Fidan Doğan gewidmet

Die Vertreterin der Freiheit, der Weisheit und der Schönheit

Gönül Kaya


Kundgebung in Bilbao am 9. Januar 2022 in Gedenken an Sara, Rojbîn und RonahîDas Datum des 9. Januar 2013 bedeutet für die Freiheitsbewegung Kurdistans, die gerade ihr 44-jähriges Bestehen feierte, wie auch für die Frauenbewegung Kurdistans einen historischen Wendepunkt. Nun steht der zehnte Jahrestag dieses Datums bevor, an dem in Paris, der Hauptstadt Frankreichs, drei führende Revolutionärinnen der Freiheitsbewegung Kurdistans, Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez, von Geheimdienstagenten des faschistischen türkischen Staates ermordet wurden. Wir, die Frauen Kurdistans, verurteilen dieses heimtückische Massaker mit großer Abscheu. Wir erklären, dass unsere Wut auf Faschismus und Kolonialismus jeden Tag wächst. Wir gedenken dieser drei tapferen freien Frauen mit unserer revolutionären Entschlossenheit, mit Liebe und Sehnsucht.

Es gibt viel zu erzählen und zu schreiben über diese drei Revolutionärinnen. Die Tatsache, dass Heval Sakine eine der Gründerinnen der PKK war, die große freiheitliche Genoss:innenschaft, die sie mit dem Vorsitzenden Abdullah Öcalan aufbaute, ihre Liebe zu den Menschen, zur Natur, zu den Frauen, ihre großen Anstrengungen bei der Entwicklung sozialer Kämpfe auf der Grundlage der Freiheit der Frauen, ihr glorreicher Widerstand gegen die Folter der faschistischen türkischen Republik im Kerker von Amed, ihr revolutionärer Enthusiasmus für den unentwegten Widerstand der Frauen gegen jede Art von Ausbeutung … Heval Sakine, die zu Lebzeiten eine Legende für kurdische Frauen und das ganze kurdische Volk war … Es ist sehr schwer, diese Frau mit dem großen Herzen, die das Leben schöner machte, indem sie sich dem System widersetzte und es bekämpfte, so zu beschreiben, wie sie es verdient.

Leyla Şaylemez hat den jugendlichen Geist des kurdischen Freiheitskampfes, die Kraft der Selbsterneuerung, den Willen zu großen revolutionären Gefühlen und Gedanken gegen die vom Kapitalismus geschaffene individualistische Gefühllosigkeit gezeigt. Die Jugend Kurdistans hat in den 44 Jahren der Revolution immer eine historische Rolle gespielt. Die Aussage des Vorsitzenden Abdullah Öcalan »Wir haben jung angefangen, wir werden jung Erfolg haben« ist sozusagen eine Zusammenfassung der Revolution Kurdistans. In diesem Sinne ist es Heval Leyla gelungen, ihre Jugend und ihre Identität als Frau auf der Grundlage des großen Ziels der Freiheit zu vereinen.

Im Folgenden möchten wir von Fidan Doğan erzählen, die mit ihrer Persönlichkeit, ihrem Leben und ihrer Arbeitsdisziplin von ganzem Herzen an die Freiheit und die Revolution der Frauen und Völker glaubte. Heval Fidan wurde im Bezirk Elbistan der Provinz Gurgum (tr. Maraş) in Nordkurdistan geboren. Sie ist die Tochter einer kurdisch-alevitischen Familie. In der Stadt Gurgum verübten Faschisten am 24. Dezember 1978 ein Massaker, das nie aus dem Gedächtnis unseres kurdisch-alevitischen Volkes getilgt werden wird. Der türkische Staat, der den Völkermord an den Kurd:innen zur Grundlage seiner Existenz machte, hat in Gurgum eine Politik der Leugnung und Ausrottung der Kurd:innen betrieben und die hier lebenden Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Damals begann eine starke Auswanderung aus dieser Gegend nach Europa. In Kurdistan wurde eine Politik der Vertreibung betrieben, und die Kurd:innen wurden in einem physischen und kulturellen Völkermord aufgerieben. Und Heval Fidan ist eben die Tochter einer solchen Arbeiterfamilie, die im Zuge dieser Politik nach Frankreich auswandern musste.

Die Jahre, in denen Heval Fidan aufwuchs, waren auch die Jahre, in denen sich der kurdische Freiheitskampf entwickelte. Das kurdische Volk kämpfte gegen die antikurdische Politik, die sowohl von den Kräften der kapitalistischen Moderne als auch vom türkischen Staat geschaffen worden war. Im 20. Jahrhundert, seit dem Ersten Weltkrieg, lautete eine gemeinsame Politik der kapitalistischen und der realsozialistischen Staaten, bei all ihrer sonstigen Gegensätzlichkeit: »Es gibt keine kurdische Frage und kein Kurdistan.« Großbritannien und Frankreich sind Verursacher des Status quo im Mittleren Osten, der heute das Zentrum der weltpolitischen Krise und des Chaos ist. Dieser Status quo ist nicht nur gesellschafts- und naturfeindlich, sondern bedeutet auch Völkermord und Leugnung von Völkern und Frauen. Der heutige Aufstieg des Faschismus und das Aufkommen von Organisationen wie den Taliban, al-Qaida und dem IS stehen in direktem Zusammenhang mit diesem Status quo und der Ausbeutungspolitik des Kapitalismus.

Protest vor französischer Botschaft in BerlinSo ist Frankreich, wohin Heval Fidan mit ihrer Familie ausgewandert ist, mitverantwortlich für die Aufteilung ­Kurdistans, d. h. für die kurdische Frage. Das Leben von Heval Fidan, die auf der Grundlage des kurdischen Bewusstseins, des Patriotismus und der Revolution aufwuchs, ist einerseits von der Tragödie des kurdischen Volkes und andererseits vom Kampf der PKK geprägt, die diese Tragödie zum Guten wenden will. Während die eine Seite voller Schmerz ist, ist die andere Seite voller Hoffnung, Widerstand und Aufbruch. Heval Fidan wuchs in dieser doppelten Perspektive auf. Indem sie die Ideen und den Kampf des Vorsitzenden Abdullah Öcalan kennenlernte, erfuhr sie, wie sie den Schmerz, den sie und ihr Volk erfahren haben, in eine starke Kraft der Freiheit umwandeln konnte. Ohne das ihrem Volk zugefügte Leid zu vergessen, wuchs sie und entwickelte sich, indem sie die vom kolonialistischen System aufgezwungenen modernistischen Maßnahmen ablehnte und großes Vertrauen in den freien Mann, die freie Frau und die freie Menschheit hatte.

Am 9. Oktober 1998 wurde Abdullah Öcalan durch ein großes NATO-Komplott aus dem Mittleren Osten vertrieben und am 15. Februar 1999 von den USA entführt und an den türkischen Staat übergeben. Im Zuge dessen erlebte Heval Fidan zwar einen großen Schock, traf aber auch eine wichtige Entscheidung: sich aktiv am kurdischen Freiheitskampf zu beteiligen. Ihr war bewusst, wie wichtig es ist, dass die Ideen und Projekte Abdullah Öcalans der gesamten Menschheit vermittelt und dass sie universalisiert werden.

Die an dem Komplott beteiligten Staaten haben große Angst davor, dass Öcalans Gedanken, seine Projekte und seine Revolution den Völkern der Welt bekannt werden. Denn der Kolonialismus gewinnt seine größte Stärke aus der Isolierung und Spaltung der Völker, Gesellschaften und Frauen. Es liegt auf der Hand, dass der Erfolg einer Revolution in einer Region davon abhängt, dass sie sich und ihren Einfluss über die Grenzen des bestehenden Nationalstaates hinaus ausbreitet. Jeder lokale Erfolg gewinnt an Kraft, wenn er universell wird, wenn er sich mit den Bestrebungen anderer Völker und gesellschaftlicher Strömungen verbindet. Die Propaganda der Herrschenden bricht dann in sich zusammen, ihre Macht bekommt Risse. Heval Fidan hatte erkannt, dass der internationalistische Charakter des kurdischen Freiheitskampfes zu den Völkern getragen werden muss, und wies sich selbst auf dem Weg zur Freiheit eine große Aufgabe in dieser Revolution zu.

Heval Fidans Persönlichkeitsentwicklung im revolutionären Kampf und ihre Selbstbildung auf der Grundlage der Prinzipien der Freiheit wurden in der Frauenorganisierung im kurdischen Volk, in der sie arbeitete, vertieft. Sie erlangte Wissen und Erkenntnis durch die engen Beziehungen, die sie zu den Frauen und dem Volk aufbaute. Die Realität der Gesellschaft und der Frauen wurde für sie zu einer Akademie. Freies Wissen erlangte sie nicht in den Schulen der Herrschenden, sondern in der demokratischen Gesellschaft und in der Arbeit der Frauenorganisationen. Sie hat die Freiheit der Frauen und die Freiheit der Gesellschaft nie getrennt voneinander betrachtet. Je radikaler sie also gegen die Eigenschaften der herrschenden Männer und der versklavten Frauen kämpfte, desto mehr Begeisterung und Glück empfand sie bei der Befreiung dieser Frauen und Männer. Darum haben diejenigen, die Heval Fidan kannten, nie Pessimismus und Verzweiflung bei ihr erlebt. Ihre Wut auf die Sklaverei und ihre Liebe zur Freiheit waren riesig. Aus diesem Grund gab sie niemals auf, selbst wenn sie in ihrer Arbeit und in ihrem Leben vor großen Problemen stand. Sie betrachtete Probleme immer in der Perspektive der Lösungsmöglichkeiten.

Heval Fidan arbeitete mit viel Energie an den politischen und ausländischen Beziehungen und Bündnissen des kurdischen Freiheitskampfes. Sie beteiligte sich nicht nur deshalb an der politischen und diplomatischen Arbeit, weil sie die Sprache sprach und in Europa aufgewachsen war. Sie nahm an diesen Arbeiten teil, weil sie an die Ideologie ihres Kampfes glaubte und diese in ihren Worten, ihren Gedanken und ihrem Auftreten entschieden vertrat, und weil sie sich der Ideologie der Freiheit verpflichtet fühlte. Ihr demokratisch-sozialistisches Bewusstsein und ihre Haltung waren für ihren Erfolg in diesen Aktivitäten ebenso entscheidend wie ihre Überzeugung. Eine Grundlage ihres disziplinierten Arbeitsstils lag auch in der starken organisatorischen Bindung, die sie zu jedem Menschen aufbaute. In ihren Außenarbeiten und ihrer Bündnisarbeit war es möglich, den Respekt und die Liebe, die sie für die Freund:innen des kurdischen Volkes empfand, in jeder ihrer Verhaltensweisen, in ihren Worten und in ihren Augen zu sehen. Durch den Wert, den sie den menschlichen Beziehungen beimaß, und durch ihr Bemühen, ihre Versprechen zu erfüllen, aber auch durch ihre Bescheidenheit schuf sie Vertrauen in den Beziehungen, die sie zu ihren Genoss:innen und Freund:innen aufgebaut hat.

Ob in den institutionellen oder in den gesellschaftlichen Arbeiten, Heval Fidan hat immer internationalistisch gehandelt, egal wie anstrengend es war. Sie betonte stets die Bemühungen ihrer Freund:innen und Genoss:innen vor den eigenen. Sie betrachtete jede:n unserer französischen Freund:innen als ihre:n Genoss:in. Deshalb waren alle Beziehungen, die sie geknüpft hat, feste und unverbrüchliche Bindungen, die auf internationalistischen und nicht auf individuellen Prinzipien beruhten.

Für Sozialist:innen ist der Internationalismus eines der wichtigsten Prinzipien. Abdullah Öcalan sagt über ihn: »Internationalismus ist die Verwirklichung der universellen Prinzipien des Sozialismus im Rahmen der konkreten Gegebenheiten eines jeden Landes.« Heval Fidan hat auf der Grundlage dieses Prinzips gehandelt und die Freund:innen Kurdistans und des kurdischen Volkes in ihre Arbeit einbezogen. Sie hatte auch ein Gespür für die Probleme des Systems in Europa als Ganzem und in Frankreich im Besonderen und hat eine enge Verbindung zwischen der kurdischen Frage und dem Kampf für die Rechte der Frauen und der Gesellschaft in Frankreich hergestellt. Sie hat dem kurdischen Volk diese Verbindung nicht nur erklärt, sondern auch versucht, die Menschen beider Länder im Geiste der gemeinsamen Revolution zusammenzubringen.

Der erste Schritt für ein Volk, um dessen Existenz oder Nichtexistenz gestritten wird, besteht darin, sich seiner selbst bewusst zu werden und all seine historischen und sozialen Werte wiederzubeleben, die verschüttet wurden. Damit hatten das kurdische Volk und die PKK angefangen. Zum einen wurde nach innen viele Jahre lang ein Kampf um die soziale Wiederauferstehung geführt. Und zum anderen wurde nach außen vor allem die Politik der legitimen Verteidigung gegen die militärisch-politisch-wirtschaftlichen genozidalen Angriffe des Kolonialismus betrieben. Dazu äußerte sich Abdullah Öcalan wie folgt: »Politik für das kurdische Volk zu machen, sei es auf nationaler Ebene oder auf Klassenebene, bedeutet, am Ende der Reihe fast aller Nationen zu stehen, die Politik machen. Schlimmer noch: Lebt dieses Volk nun unter den Völkern der Welt oder nicht? Hat es das Recht zu leben oder nicht? Die Antwort auf solche überlebenswichtigen Fragen wie ‘Wir leben auch in dieser Welt, wir sollten auch einen Platz in der Menschheitsfamilie haben‘ hat sich im Bewusstsein der Menschen Kurdistans nur sehr begrenzt entwickelt. Und die meisten leben in einer Verfassung, in der das ungerechte Urteil lautet: ‘Wir müssen nicht unbedingt leben.‘« (aus seiner Analyse an der Mahsum-Korkmaz-Akademie im Januar 1989).

Der Kampf um die Erkenntnis der eigenen Existenz erfordert eine starke Überzeugung. Für ein solches Volk Politik zu machen, bedeutet, den Blick, der immer nach innen gerichtet war, nach außen auf die Welt und eine neue Zeit zu richten. Sein Bewusstsein zu wecken, bedeutet die Wiederbelebung jeder toten sozialen Zelle und Lebensader. In einer Region wie dem Mittleren Osten und Kurdistan bedeutet diese Wiederbelebung, dass jedes Leid und alle Probleme und Hindernisse berücksichtigt werden müssen. Mit anderen Worten: »… zualler­erst bedeutet es Aufklärung. Kurz gesagt: in einer Situation, in der die Menschen den unterschiedlichsten Vorgehensweisen der Außenpolitik, die alle das Ziel der Vernichtung haben, ausgesetzt sind, den Weg ohne Perspektive zu verlassen und jenen Weg einzuschlagen, auf dem die Anstrengungen für eine Politik intensiviert werden, die auf der eigenen Identität gründet und die eine Entwicklung in Freiheit ermöglicht.« (aus der Analyse Abdullah Öcalans an der Mahsum-Korkmaz-Akademie vom Januar 1989)

Heval Fidan wusste, wie man eine Politikerin des Handelns und des Weges wird, der einen solchen Ausdruck in Kurdistan gefunden hat. Diesen Weg zu gehen bedeutete, alles zu riskieren, nicht aufzugeben und an das Schöne zu denken, die Wahrheit zu sagen und das Gute zu tun – wie die weisen Frauen und Männer, die im Mittelalter als »Hexen« verbrannt, gekreuzigt wurden, weil sie die Wahrheit verteidigten, ins Feuer, in den Kerker geworfen und deren Körper zerstückelt wurden. Heval Fidan konnte im Bewusstsein dieser Realität und mit der Weisheit und Schönheit und der Gewissheit über den richtigen Weg Politik machen. Sie wusste auf diesem Weg voranzuschreiten, ohne in die Fallen der kapitalistischen Staatszivilisation zu tappen, ohne sich von ihr täuschen zu lassen und ohne Angst. Ihr Weg wird nun von Millionen von Sakines, Millionen von Leylas, Millionen von Fidans beschritten. Die Genossinnen und Genossen von Heval Fidan universalisieren die Revolution des kurdischen Volkes und der Frauen. Die Frauen und Völker des 21. Jahrhunderts, die im Mittleren Osten wachsen, tragen den Wind der Revolution zu allen Frauen und Völkern von Südamerika bis Afrika, von Asien bis Europa.


 Kurdistan Report 225 | Januar/Februar 2023