Zehn Jahre, die die Welt erschütterten

Errungenschaften und Heraus­forderungen der Rojava-Revolution

Dirok Hevî


Errungenschaften und Heraus­forderungen der Rojava-Revolution | Foto: ANHAAls am 19. Juli 2012 die Menschen in Rojava ihr Schicksal in die eigenen Hände nahmen, ahnte noch niemand, was für einen historischen Einfluss dieses Ereignis auf den Lauf der Geschichte nehmen würde. An diesem Donnerstag, an dem die Menschen in Massen zu den Institutionen des syrischen Kolonialregimes zogen, begannen sie einen neuen Abschnitt in ihrer Selbstermächtigung. Gleichzeitig können wir diesen Moment als einen der Wiedergeburt der Hoffnung definieren. Hoffnung für die Menschen in Rojava, im Mittleren Osten, aber auch weit darüber hinaus.

Um diese Revolution und ihre Tragweite in vollem Umfang verstehen zu können und um notwendige Lektionen aus ihr für die eigene Praxis zu lernen, muss sie in ihrem geopolitischen Kontext und ihrer historischen Entwicklung verstanden werden. Was waren die objektiven und subjektiven Bedingungen, die diesen Aufstand der Würde ermöglichten?

Zu der Zeit, über die wir schreiben, liegt das Ende des sog. Realsozialismus bereits 20 Jahre zurück. Das kapitalistische System hatte es geschafft, das Ende der Geschichte zu verkünden und sich als das einzig wahre System zu verankern. Gleichzeitig beginnt mit dem Zweiten Golfkrieg 1990 die offensichtliche Intervention der USA im Mittleren Osten, mit dem Ziel, im Rahmen ihrer Vorstellungen vom »Greater Middle East Project«, die Region neu zu gestalten und für den globalen Markt besser zu öffnen. Gleichzeitig sprechen wir von einer Zeit, in der im Zuge des »Frühlings der Völker« – oft auch »Arabischer Frühling« genannt – die gesamte MENA-Region (Mittler Osten und Nordafrika) von Aufständen gegen die alteingesessenen Regime erschüttert wird. Diese Welle, die mit der Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi Ende 2010 in Tunesien begann, schwappte in kürzester Zeit auf die umliegenden Länder über. In einigen Ländern gelingt es dem bestehenden Regime, die Proteste gewaltsam zu unterdrücken, in anderen kommt es zu Machtwechseln oder langen Bürgerkriegen. Auch in Syrien gehen die Menschen gegen die Diktatur des Assad-Regimes auf die Straße.

Organisiertheit als Voraussetzung für Erfolg

Wenn wir uns heute die Lage all dieser Ländern ansehen, müssen wir erkennen, dass in den wenigsten wirklich nachhaltige Veränderungen erreicht werden konnten. Trotz großer Opfer und viel Hoffnung geht es den Menschen in einigen Ländern, in den Aufstände stattfanden, fast noch schlechter als zuvor. Die einzige Welle des Aufstandes, die sich in eine langanhaltende Revolution verwandeln konnte, ist Rojava. Dies hat seine Gründe. Der erste Punkt ist: Entgegen aller anderen Aufstände und Proteste fanden die Demonstrationen und Unmutsbekundungen in Rojava auf fruchtbarem und organisiertem Boden statt. Seit Abdullah Öcalan Ende der 1970er Jahre über Kobanê in den Libanon aufbrach, begann in Rojava die revolutionäre Organisierung. In späteren Zeiten sollten sich hunderte, wenn nicht tausende junge Frauen und Männer aus Rojava in die freien Berge aufmachen, um sich der Guerilla anzuschließen und für ein freies Kurdistan zu kämpfen. Damit ging selbstverständlich die Organisierung der vorrangig kurdischen Gesellschaft in Rojava einher. Besonders Kurd:innen aus Efrîn, aber auch aus anderen Teilen Rojavas, fuhren in den Libanon und später nach Damaskus, nachdem die Akademie, in welcher Öcalan Bildungen abhielt, dorthin verlegt wurde. Nicht umsonst wird in Rojava in Bezug auf die Revolution immer von den Früchten der Arbeit Abdullah Öcalans gesprochen. Schon lange bevor am 19. Juli 2012 die Bevölkerung in Rojava das Regime aus seinen kolonialistischen Institutionen verdrängte und sich von nun an selbst regieren sollte, gab es dort verschiedene Organisierungen, die im Untergrund arbeiteten. So wurde schon 2003 die PYD gegründet und nur ein Jahr später Kongra Star. Als dann Ende 2010, Anfang 2011 die Aufstände in der Region zunahmen und damit auch der Einfluss jihadistischer Banden, war die Notwendigkeit gekommen, dass sich die Jugend unter dem Label YXK als Selbstverteidigungseinheiten organisierten. Mit den Angriffen von Al Nusra und anderer Gruppen transformierten und professionalisierten sich diese schon 2012 zur YPG, worauf 2013 die autonome Organisierung der Frauen als YPJ folgte. Deutlich können wir also erkennen, dass, als im Juli 2012 die Menschen Rojavas das Regime vertrieben, dies aus einer Stärke der langjährigen Organisierung heraus geschah. Die allermeisten anderen Aufstände in der MENA-Region waren jedoch spontane Wellen der Wut gegen das Regime die oftmals keine klare oder starke Organisierung hatten und daher entweder schnell zerschlagen oder in anderen Richtungen gelenkt werden konnten. Schlimmer noch war, dass oftmals die jihadistischen Kräfte die am besten organisierten Strukturen waren und es ihnen daher teilweise gelang, die Proteste zu kapern und zu instrumentalisieren.

Der zweite augenscheinliche Punkt ist das Vorhandensein einer klaren Antwort auf die Krise und die bestehenden Verhältnisse. Wohingegen die meisten Proteste auf Ablehnung der bestehenden Regime fußten und diese zum Rücktritt zwingen wollten, doch mit wenig Klar- und Einheit über die nachfolgenden Schritte, bestand in Rojava eine sehr viel klarere Vorstellung eines alternativen Lebens. Für die Bevölkerung hier gab es mit dem Modell des »Demokratischen Konföderalismus« und der damit verbundenen Organisierung in Räten und Kommunen eine klare Alternative zum Bestehenden. Nicht nur dahingehend, dass damit eine selbstverwaltete Form favorisiert wurde, es ging auch darum, eine grundlegende Alternative für die langzeitlich bestehende Krise im Mittleren Osten aufzuzeigen. Eine Krise, von der immer die herrschenden Klassen des jeweiligen Landes und noch mehr die hegemonialen Kräfte profitierten. Das, was Öcalan als »Dritten Weg« beschrieb, war als Antwort auf dieses Dilemma bezogen: Sich mit dem Kampf auf keine der beiden Seiten zu schlagen. Also weder zu versuchen, auf dem Status Quo der regionalen autoritären Regime zu beharren, noch auf die von außen aufoktroyierten, vermeintlichen Lösungen des kapitalistischen Systems. Die oben genannten zwei Aspekte sind zentral, um den Erfolg der nach zehn Jahren immer noch bestehenden Revolution zu verstehen.

»Auf den Sozialismus zu bestehen, bedeutet auf das Menschsein zu bestehen«

Es gibt jedoch noch eine weitere Ebene, die wir in diesem Zusammenhang verstehen müssen. Es ist die Antwort auf die bestehenden Fragen der Zeit und die Wiedererstarkung der Hoffnung. Während zum Ende des Realsozialismus und spätestens mit dem offiziellen Ende der Sowjetunion viele nationalen Befreiungsbewegungen und revolutionären Kämpfe ihrem Ende zugingen, entwickelte sich in Kurdistan unter Öcalan und mit der PKK eine ganz andere Herangehensweise. Da viele der zu dieser Zeit noch aktiven Bewegungen Rückhalt oder Unterstützung durch die Sowjetunion erhielten, hatte deren Zerfall oftmals einen schwerwiegenden Einfluss auf diese Gruppen. Die oft als bipolar beschriebene Welt verwandelte sich fast schlagartig in eine Welt unter der Vorherrschaft der USA. Der Kapitalismus feierte seinen Siegeszug und erklärte das Ende der Ideologien. In seiner Beweisführung konnte er sich voller Genugtuung auf das Scheitern des Realsozialismus und der noch bestehenden nationalen Befreiungsbewegungen beziehen. Gleichzeitig begann damit der Untergang der Hoffnung, dass eine andere Welt möglich sei. In Kurdistan jedoch entwickelte sich eine andere Herangehensweise, die jedoch aufgrund chauvinistischer Annahmen gegenüber der kurdischen Freiheitsbewegung zunächst kaum beachtet wurde. Was andere als ein Ende begriffen, erkannte Öcalan in seiner Weitsicht und selbstkritischen Haltung als eine Chance. Die Mängel und Fehler des Realsozialismus analysierend, gelangte er immer stärker zu der Auffassung, das man sich von den bestehenden Denkstrukturen und Lösungsansätzen emanzipieren müsse. Aus dieser Kritik heraus entwickelte er dann das, was wir heute als »Neues Paradigma« bezeichnen: Das Paradigma eines demokratischen, ökologischen und auf Frauenbefreiung basierenden Gesellschaftsmodells. Damit vollführt er einen qualitativen Sprung in der Evaluierung des Sozialismus und hebt diesen auf eine neue Stufe. Wir können in dieser Hinsicht auch vom »Demokratischen Sozialismus« sprechen. Ein Sozialismusverständnis, dem als Hauptwiderspruch nicht die Entstehung von ausbeutender und ausgebeuteter Klasse als Resultat von Privateigentum, sondern die Entstehung des Patriarchats zu Grunde liegt. Auch wenn also der Sozialismus in seiner »realen« Form bzw. mit dem Ziel der Erringung der Macht in einem Staat den Unterdrückten keine Befreiung brachte, war Öcalan doch davon überzeugt, dass dies nicht im Sozialismus selbst begründet war und insistierte daher: »Auf den Sozialismus zu bestehen, bedeutet auf das Menschsein zu bestehen.« Denn mit all den weltweit bestehenden Widersprüchen und immer wieder hochkochenden Protesten wird deutlich, dass die Unterdrückten dieser Welt noch immer auf der Suche nach Befreiung sind. Trotz intensiven Spezialkrieges und dauerhafter Beschallung durch das System, mit dem es den Menschen seine Lebensweise aufzwingen will, gibt es eine riesige Unzufriedenheit. Es gibt viele, denen die Unmenschlichkeit und der zerstörerische Charakter des Systems der kapitalistischen Moderne bewusst sind, aber in Ermangelung einer wirklichen Alternative in Hoffnungslosigkeit und Nihilismus verfallen. Der Kampf des Systems gegen die kurdische Freiheitsbewegung ist von diesem Standpunkt aus gesehen ein Kampf gegen die Hoffnung. Schon zu Zeiten des Zweiten Golfkrieges, als Saddam Hussein den Rückzug der irakischen Armee aus dem Norden des Landes anordnete, weil er im Süden militärisch immer mehr unter Druck gerät, öffnete sich für die kurdische Freiheitsbewegung eine historische Chance. Öcalan beschrieb die Bedingungen damals als eine Möglichkeit, einer zweiten Oktoberrevolution gleich, einen Vorstoß, der hätte organisiert werden können. Doch um das zu verhindern, wurde unter der Federführung der USA die Autonome Region Kurdistan gegründet. Zu große Sorge bestand, dass die PKK diese Situation für sich nutzen könnte, daher war auch die erste Entscheidung im neuen Parlament von PDK und PUK, zusammen mit der Türkei, Krieg gegen die PKK zu führen. Es war ein Krieg, um die Hoffnung, die in den freien Bergen Kurdistans brannte, zu zerstören. Auf diese Hoffnung zielte auch das Internationale Komplott, das mit dieser Intervention der USA im Mittleren Osten seinen Anfang nimmt. In dessen Fortführung dann wurde, wegen des Ausbleibens großer Erfolge, am 09. Oktober 1998 Öcalan zum Verlassen Syriens gezwungen. Nach einer Odyssee durch Europa und unter Beteiligung von mindestens 34 Staaten wurde er dann schließlich in Kenia in die Hände des MIT übergeben, um auf der Gefängnisinsel Imrali in der Türkei unter einem Isolationsregime eingesperrt zu werden. Doch auch wenn es für die kurdische Freiheitsbewegung ein ununterbrochener Schmerz ist, konnte die Hoffnung, die von den freien Bergen ausgeht, damit nicht erstickt werden. Vielmehr schaffte es die Bewegung, aus dieser Liquidationsphase gestärkt hervorzugehen und hat heute mit der Schaffung der Guerilla des 21. Jahrhunderts dem weltweiten Befreiungskampf eine bedeutende Seite hinzugefügt.

Wir können die Geschehnisse die sich um den 19. Juli 2012 herum in Rojava entwickelten, ohne zu übertreiben als Revolution der Hoffnung beschreiben. Als in der Ausweglosigkeit, in der sich die Ezid:innen im August 2014 in Shengal befanden, die Kämpfer:innen der PKK und YPG/YPJ den eingeschlossenen und von der PDK schutzlos dem IS ausgelieferten Menschen zur Hilfe kommen, glimmte erneut Hoffnung auf. Diese hat sich heute in die selbstverwaltete Region Shengal transformiert. Gleichzeitig war es Hoffnung, die dem Widerstand in Kobane 2014/15 gegen den IS seinen besonderen Charakter, seine Stärke und seine weltweite Aufmerksamkeit bescherte. Sie ist es auch, die die meisten der Internationalist:innen antreibt, die sich bereits in den ersten Jahren der Revolution aufmachten, ihren Platz darin einzunehmen. Während der Kampf gegen den IS an allen Fronten tobte und die noch junge Revolution sich langsam versuchte zu stabilisieren, bestanden viele der heutigen Errungenschaften und Entwicklungen noch nicht. Zu der damaligen Zeit gab es zwar eine bestehende Organisierung, aber wenig bis gar keine Erfahrung darin, was es bedeutet, sich in allen Bereichen des Lebens selbst zu verwalten. Durch das Regime in kolonialer Abhängigkeit gehalten, die sich durch das Schulsystem auch bis auf die Mentalität und das Denken erstreckte, musste diese neue Form der Basisdemokratie erst Schritt für Schritt ausprobiert und gelernt werden.

Krieg als Mittel des Versuchs, die Revolution zu unterdrücken

Eine der vielleicht offensichtlichsten Schwierigkeiten, der sich die Revolution in Rojava von Anfang an gegenübersah und die auch heute noch nach zehn Jahren allgegenwärtig ist, ist der Krieg. Damit findet sie sich in ähnlicher Lage wie auch die Oktoberrevolution, der Aufstand der Pariser Kommune oder der Spanische Bürgerkrieg. Alle mussten sich, neben dem Aufbau neuer Institutionen der Selbstverwaltung, in einem großen Maß auch auf die Verteidigung konzentrieren. Ist diese nicht stark genug, unterliegt sie dem Faschismus, unterliegt sie dem System. Wenn wir auf die Ereignisse in Spanien 1936-39 blicken, sticht uns genau diese Problematik ins Auge. Auch wenn innerhalb der Gebiete, die von den Republikanischen Truppen geschützt wurden, viele Projekte realisiert und wichtige gesellschaftliche Entwicklungen vorangetrieben wurden, endete die Revolution jedoch schon nach drei Jahren, weil sie militärisch zerschlagen wurde. Der Pariser Kommune erging es schon nach 100 Tagen so, dass trotz großer Opfer die Kommune zerschlagen wurde. Auch in Rojava gibt es fast täglich Angriffe und von allen Seiten werden größte Anstrengungen unternommen, die Revolution auf diese Weise zu vernichten. Während zu Beginn vor allem Angriffe von Seiten jihadistischer Banden, Teilen der sog. Freien Syrischen Armee und durch das Regime erfolgten, kamen schon nach kurzer Zeit die Angriffe des IS hinzu. Damit einher gingen auch die Angriffe und Bemühungen des faschistoiden türkischen Staates, auf jedwede Art und Weise die Revolution zu beenden. Der Türkei geht es jedoch nicht nur um das Ende der Revolution, sondern vielmehr auch um die Vernichtung der Kurd:innen. Auch wenn sie vielleicht nicht die vollkommene physische Vernichtung erreichen kann, so sieht sich das kurdische Volk einem kulturellen Genozid gegenüber, gegen den es sich zu verteidigen gilt. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass in den von der Türkei in Nordostsyrien/Rojava besetzen Gebieten gezielt Araber:innen angesiedelt werden – zum größten Teil Familien der jihadistischen Banden, die unter dem Befehl der Türkei kämpfen. Damit einhergehend besteht eine solche Gefahr natürlich auch durch den IS. Auch wenn er territorial im Jahr 2019 besiegt wurde, ist er noch lange nicht aus der Region verschwunden. Neben dutzenden Schläferzellen, die von der Türkei gesteuert, befeuert und unterstützt werden, befinden sich zehntausende IS-Kämpfer in den Gefängnissen und Camps in Nordostsyrien, in den Gebieten der Selbstverwaltung. Unter ihnen viele tausende aus westlichen und asiatischen Staaten. Doch die Weltgemeinschaft nimmt diese weder in ihre Länder zurück, noch gibt es ausreichend Unterstützung, um dieses Problem zu lösen. Bei Gräueltaten dieses Ausmaßes kam es historisch zu internationalen Tribunalen oder ähnlichem, doch im Falle des IS bleibt dies bislang versagt. Damit wird der IS als Teil einer Strategie benutzt, die Mühen und den Fokus der Revolution vom Aufbau und der Weiterentwicklung anderer Bereiche abzulenken.

Ein weiterer bedeutsamer Punkt, der als Herausforderung für die Revolution genannt werden muss, ist die Politik der ethnischen Spaltung, die von allen Seiten befeuert wird. Weil sich die Revolution mit ihrem Projekt der demokratischen Nation auf das Zusammenleben aller Völker in der Region stützt und daher Vielfältigkeit und kultureller Pluralität große Bedeutung beigemessen wird, wird von allen Seiten versucht, immer wieder ethnische Spaltungen, beispielsweise zwischen Kurd:innen und Araber:innen, zu generieren. Wie schon zuvor das syrische Regime, setzt auch die Türkei auf eine Arabisierung der gesamten Grenzregion, um die Kurd:innen zu verdrängen. Wieder andere Kräfte versuchen einen anti-arabischen, kurdischen Nationalismus zu fördern. Auch deswegen legte Öcalan immer wieder größten Wert darauf, die Wichtigkeit der Geschwisterlichkeit der Menschen in der Region zu betonen, weil nur sie eine langanhaltende Lösung bringen kann und gleichzeitig auch die klarste Antwort auf die Spiele der hegemonialen Kräfte mit ihrer Teile-und-Herrsche-Politik darstellt.

Eine weitere Herausforderung ist selbstverständlich die Politik des US-Imperialismus gegen die Revolution, die darauf abzielt, eine ähnliche kurdische Entität zu schaffen, wie sie bereits seit den 1990er Jahren in Südkurdistan besteht. Nicht nur, um damit die Revolution zunichte zu machen, sondern auch, um damit weiterhin Druck auf die jeweiligen Nationalstaaten ausüben zu können. Es geht der USA also darum, das Projekt, anstatt es zu vernichten, unter ihre Kontrolle und damit in ihren geopolitischen Dienst zu stellen.

Selbstverständlich muss hier auch die Embargo-Politik gegen die Revolution genannt werden. Nicht nur, dass von allen Seiten Rojava ein striktes Embargo aufgezwungen wird, so stoppt die Türkei auch seit Jahren mit Staudämmen den Fluss des Euphrats und will damit nicht nur die Revolution austrocknen (Landwirtschaft, Trinkwasser, Desertifikation etc.), sondern hat auch durch die durch das syrische Regime geschaffene Zentralisierung großen Einfluss auf die Stromerzeugung. Denn das Assad-Regime gewann schon seit eh und je den größten Teil seiner Stromproduktion aus den zwei riesigen Staudämmen in Tabqa und Tischrin. Geringer Wasserfluss korreliert daher mit geringer Stromversorgung. Zusammen mit einer Politik aus Krieg und Embargo will man die Bevölkerung in Rojava sozusagen aushungern und ihre Lebensgrundlage soweit zerstören, dass, auch wenn sie ein demokratisches Leben erschaffen hat, es auf Grund von Abwesenheit jedweder Lebensmöglichkeit nicht weiter in Lage ist zu existieren. Genau das ist ein Teil dessen, was wir zuvor als kulturellen Genozid beschrieben haben. Durch die Schaffung dieser Umstände sollen die Menschen in die Flucht getrieben werden und damit, ob sie wollen oder nicht, auf kurz oder lang in die Assimilation.

Sicherlich könnte man hier noch unzählige weitere Herausforderungen nennen und die oben beschriebenen Aspekte erheben weder Anspruch auf Vollständigkeit, noch stehen sie nach Wichtigkeit geordnet. Es steht außer Frage, dass jede Revolution mit unzähligen Herausforderungen und Problemen konfrontiert ist – das liegt auch in der Natur der Sache, die Lebensrealität einer ganzen Gesellschaft zu verändern. Das reicht von Problemen wie der Schaffung eines von Grund auf neuen Bildungssystems, das erst noch seine Lehrkräfte schaffen muss, über die Schwächen im Gesundheitssystem, über die Zeit, die es dauert, Kooperativen nicht nur aufzubauen, sondern auch in ihnen die demokratische Art und Weise der Produktion zu verankern. Und noch vielem mehr. Aber es sind halt auch erst zehn Jahre, dass dieser Aufstand der Hoffnung, die Revolution in Rojava, begonnen hat. Noch immer muss sich leider mit großem Fokus auf die Verteidigung und den Krieg konzentriert werden, was den Aufbau der Selbstverwaltung nicht einfacher macht. Nichts desto trotz können wir nach zehn Jahren auf beträchtliche Errungenschaften und Erfolge blicken, die selbstverständlich in ihrem geopolitischen Zusammenhang gesehen werden müssen.

Um zu unterstreichen, was schon eingangs erwähnt wurde: die Revolution in Rojava hat nichts Geringeres erreicht, als Millionen von Menschen weltweit die Hoffnung auf ein freies Leben und die Realisierbarkeit von Revolutionen im 21. Jahrhundert zurückzugeben. Diese immaterielle Errungenschaft darf auf keinen Fall unterschätzt werden. Nicht umsonst sprach Öcalan davon, dass Hoffnung wertvoller ist als Erfolg. Eine weitere unschätzbare Errungenschaft ist das veränderte Selbstbewusstsein und die Situation der Frauen in Rojava. Auch wenn niemand davon spricht, dass völlige Freiheit erreicht oder alle Probleme, mit denen Frauen konfrontiert sind, nun verschwunden sind, hat die Revolution doch in nur zehn Jahren eine sehr beeindruckende Veränderung erzielt. Bei dieser geht es nicht nur um die Sichtbarkeit von Frauen in allen Bereichen des Lebens, sondern vor allem um die Stärke der Frauen untereinander. Dies ist auch zur Inspiration und zur Motivation für Frauen weltweit geworden. Nicht nur die Kämpferinnen der YPJ, die große Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, sondern im Allgemeinen das Selbstbewusstsein und die Selbstverständlichkeit, mit denen Frauen heute überall am Alltag, in allen Entscheidungen und Bereichen, teilhaben.

Der internationalistische Charakter der Revolution als Chance

Zudem genießt der Internationalismus eine lange Tradition in der kurdischen Freiheitsbewegung: Von Şehîd (dt. Gefallener) Haki Karer und Şehîd Kemal Pir, die als erste den Weg der Revolution mit Abdullah Öcalan beschritten hatten, über die Rolle der PKK in der Verteidigung des Südlibanon gegen die Angriffe Israels 1982 und die dort Gefallen, hin zu hunderten Internationalist:innen, die nicht nur in die Akademien kamen, um zu lernen und sich zu entwickeln, sondern sich auch der Guerilla anschlossen und im Kampf unsterblich wurden. Die Revolution in Kurdistan und damit auch in Rojava muss sowohl als antikolonialer Kampf für die Existenz des kurdischen Volkes begriffen werden, als auch als ­internationalistische Revolution. Während in den 1970/80er Jahren die Bekaa-Ebene im Libanon für revolutionäre Bewegungen und Revolutionär:innen als befreites Gebiet von besonderer Bedeutung war, um dort Ausbildung und Erfahrung zu sammeln, kann man heute im globalen Kontext in Bezug auf Rojava davon sprechen, dass dies als einer der wenigen Orte mit solch einer Charakterisierung verblieben ist. Wo, wenn nicht hier in Rojava, kann man in der Praxis lernen, was es bedeutet, inmitten einer Revolution zu leben und zu arbeiten, kann man versuchen, den Anspruch zwischen Traum und Wirklichkeit zu verwirklichen, kann man mit revolutionärer Hingabe an sich und Mitmenschen arbeiten, um sich in dieser Hinsicht weiterzuentwickeln! Was die große Revolutionärin Rosa Luxemburg kurz nach Beginn der Oktoberrevolution in Russland in ihrer solidarischen Kritik zu Papier brachte, gilt in vielerlei Hinsicht auch für die Revolution in Rojava. Hervorheben möchte ich dabei besonders die fast letzten Worte diesen kurzen Textes: »In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab’s gewagt! Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche ­geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben.« Bezogen auf Rojava können wir das folgendermaßen verstehen: Dass trotz aller bestehenden Unzulänglichkeiten und Herausforderungen die Rojava-Revolution in dieser Hinsicht die erste Verwirklichung des neuen, demokratischen Sozialismus ist. Sie hat vor aller Augen unter Beweis gestellt, dass wir noch lange nicht am Ende der Geschichte angelangt sind und dass mit guter Organisierung und viel Ausdauer Revolutionen noch immer möglich und unter den bestehenden Verhältnissen mehr als nötig sind. Im Besonderen hat sie mit einer lokal bzw. regional entwickelten Realität eine globale Lösungsperspektive aufgezeigt. Mit dem demokratischen Weltkonföderalismus kann der weltweite Kampf um Befreiung auf eine völlig neue Ebene gehoben werden.

Noch mehr Unterstützung nötig

Was wir also zusammenfassend sagen können, ist, dass wir nach zehn Jahren der Revolution, unzähligen wundervollen Errungenschaften, auch vielen großen und kleinen Herausforderungen gegenüberstehen. Das jedoch ist wenig überraschend. Viel überraschender ist, und das sollte in Anbetracht der Situation, all der täglich stattfindenden Angriffe und Bedrohungen, Fokus der Überlegungen sein, wie die Revolution in Rojava weltweit noch mehr unterstützt und durch die Überwindung der Herausforderungen, denen sie sich gegenübersieht, langlebig gemacht werden kann. Selbstverständlich geht es dabei weder um eine Idee von »Sozialismus in einem Land«, noch sieht sich die Revolution in Rojava als die einzig legitime Revolution; vielmehr geht es darum, dass Rojava Hoffnung ist und daher die Existenz dieser Revolution schon aus diesem Punkt heraus von großer Bedeutung ist. Damit einher geht auch die Möglichkeit, dieses befreite Gebiet als Ort von Diskussionen, Bildung und Erfahrung zu nutzen. Selbstverständlich wird die Schaffung von Revolutionen an anderen Orten der Welt als große, revolutionäre Solidarität verstanden, wobei zwischen diesen beiden Punkten eine wichtige Dialektik besteht bzw. bestehen kann.

Alles in allem können wir sagen, dass nach zehn Jahren die praktische Solidarität mit Rojava und der Revolution in Kurdistan ein viel höheres Niveu ereicht haben müsste. Das ist etwas, an dem wir alle überall arbeiten müssen. Die ineinander greifenden Aspekte dieser Revolution müssen gut und tiefgreifend verstanden werden. Zuviel steht auf dem Spiel, um eine Niederlage zu erleiden. Während im Ersten Weltkrieg unter großer deutscher Beteiligung der Völkermord an den Armenier:innen verübt wurde, wurde im Zuge des Zweiten Weltkrieges durch Deutschland mit dem Holocaust die jüdische Bevölkerung großenteils vernichtet. Inmitten des Dritten Weltkrieges, in dem wir uns gerade befinden, sind nun die Kurd:innen das Ziel. Das Ende der Revolution in Rojava würde daher auch für die Zukunft der Kurd:innen schreckliche Folgen haben.

Das Feuer der Hoffnung, das am 19. Juli 2012 in Rojava zu lodern begann, ist über die Jahre größer geworden und hat sich ausgebreitet. Der Boden dieser Revolution, der mit dem Blut von mehr als 11 000 zumeist jungen Frauen und Männern, unter ihnen auch nicht wenige Internationalist:innen, getränkt ist, ist unser aller Verantwortung geworden. Was wir darauf sähen, wie wir diesen Boden bebauen, hängt von uns allen ab. Die Revolution ist in der Hinsicht mehr als offen. Es ist schon allein ein Wunder, dass diese Revolution trotz all der ganzen Angriffe überhaupt so lange überlebt hat und mit jedem Tag sich weiter entwickelt.

Zum zehnten Jahrestag dieser wundervollen Revolution liegt eine ganze Zukunft vor ihr, vor uns allen. Lasst uns, das Feuer der Revolution in unseren Herzen tragend, die alte Persönlichkeit, die alte Welt, dieses in die Jahre gekommene System verbrennen und aus der Asche, dem Symbol der Hoffnung, einem Phönix gleich, eine neue Welt erschaffen.


 Kurdistan Report 222 | Juli/August 2022