Editorial

Liebe Leser:innen,

kurz nachdem wir die Artikel für die aktuelle Ausgabe des Kurdistan Reports beisammen hatten, hat die Türkei einen erneuten Angriffskrieg in Südkurdistan begonnen. Eigentlich war dieser Krieg erwartet worden. Seit mehreren Wochen kursierten Artikel und Kommentare dazu in den kurdischen Medien. Selbst ein mögliches Datum für den Beginn des Krieges, nämlich der 15. April, schwirrte herum. Tatsächlich ging es dann zwei Tage später in der Nacht vom 17. auf den 18. April los. Die Türkei hatte breitflächig die Gebiete Zap, Metîna und Avaşîn bombardiert, bevor an verschiedenen Punkten türkische Soldaten mit Kampfhubschraubern abgelassen wurden. Diese Hubschrauber starteten im Übrigen nicht aus der Türkei bzw. Nordkurdistan, sondern mitten aus Südkurdistan, im Hoheitsgebiet der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK).

Die PDK, allen voran ihr Mitglied Mesrûr Barzanî, der zugleich der Ministerpräsident Südkurdistans ist, spielt in diesem Krieg eine besonders unrühmliche Rolle. Zwei Tage vor dem Beginn des Angriffs besuchte Barzanî in Istanbul den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan und dessen Geheimdienstchef Hakan Fidan. Auch wenn in öffentlichen Statements darüber einvernehmlich geschwiegen wurde, war die türkische Militäroffensive Hauptgesprächsthema dieser Zusammenkunft. Von Istanbul aus reiste Barzanî anschließend weiter nach London. Auf einer Veranstaltung der Denkfabrik Chatham House erdreistete er sich gar, bezüglich des türkischen Einmarsches Schuldzuweisungen an die PKK zu richten und die Türkei zu rechtfertigen. Empfangen wurde Barzanî in London übrigens auch von kurdischen Demonstrant:innen, die sein Fahrzeug mit Eiern bewarfen.

In Deutschland wird auf Regierungsebene unterdessen zum türkischen Angriffskrieg gemeinschaftlich geschwiegen. Nicht dass die Bundesregierung sich in der Vergangenheit besonders darin hervorgetan hätte, Erdoğans Kriege in Kurdistan zu kritisieren. Doch die Türkei als NATO-Partner hat im Zuge der jüngsten Entwicklungen rund um die Ukraine an Bedeutung gewonnen. Deswegen hat sich die Ampel-Koalition wohl dazu entschieden, mit zweierlei Maß zu messen: Angriffskriege und Völkerrechtsbruch fallen nicht so sehr ins Gewicht, wenn sie von Bündnispartnern ausgehen …

Der aktuelle Krieg in Südkurdistan ist eine Etappe in einem umfassenden Vernichtungskonzept des türkischen Staates. Die zeitgleiche militärische Eskalation durch das irakische Militär in Şengal zeigt, in welche Richtung es gehen soll. Das AKP-Regime will nicht nur für seine bröckelnde Anhänger:innenschaft im Inland militärische Erfolge in Südkurdistan liefern, es will überall und an allen Fronten die kurdische Freiheitsbewegung vernichten. Auf mögliche militärische Erfolge in den Bergen könnten Großangriffe in Şengal und Mexmûr folgen. Möglicherweise steht im Anschluss daran auch eine Eskalation der Situation in Rojava und Nord- und Ostsyrien auf der Agenda Ankaras.

Diesen Plan zu vereiteln, liegt nicht nur in der Verantwortung der Guerillakräfte in Südkurdistan. Durch internationale Solidarität können wir einen wichtigen Beitrag zur Niederlage des türkischen Faschismus leisten. Das AKP-Regime spielt möglicherweise seine letzten Karten aus. Es ist kaum vorstellbar, wie Erdoğan eine Niederlage vor der eigenen Bevölkerung rechtfertigen könnte …

In eigener Sache: Krankheitsbedingt kann diese Ausgabe leider nur in einem geringeren Umfang erscheinen. Wir bitten dafür um Entschuldigung und wünschen uns schnelle Genesung.

Eure Redaktion


 Kurdistan Report 221 | Mai/Jubi 2022