Die deutsch-türkischen Beziehungen im Lauf der Geschichte

Die Verantwortung Deutschlands in der sogenannten Kurdischen Frage

Michael Kaiser für die Initiative »Defend Kurdistan«


Die Verantwortung Deutschlands in der sogenannten Kurdischen FrageAls Aktivist:innen der Initiative »Defend Kurdistan« in Deutschland setzen wir uns permanent mit der politischen, militärischen und gesellschaftlichen Lage in Kurdistan auseinander und kommen in diesem Zusammenhang natürlich auch auf die Rolle des türkischen Staates zu sprechen. Wir verurteilen diesen immer wieder für seine Kriegshandlungen und Verbrechen in Kurdistan und wenden uns in diesem Zusammenhang auch an die deutsche Bundesregierung, um sie zum Handeln aufzufordern. Insbesondere in den sozialen Medien kommen dann häufig Fragen auf, warum ausgerechnet der deutsche Staat handeln müsse, warum der deutsche Staat Verantwortung in einem Konflikt tragen würde, der vermeintlich so weit entfernt ist. In diesem Text möchten wir darauf aufmerksam machen, wie nah dieser Konflikt eigentlich wirklich ist. In diesem Zusammenhang werden wir einen genaueren Blick auf die deutsch-türkischen Beziehungen im Laufe der Geschichte werfen. Zum Abschluss des Textes werden wir auch auf die konkrete Rolle des deutschen Staates im aktuellen Krieg eingehen.

Anmerkung: Die dargestellten historischen Entwicklungen sind in einer maximalen Kürze zusammengefasst. Das Thema hat bereits tausende Seiten in unzähligen Büchern gefüllt. Unser Text soll nur einen groben Überblick verschaffen, aber wir raten dringend dazu, sich mehr Wissen über die Hintergründe anzueignen. Für jegliche Nachfrage oder Buchempfehlunge können wir per Mail unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. erreicht werden.

Erste Berührungspunkte zwischen dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und dem Osmanischen Reich

Der Grundstein der deutsch-türkischen Beziehungen wurde bereits im 11. Jahrhundert gelegt. Im Rahmen der damaligen Kreuzzüge, die das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« durchführte, kam es zu ersten Kontakten mit dem Sultanat der Rum-Seldschuken. Dieses Sultanat war eines der Vorläufer des späteren Osmanischen Reiches. Selbst heute beziehen sich viele Türk:innen auf das Reich der Seldschuken als ihre vermeintlichen Vorfahren. Die geknüpften Kontakte führten jedoch noch zu keinen ernsthaften Beziehungen zwischen beiden Seiten. Vielmehr entstand eine Faszination des Orients auf Seiten der Deutschen, eine Faszination, die bis heute relativ ungebrochen anhält.

Erst später ergaben sich intensivere Berührungspunkte, als das Osmanische Reich (welches im Jahre 1299 gegründet worden war) nach Südosteuropa Richtung Wien drängte. Parallel dazu versuchte Deutschland, dasselbe Gebiet aus der anderen Richtung für sich kolonisatorisch und ökonomisch zu erschließen, wobei es in die dynastischen Konflikte der Habsburger, des Königreichs Ungarn, hineingezogen wurde und sich so in den direkten Konflikt mit dem Osmanischen Reich begab. Jedoch sollte es noch einige Jahre dauern, bis es zu wirklichen staatlichen Beziehungen kam, denn noch war Deutschland ein zu großer Flickenteppich verschiedenster Monarchien und Fürstentümer. Bis ins 17. Jahrhundert hinein kamen jedoch einerseits viele türkische Stämme auf Beutezüge bis in die deutschen Länder und andererseits begaben sich viele deutsche Händler:innen auf Reisen in den Orient und sorgten somit für einen ersten regen Austausch der Kulturen.

Im 18. Jahrhundert kam es dann zu den ersten offiziellen diplomatischen sowie militärischen Beziehungen, die damals zwischen dem Osmanischen Reich und Preußen geschmiedet wurden. Diese Beziehungen wurden von da an Stück für Stück weiter ausgebaut und erreichten ihren ersten Höhepunkt nach der Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871 bzw. ab der Kaiserzeit Wilhelms II. mit seinem spektakulären Besuch beim »Roten Sultan«. Spätestens hier finden wir den Grundstein der wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Beziehungen, die über die Zeiten hinweg immer wieder von Krisen geprägt waren, sich jedoch trotz allem bis zum heutigen Punkt stets weiterentwickelten.

Intensivierung der Zusammenarbeit und Waffenbrüderschaft

Es waren primär außenpolitische und wirtschaftliche Gründe, welche die Türkei für Deutschland interessant machten. Das deutsche Kaiserreich war im Rennen um die Kolonien gegenüber den anderen zentralen Mächten Europas, wie England, Spanien, Frankreich, Italien und Portugal, ins Hintertreffen geraten und hoffte nun über die Türkei eigene Kolonien im Nahen sowie Fernen Osten etablieren zu können. Gezielt ging es Deutschland dabei darum, die reichen Rohstoffvorkommen der Region für sich vereinnahmen zu können. Ein Motiv, an dem sich bis heute wenig verändert hat.

Hierbei waren (bzw. sind bis heute) vor allem zwei Ebenen wichtig, die beide ineinander übergehen. Auf der einen Seite standen/stehen massive industrielle Investitionen, wie damals der Bau an der legendären Bagdadbahn. Sie reichte von Berlin über Istanbul und Konya bis nach Bagdad. Der ursprüngliche Plan, sie bis nach Indien zu erweitern, wurde nie ausgeführt. Die Bahn wurde vor allem aus zwei Gründen gebaut: zum einen sollte sie es Deutschland und der Türkei ermöglichen, die Region wirtschaftlich zu erschließen, zum anderen war sie von militärischer Bedeutung, denn durch sie sollten strategische Truppenverschiebungen schnell möglich gemacht werden. Die Bahn sollte bereits während der Bauphase, aber auch in den Jahrzehnten danach eine wichtige Rolle im Genozid an den Armenier:innen spielen. Auch dieser Völkermord war eines der größten »Projekte«, welche der deutsche und der türkische Staat gemeinsam durchführten.

Die andere Ebene, die sich von nun an massiv intensivierte, war die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft. Diese setzte in Form der offiziellen deutschen Militärmission ab 1882 ein. Bereits zuvor hatten mehrere Militärmissionen, die bekannteste unter dem preußischen Generalfeldmarschall Helmuth Karl Bernhard von Moltke, das osmanische Heer modernisiert. Doch nun ging es Deutschland darum, gezielt die osmanische Armee auszubilden und auch auszurüsten. Viele deutsche Generäle gingen in die Region und bauten dort Militärakademien auf. Viele deutsche Soldaten wurden in die osmanische Armee überstellt. Parallel dazu leitete die deutsche Industrie die osmanische an, einen eigenen, neuen und großen Rüstungsproduktionssektor aufzubauen. Dies führte zwar zu einer Intensivierung des Verhältnisses zwischen beiden Ländern, aber das Osmanische Reich letztlich auch in eine nationale Katastrophe. Als Verlierer des Ersten Weltkriegs musste es weite Gebietsverluste hinnehmen und löste sich im Endergebnis sogar auf, aber dazu unten mehr.

Insbesondere ab Beginn des 20. Jahrhunderts wurde auch dem Einfluss deutscher Politik im Osmanischen Reich mehr Gewicht und Bedeutung zugemessen. Ein Beispiel dafür ist das damalige Aufkommen der »Jungtürken«; diese wurden von den deutschen Sozialdemokraten wie zum Beispiel Friedrich Schrader massiv inspiriert und intensiv beraten, sodass sie sich ab 1908 gegen den Sultan wendeten und zu rebellieren begannen. Dass sie letztlich den Machtwechsel vollziehen konnten, lag zwar auch an der Ausbildung, die sie erhalten hatten, aber vor allem auch an den Beziehungen zu Intellektuellen wie Hans Humann, die Enver Pascha, Cemal Pascha und Co. aufgebaut hatten.

Die Zeit des Weltenbrandes – der Erste und Zweite Weltkrieg

Nach anfänglichen Überlegungen, sich im Ersten Weltkrieg entweder auf die Seite der Entente zu stellen oder neutral zu bleiben, stellte sich das Osmanische Reich schlussendlich durch die Nutzung der von Deutschland übergebenen Kriegsschiffe SMS Goeben und SMS Breslau auf die Seite Deutschlands. Das Verzögern des Kriegseintritts war reine diplomatische Abwägung, denn die absolute Mehrheit der Gesellschaft in der Türkei hatte zu dieser Zeit sowieso bereits Sympathien zu Deutschland und zu dem Gedanken des Kriegseintritts aufgebaut. Die deutsche Intelligenz war sowieso bereits überrepräsentiert in der Türkei, deutlich präsenter als die englische oder französische, die auch phasenweise großen Einfluss gewonnen hatte.

Mit dem Kriegseintritt auf der deutschen Seite entschied sich das Osmanische Reich für die Niederlage. Es verlor zusammen mit Deutschland den Krieg und erlebte ebenso wie Deutschland die Abschaffung der Monarchie. Das Osmanische Reich zerbrach in der Folge und es kam zu massiven territorialen Einschränkungen, da einigen unterdrückten Völkern in der Region wie z.B. den Armenier:innen oder Palästinenser:innen ein eigenes Staatsgebiet zugesprochen wurde. Dieser Moment spielt bis heute eine wichtige Rolle in der Türkei, mit dem viele Parteien versuchen, Politik zu machen. Heute sind es vor allem Parteien wie die AKP unter Erdoğan, die einen massiven islamistisch geprägten Nationalismus in der türkischen Gesellschaft schaffen wollen und immer wieder öffentlich verlautbaren, dass sie Gebietsansprüche auf ehemalige osmanische Regionen erheben.

Aber wieder zurück in die Geschichte: Nach dem Ersten Weltkrieg kam es also erst einmal zu einer Krise bei beiden Verlierermächten. Für zwei Jahre blieb beispielsweise der Posten des deutschen Botschafters in der Türkei unbesetzt. Das fügte den Beziehungen jedoch keinen nachhaltigen Schaden zu. Im Gegenteil, die Beziehungen wurden in der Zwischenkriegsphase erneut sowohl auf wirtschaftlicher, politischer als auch militärischer Ebene deutlich vertieft. Auch nach dem Beginn der nationalsozialistischen Machtergreifung half Deutschland weiter bei der Ausbildung türkischer Soldaten. Deutschland blieb die primäre Quelle für Rüstungsgüter für die Türkei und deutsche Firmen unterstützten erneut den Aufbau der dortigen Waffenindustrie. Dass Hitler selbst sich ständig auf Atatürk bezog und in seinem Buch »Mein Kampf« diesen auch mehrfach zitierte, sorgte in der türkischen Gesellschaft für Sympathien für die NSDAP. Auch beim späteren Holocaust wurde zum Teil auf Methoden zurückgegriffen, welche beim Genozid an den Armenier:innen und später bei den Massakern an den Kurd:innen »erprobt« wurden.

Als der Zweite Weltkrieg begann, setzte Deutschland erneut eine große Hoffnung auf die Türkei und schrieb ihr eine wichtige Rolle im Plan zur Eroberung des Nahen Ostens und Nordafrikas zu. Doch die Türkei blieb unentschlossen und sie schwankte immer wieder. Deutschland setzte große Bemühungen daran, die Türkei in den Krieg zu ziehen. Es kaufte immense Mengen an Rohstoffen aus der Türkei ein und entsendete dafür viele Rüstungsgüter. Die Türkei nutzte jedoch die Situation, dass sie sowohl von Deutschland als auch von den USA und England umworben wurde, und versuchte von beiden Kriegsparteien möglichst große Investitionen an Land zu ziehen. Auch diese Art der Außenpolitik, zwischen verschiedenen Seiten zu pendeln und sie gegeneinander auszuspielen, ist bis heute eine wichtige Konstante der türkischen Außenpolitik. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür bietet die aktuelle Debatte rund um die NATO-Erweiterung und das türkische Festhalten an den engen Beziehungen zu Russland.

Erst am 23. Februar 1945 stellte sich die Türkei dann offiziell auf die Seite der Alliierten und erklärte Deutschland den Krieg. Zu diesem Zeitpunkt war der Zweite Weltkrieg jedoch schon so klar entschieden, dass der türkische Kriegseintritt keine nennenswerte Bedeutung mehr hatte. Auch auf die späteren deutsch-türkischen Beziehungen sollte sich diese Entscheidung Ankaras nicht auswirken.

Nachkriegszeit und Kalter Krieg

In der Nachkriegszeit festigten sich die Beziehungen zwischen den Ländern schnell wieder. Die BRD baute sich insbesondere durch den Marshall-Plan wieder auf und wurde zu einem der wichtigsten Länder im Westblock gegen den Osten. Aufgrund dieser Rolle wurde Deutschland in der internationalen Staatengemeinschaft schnell akzeptiert und trat schließlich 1955 der NATO bei. Spätestens von da an wurden auch die Beziehungen zur Türkei wieder intensiviert, denn die Türkei war bereits drei Jahre zuvor Teil des Nordatlantikpaktes geworden.

Der nächste Meilenstein in der langen Geschichte der Kooperation stellte das Anwerbeabkommen zwischen der BRD und der Türkei von 1961 dar. Die Folgen dessen sind bis heute klar sichtbar. Hunderttausende türkisch- und kurdischstämmige Menschen siedelten in die BRD über. Das führte jedoch auch zu vielen gesellschaftlichen Konflikten. Ein zum Teil tödlicher Rassismus in der deutschen Gesellschaft lebte vor allem in den späten 70er, 80er und 90er Jahren wieder auf. Neonazi-Strukturen, von denen der NSU nur das jüngste Beispiel darstellt, verdeutlichen, welche Auswüchse der Rassismus in Deutschland weiterhin haben kann. Andererseits begann auch die türkische und kurdische Diaspora sich zu organisieren. Während sich viele islamistische und nationalistische Verbände gründeten, stärkte sich auch zunehmend eine linke und oppositionelle Diaspora in Deutschland, die vor der repressiven Politik in der Türkei geflohen war.

Höhepunkte der Kooperation stellten die Militärputsche in der Türkei von 1960, 1971 und 1980 dar. Alle Putsche wurden von deutschen Diplomaten intensiv beobachtet, teilweise auch unterstützt. Die Putsche waren zumeist überhaupt erst durch das Know-How und die Ausrüstung, die Deutschland zuvor in die Türkei geliefert hatte, möglich geworden. Auch bei der Art und Weise, wie von nun an oppositionelle Bewegungen bekämpft wurden, lernte die türkische Regierung einiges von ihren deutschen Amtskolleg:innen, die ihrerseits die 68er-­Bewegung in der BRD niederschlugen und eine ganz eigene Art der Folter von politischen Oppositionellen in den Gefängnissen schufen.

Gegenwärtige Beziehungen und Deutschlands Rolle in Bezug auf den Krieg in Kurdistan

Bevor wir auf die heutige Situation eingehen, müssen wir zunächst einmal versuchen, grob einzufangen, welchen Einfluss die beiden Länder aufeinander haben.

Zunächst einmal zu der Frage, welchen Einfluss Deutschland auf die heutige Türkei hat: Deutschland ist das führende Herkunftsland von ausländischen Direktinvestitionen in der Türkei, sowohl was die Dauer der Präsenz als auch was die Anzahl der beteiligten Unternehmen anbelangt. Derzeit gibt es fast 8.000 deutsche Unternehmen bzw. türkische Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung in der Türkei. Das Investitionsvolumen deutscher Unternehmen in der Türkei seit 1980 beläuft sich auf nahezu 14,5 Milliarden US-Dollar. Bei dem größten Anteil dieser Investitionen handelt es sich um langfristige Neuinvestitionen, durch die hunderttausende Arbeitsplätze in der Türkei geschaffen werden. Deutsche Unternehmen in der Türkei sind in vielen Sektoren vertreten: von der Industrieerzeugung und dem Vertrieb verschiedenster Produkte bis zu Dienstleistungsangeboten aller Art sowie der Führung von Einzel- und Großhandelsbetrieben. Die größten Investoren sind hierbei Siemens, Bosch, Airbus, Mercedes-Benz, VW, Henkel, Deutsche Post, VW und BASF. Andersherum ist Deutschland mit 1,4 Milliarden US-Dollar im Mai 2021 das Top-Exportziel der Türkei.

Gleichzeitig ist und bleibt die Türkei einer der wichtigsten Importeure deutscher Rüstungsgüter. So wurden von 2016 bis 2021 Genehmigungen mit einem Gesamtwarenwert von über 250 Millionen Euro zur Ausfuhr bewilligt. Deutsche Rüstungsunternehmen wie Rheinmetall, Heckler & Koch oder Thyssenkrupp und gemeinsam mit ihnen der deutsche Staat verdienen somit immens an den Kriegen der Türkei.

Sowohl diese wirtschaftlichen Faktoren als auch politische Interessen wie das sog. Flüchtlingsabkommen, durch das sich EU und vor allem Deutschland vor Geflüchteten abschotten, machen die Türkei weiterhin zu einem beliebten Reiseziel von deutschen Kanzler:innen und Außenminister:innen. Aufgrund der gemeinsamen Geschichte und der eigenen Interessen ist man dann auch gerne dazu bereit, über die Menschenrechtsverbrechen der Türkei hinwegzusehen.

Nun zum Einfluss der Türkei auf Deutschland: Deutschland beherbergt die größte türkische Diaspora weltweit. Offizielle Angaben schwanken meistens um die Zahl von 1,5 Millionen türkeistämmigen Menschen hier in Deutschland. Allerdings sind diese Angaben mit Vorsicht zu genießen, da die Zahlen anhand der Staatszugehörigkeit festgemacht werden, was bedeutet, dass auch viele Kurd:innen, Turkmen:innen, Armenier:innen, Araber:innen etc., die auf türkischem Staatsboden gelebt haben, einberechnet sind.

Der türkische Staat versucht auch »seine« Gesellschaft hier in der Diaspora für sich zu organisieren und finanziert ein breites Netz an oftmals islamistisch-nationalistischen Organisationen. Eine davon ist die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion, kurz DITIB. Diese auch von der deutschen Regierung finanziell unterstützte Organisation verfügt offiziell über 776 Ortsvereine in Deutschland. DITIB ist dafür bekannt, dass in ihren Einrichtungen junge Menschen im Sinne der islamisch-türkischen Synthese indoktriniert werden. Gleichzeitig wird immer wieder davon berichtet, dass der türkische Staat DITIB dazu nutzt, die Diaspora zu überwachen und hierfür regelmäßig Geheimdienstmitarbeiter einsetzt oder Wanzen in den Räumlichkeiten installiert. Ein anderer großer Dachverband ist die »Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e.V.«. Sie ist eine der Protagonisten des extremistischen Islamismus und hat in Deutschland offiziell 27 000 Mitglieder. Auch sie wird vom türkischen Staat finanziert. Hinzu kommt noch eine Vielzahl anderer Moscheegemeinden, Schätzungen bewegen sich um ca. 2000, die sich in zunehmendem Maße nach ihren politischen Ausrichtungen zu Dachverbänden zusammenschließen.

Im Allgemeinen spielen politische Stimmungsmache und Themen wie Wahlkampf in Deutschland eine große Rolle, auf die die Türkei viel Zeit und Mittel verwendet. Der türkische Staat ist sehr darum bemüht, die eigene Diaspora weiterhin an sich zu binden. Der frühere Außenminister brachte das damals mit folgendem Spruch, der sich gezielt an die Diaspora in Deutschland richtete, auf den Punkt: »Integriert euch gut, lasst euch jedoch nicht assimilieren.« Man solle Teil Deutschlands werden, aber den Werten des türkischen Staates, wie Nation, Staat, Rasse, Religion, Tradition etc. treu bleiben und diese auch aktiv verteidigen. Parallel dazu versucht die Türkei auch ihre eigene Repressionspolitik gegen kurdische und andere oppositionelle Kreise auf Deutschland auszuweiten. Ständig wird versucht, Verbote von kulturellen Veranstaltungen und politischen Aktivitäten hier in Deutschland zu erwirken, und regelmäßig werden unliebsame Oppositionelle entweder hier in Deutschland inhaftiert oder direkt in die Türkei abgeschoben.

Zusammengefasst können wir festhalten, dass beide Länder in verschiedenster Form auf den jeweils eigenen Staat Einfluss nehmen können. Diese Einflussmöglichkeiten haben nicht nur diplomatischen Charakter. Entscheidungen des einen Staates können auch weitgehende innenpolitische Folgen beim Partner nach sich ziehen. De facto können beide Seiten nicht mehr ohneeinander existieren. Dies gilt insbesondere für die Türkei. Diese kann sich die ganzen politischen Eklats nur leisten, da Deutschland als einer der dominantesten Staaten in der EU und der NATO konstant einen Schutzschild vor sie hält. Auch die aktuelle politisch-gesellschaftlich-wirtschaftliche Krise der Türkei konnte die Regierung bisher nur überleben, weil die EU-Staaten, und hierbei allen voran Deutschland, ständig der Türkei zur Seite stehen und Rückendeckung geben.

Völkerrechtswidriger Angriffskrieg der Türkei auf Kurdistan

Aber kommen wir zu unserem eigentlichen Kernthema als Initiative: die völkerrechtswidrigen Invasionen des türkischen Staates in Kurdistan, und zwar sowohl in Südkurdistan und Şengal als auch in Rojava (Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien). Wir wollen an dieser Stelle nicht zu tief in die Beschreibung der Situation des Krieges einsteigen, sondern verweisen auf die Aufrufe, die wir als Initiative online (www.defend-kurdistan.com) veröffentlichen, sowie auf die Dossiers von Civaka Azad, dem kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. Stattdessen möchten wir hier vor allem darauf aufmerksam machen, welche Rolle Deutschland in diesem Krieg einnimmt.

Ein Punkt, der vorneweg klar gesagt werden muss, ist, dass der völkerrechtswidrige Angriffskrieg kein Krieg zwischen »den Türken und den Kurden« ist, wie es in der deutschen Presse gerne überspitzt dargestellt wird. Es handelt sich um einen bewaffneten Konflikt zwischen einem unterdrückerischen Zentralstaat und seinen Partnern auf der einen und einer politischen Bewegung, welche im Namen der Unterdrückten agiert und eine gerechte Gesellschaftsordnung anstrebt, auf der anderen Seite. Die Kurd:innen führen den Kampf im Namen der Unterdrückten zwar an, doch ihr Kampf hat verschiedenste gesellschaftliche Gruppen zusammengeführt und hat unlängst einen internationalistischen Charakter angenommen. Gemeinsam führen sie einen bewaffneten Widerstand gegen die NATO-Macht Türkei und weitere imperialistische Kräfte, welche wiederum ihren Krieg hauptsächlich durch den türkischen Staat führen lassen, aber dabei auch die irakische Armee, Söldner:innen und selbst dschihadistische Gruppen wie den sogenannten Islamischen Staat (IS) strategisch mit einsetzen.

Warum führen die NATO und allen voran die Bündnispartner Türkei und Deutschland diesen Krieg? Weil in der Region ein alternatives Gesellschaftssystem geschaffen wird. Dies können wir in der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens, den Medya-Verteidigungsgebieten, Mexmûr und Şengal sehen. Es ist ein multiethnisches System, das auf den Säulen der Frauenbefreiung, sozialen Ökologie und Basisdemokratie basiert. Dass dieses Modell funktionieren kann, sehen wir nun seit vielen Jahren. Während der Nationalstaat bei gesellschaftlichen Krisen in Form von Maßnahmen reagiert, die von oben implementiert werden, wird im demokratischen Konföderalismus auf Lösungen gesetzt, die demokratisch und im Einvernehmen aller beteiligten Parteien gefunden werden. In diesem Ansatz liegt auch das Erfolgsrezept von Rojava, das seit nunmehr 10 Jahren trotz aller Kriege, Krisen und Embargos Bestand hat.

Deutschland nimmt in diesem Krieg vor allem drei Rollen ein. Die erste Rolle hatten wir bereits oben thematisiert. Deutschland ist Exporteur von Rüstungsgütern und von militärischem Know-How und leistet dadurch einen zentralen Beitrag dafür, dass die türkische Armee ihre Kriege in Kurdistan fortsetzen kann. Damit gehen auch massive finanzielle Mittel an die Türkei einher. Diese ermöglichen es der türkischen Regierung, sich diese Kriege leisten zu können. Die zweite Rolle ist diejenige der Repressionsmacht in Deutschland selbst. Die deutsche Politik und ihre Sicherheitskräfte gehen aktiv gegen die Menschen vor, die mit der Befreiungsbewegung und ihren Zielen sympathisieren. In Deutschland werden gezielt kurdische Aktivist:innen und Menschen, die sich mit ihnen solidarisieren, kriminalisiert. Auch hier in Deutschland wird versucht, die Menschen einzuschüchtern und den Kampf um Befreiung zu delegitimieren. Das sehen wir beispielsweise daran, wie unsere Friedensdelegation letztes Jahr an deutschen Flughäfen bei ihrer Abreise behindert wurde, oder deutschen Staatsbürger:innen der Pass abgenommen wird, weil sie Demos anmelden, oder auch daran, dass eine Vielzahl von kurdischen Menschen in deutschen Gefängnissen sitzen, ihnen eine Meldepflicht aufgesetzt wird oder sie direkt abgeschoben werden. Wir sehen es daran, dass deutsche Sicherheitsorgane bewusst zulassen, dass die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes gegen die Zivilbevölkerung nahezu ungehindert vonstatten gehen und an vielen anderen Beispielen. Auch bei der Unterdrückung der Solidarität der Menschen in der Türkei hilft Deutschland mit. Der türkische Staat hält mehrere ­zehntausend politische Gefangene und tausende Journalist:innen in Haft, der deutsche Staat bildet die Gefängniswärter:innen darin aus, wie psychische Folter insbesondere durch Isolation durchgeführt wird. Das, was der deutsche Staat im Umgang mit der RAF, Bewegung 2. Juni und mit den Roten Zellen hier gelernt hat, wird an die Türkei weitervermittelt. Die berüchtigten F-Typ-Gefängnisse der Türkei, in denen die Gefangenen gefoltert werden und in denen immer wieder Menschen sterben, sind auf deutschen Reißbrettern entworfen worden. Die dritte Rolle, die Deutschland einnimmt, äußert sich in der bewussten Verhinderung von Öffentlichkeit für die Ereignisse in Kurdistan im Allgemeinen und die Verbrechen des türkischen Staates im Besonderen. Wie bereits erwähnt, wendet der deutsche Staat gezielt Repression gegen Menschen an, die mit der Befreiungsbewegung in Solidarität stehen oder mit ihr sympathisieren. Gleichzeitig wird gezielt jegliche öffentlichkeitswirksame Arbeit behindert. In den großen Zeitungen wird der Krieg in Kurdistan kaum thematisiert, während parallel beispielsweise der Ukraine-Krieg massiven Eingang findet. Zudem diffamiert der deutsche Staat Proteste, die hier im Land stattfinden, und schafft ein falsches Bild der Situation vor Ort. Ständig wird von »Kurdendemo«, »Kurdenführer« und »kurdischer Miliz« geschrieben, wobei diese Begriffe objektiv falsch und rassistisch sind. Die kurdische Gesellschaft an sich wird generell als eine Terrorgefahr inszeniert.

Die Rolle, welche Deutschland annimmt, unterstützt die Praxis des türkischen Staates direkt. Ohne diese Unterstützung wäre es kaum möglich, dass der türkische Staat weiterhin in dieser Form an seiner Kriegspolitik festhält. Deutschland nimmt die Verbrechen des türkischen Staates hin und sieht über sie hinweg, da die eigenen Interessen als wichtiger erachtet werden als das Überleben der Menschen. Würde der deutsche Staat tatsächlich im Interesse seiner sogenannten Werte wie »Demokratie«, »Freiheit« und »Gleichheit« agieren, dann dürfte er nicht einen Tag den Krieg hinnehmen, sondern müsste sofort handeln. Durch Sanktionen, Embargos und diplomatische Isolation wäre der Wille der türkischen Regierung bereits binnen weniger Tage gebrochen und ein Dialog über eine Demokratisierung der Region und eine Lösung der kurdischen Frage könnte begonnen werden.


 Kurdistan Report 222 | Juli/August 2022