unterstützen es viele Kräfte stillschweigend. Die Haltung internationaler Kräfte ist im Moment schwach und unzureichend, sodass sie den Menschen nicht wirklich hilft. Das gilt aber nicht für die demokratischen Gesellschaften der Welt. Sie haben die Revolution gesehen und unterstützen sie. Wen ich an dieser Stelle kritisieren will, sind die internationalen staatlichen Kräfte, denn ihr ausbleibendes Handeln ist es, das das Regime aktuell noch am Leben erhält.

Als Ergebnis der Revolution lässt sich bereits sagen, dass sich die Gesellschaft erhebt, wobei sie das Paradigma und die Logik des Regimes so stark getroffen und verändert hat, dass es für das Regime unmöglich sein wird, dahin zurückzukehren, was für sie früher als Status quo galt. So wie die Verbrennung einer jungen Frau in Tunesien das Feuer des arabischen Frühlings entfachte, so löste auch die Ermordung Jina Aminis das Feuer eines Frühlings, einer Revolution aus, die große Veränderungen bringen wird.

Die Revolution kann sich ausdehnen und siegen, dann wird eine gute Zeit für den Iran anstehen, sie kann jedoch auch scheitern, was für den Iran und besonders für die kurdische Gesellschaft zu einer dunklen Zeit führen würde. Die Erfahrungen der Vergangenheit haben gezeigt, dass der Iran zu ­einem weiteren Völkermord bereit ist. Aber was wichtig ist – der Iran ist nicht mehr der Iran vor dieser Revolution und diese Phase ist der Anfang vom Ende des theokratischen Regimes im Iran. Denn die Menschen haben keine Angst mehr, denn sie sagen frei nach Pablo Neruda: Sie können alle Blumen abschneiden, aber nie werden sie den Frühling aufhalten können!


 Kurdistan Report 225 | Januar/Februar 2023