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Erfahrung Rojava

Eine Buchempfehlung von Gisela Rhein


Erfahrung Rojava | Foto: https://twitter.com/DrMWilk/Dr. Michael Wilk, Notarzt, Psychotherapeut und Autor, arbeitet seit 2014 aktiv mit dem Kurdischen Roten Halbmond »Heyva sor a kurd« in Nord- und Ostsyrien zusammen. Sein Einsatz beschränkte und beschränkt sich nicht auf Spendensammlungen und die Organisation von Hilfslieferungen. Seit 2014 arbeitet er zusammen mit den Kolleg:innen von »Heyva sor a kurd« in Notfallambulanzen, improvisierten Verbandsplätzen hinter der Front und Krankenhäusern. Als Arzt hat er Verletzte der Kriege gegen den sogenannten Islamischen Staat und gegen die türkischen Invasionstruppen versorgt.

Seine Schilderungen werden auch zu einer Erzählung der Geschichte des Kurdischen Roten Halbmonds, der seit Beginn der Revolution bis heute die Gesundheitsversorgung unter schwierigsten Bedingungen stemmt. »Wir haben gelernt mit Schwierigkeiten umzugehen – wir geben unser Bestes«, sagt Şerwan. (S.27) Dr. Şerwan Bery gehört zu den Ärzt:innen, die die Rote-Halbmond-Organisation aufgebaut haben, und von 2017 bis 2021 war er Ko-Vorsitzender.

Die Idee zum Buch entstand 2021. Es sollte eine Sammlung von Erfahrungsberichten im weitesten Sinne werden. Erfahrungen von Menschen aus Deutschland, die sich in Nord- und Ostsyrien im Sinn des Systems des demokratischen Konföderalismus engagieren und sich für die Menschen vor Ort und die Arbeit der Autonomen Administration Nord- und Ostsyrien einsetzen. Als Anregung und auch als Rahmen für die Texte hat der Herausgeber Fragen an die Autor:innen formuliert.Hier einige Beispiele:

»Wie bist du zum Thema Rojava gekommen, was hat dich besonders berührt/beeindruckt, wie hast du angefangen dich zu engagieren, was sind deine Erfahrungen hier (gemeint ist Deutschland) und vor Ort, was war im Kontakt zu den Menschen besonders eindrucksvoll, schwierig ...? Was war der wesentliche Aspekt der Solidaritätsarbeit, der Anspruch, das Ziel? Was begeistert dich, ... was erschöpft dich?« (S. 11) Alle Fragen beziehen sich sowohl auf Deutschland als auch auf Nord- und Ostsyrien.

Herausgekommen sind Texte von neun sehr verschiedenen Menschen mit einer Vielfalt von Sichtweisen, Schwerpunkten und Erfahrungen:

Michael Wilk, der auch seine Rolle als kulturfremder weißer Mann kritisch beleuchtet.

Nujin, die ihre persönliche Geschichte und ihren Einsatz als Krankenschwester im Krieg mit der Geschichte der kurdischen Bewegung verknüpft.

Torsten Lengfeld, der als Physiotherapeut mit den Kriegsverletzten lebt und arbeitet und ihren Geschichten und der gesellschaftlichen Solidarität breiten Raum gibt.

Elke Dangeleit, Initiatorin der bis jetzt einzigen offiziellen Städtepartnerschaft in Deutschland, thematisiert die bürokratischen und zwischenmenschlichen Hürden der Solidaritätsarbeit.

Peng, der in einem sehr sachlichen Bericht die Arbeitsbedingungen eines Physiotherapeuten mit dem ausgemusterten ­Material aus Deutschland schildert.

Beriwan Al-Zin, die als Dolmetscherin eine Delegation begleitet und schon an der Grenze, bereit zur Ausreise, den Entschluss fasst, zu bleiben und als medizinische Notfallhelferin zu arbeiten.

Thomas Lutz, der als Traumapädagoge die Belastungen und Bedürfnisse der Kinder und des pädagogischen Personals in Kindergärten und Schulen kennenlernt.

Meryem Tuutiy, die als Mitarbeiterin in der medizinischen Versorgung die Kraft des Widerstands, auch in Şengal, und den unbedingten Willen zum Aufbau beschreibt.

Tom erzählt im letzten Beitrag seine Geschichte im lockeren Erzählstil; die Geschichte eines naiven, politisch wenig informierten jungen Mannes, der sich aufmacht, um gegen den sogenannten Islamischen Staat zu kämpfen. Er ist geblieben und zum überzeugten Aktivisten für den Aufbau des basisdemokratischen und multiethnischen Gesellschaftsmodells geworden.

Die Autor:innen verfallen nicht in romantische Beschönigungen der Widersprüche vor Ort, sprechen von ihren Schwierigkeiten, äußern konstruktive Kritik, aber alle eint die Solidarität mit den Menschen in Nordostsyrien. Und für alle bedeutet die Erfahrung einen Wendepunkt in ihrem Leben.

Meryem Tuutiy: »Veränderung braucht Zeit und Beispiele, braucht Mut und Starrköpfigkeit. Braucht Hoffnung und die Stärke, sich aus den Fesseln der Vergangenheit, des Traumas zu entwinden. Gleichzeitig und nicht erst, wenn der Krieg vorbei ist.« (S. 218)

Die Informationen in diesem Buch erreichen die Leser:innen über Gefühl und Verstand. Eine wichtige Voraussetzung für Engagement.

Wilk, Michael (Hrsg.):
»Erfahrung Rojava« – Berichte aus der Solidaritätsarbeit in Nord-Ostsyrien
Verlag Edition AV 2022, 238 Seiten, 18,00 €


 Kurdistan Report 222 | Juli/August 2022