Brief eines Gefangenen zum Internationalen Tag der politischen Gefangenen

30 Jahre im Käfig

Hüseyin Bilge


Seit 1992 ist Hüseyin Bilge politischer Gefangener des türkischen Staates. Im Alter von 23 Jahren wurde er mit einer Gruppe von ca. 20 Studierenden nach dem Brand des »Çetinkaya Store« inhaftiert. Zum Internationalen Tag der politischen Gefangenen 2022 schreibt er aus dem Gefängnis einen persönlichen Bericht nach draußen. Er schreibt über die mentalen Veränderungen durch die Gefangenschaft, die Bedeutung des Zusammenhalts drinnen und das Gefängnis im Kopf, welches uns mehr schadet als körperlich eingesperrt zu sein.

30 Jahre im KäfigEs ist nicht leicht, ein 30-jähriges Leben hinter vier Wänden aufzuschreiben. Also zumindest für mich nicht. Deshalb dachte ich nicht, es gut machen zu können, aber ich habe trotzdem versucht, mein Herz hineinzugeben. Diejenigen, die uns ein wenig kennen, wissen, dass »Ich” in unserem Stil entweder gar nicht oder nicht sehr erwünscht ist, es ist kein anerkannter Stil. Anstelle von »meine« Haltung, »mein« Widerstand verwenden wir kollektive Begriffe wie »unsere« Haltung, »unser« Widerstand und so weiter. Aber da ich in diesem Artikel lieber meine eigenen Gedanken und Erlebnisse formulieren und teilen möchte, als andere Momente oder die anderer Freund:innen, benutze ich natürlich den »Stil der ersten Person«.

Hinter den vier Mauern verbirgt sich eine uralte Realität dieses Landes

Jede:r hat seine:ihre eigenen Gedanken darüber, was er:sie befürchtet oder weiß, was hinter den vier Wänden passiert und wie es passiert. Aber tatsächlich verbirgt sich hinter den vier Mauern eine uralte Realität dieses Landes. Man wird in seinem eigenen Land wie ein Ausländer behandelt und das ist in gewisser Weise unvermeidlich. So war es gestern und so ist es heute. Wenn du dein eigenes Haus nicht besitzen kannst, wird es wohl morgen auch nicht möglich sein. In Bezug auf die gegnerischen Kräfte ist es offensichtlich, was in den Kerkern angestrebt wird. Einfach ausgedrückt wurden sie als Mittel zur Reformierung, Wiederbelebung und Züchtigung errichtet. Für die Widerstandskräfte ist jedoch der Standort der Gefängnisse viel wichtiger. In dieser Hinsicht sind die Geschichte und das Vermächtnis dessen, was in Gefängnissen geschah, offensichtlich. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass es ein Schatz für diejenigen ist, die ehrlich von diesem Erbe profitieren können.

Dieses Vermächtnis, dessen Fundament mit Mazlum, Kemal und den Xeyri gelegt wurde, nährt genauso wie gestern auch heute noch jeden neuen Häftling. Deshalb halte ich es für eine Untertreibung, ihnen unsere Dankbarkeit auszudrücken.

Die Wärme der Gemeinschaft

Am 07. Januar 1992 wurde ich gefangen genommen. Nach wochenlanger Haft, Folter und Misshandlung gehen wir ­hinein. Es geht mir nicht aus dem Kopf. Nach einem riesigen Korridor und großen Zellen öffnet sich vor uns die Tür zu einer Art Exil. Sobald wir den Trakt betreten, hängt das Banner »Partiya Karkerên Kurdistan«, von einem Ende zum anderen angebracht, in Gelb auf rotem Grund. Wenn man hier aus der Folterkammer hineinfällt, verspürt man ein Gefühl von Geborgenheit, eine »Heimatwärme«. Besonders wenn eure Freund:innen, die Herzlichkeit von Hevals, aufrichtige Begrüßung und Umarmungen, das Gefühl, hier zu ihnen zu gehören, dich erfüllt.

Ich denke, einer der Gründe, warum man es hier aushalten kann, ist, sich nicht so abzugrenzen, sich als »ein Mitglied dieser Familie« zu sehen und zu fühlen … deshalb ist es wichtig, seinen Stolz teilen zu können und seine Knochenarbeit zusammen zu verrichten.

Das nie endende letzte Jahr

Ich kam mit 23 rein, wir studierten an der Universität. Tatsächlich hatten wir keine Vergangenheit als Guerilla-Kämpfer:innen, Militante:r und so weiter. Unser Fall war der Vorfall des niedergebrannten »Çetinkaya Store«. Ich glaube, die meisten von uns waren Studierende. Zu dieser Zeit waren ungefähr zwanzig Freunde im Bayrampaşa Sağmalcılar Gefängnis, aber wir wurden auch dorthin geschickt und so waren wir doppelt so viele. Ob es bewusst war? Ich weiß nicht, ob es an Unwissenheit oder Irrtum lag.

Es ist bekannt, dass »Amnestie« in Gefängnissen nie ausgeschlossen ist, insbesondere bei den Straftäter:innen. Auch wenn dies bei uns nicht der Fall ist, heißt es vorher beziehungsweise zunächst: »Ihr habt nichts, ihr werdet alle rauskommen«. Dann sagt man »nach ein paar Anhörungen« und schließlich bekommt man die »Strafe« und es beginnt ein neues Kapitel. Diesmal heißt es, dass »nichts passieren wird, in ein paar Jahren sind wir alle draußen«.

Dann wird aus irgendeinem Grund jedes Jahr zum »Abschlussjahr« die »Wir sind draußen«-Stimmung wird verbreitet. Aber aus irgendeinem Grund endet oder kommt dieses letzte Jahr nicht. Ich kann sagen, dass ich etwa ein Jahrzehnt so verbracht und gelebt habe. Dann erkannte und fühlte ich die Realität allmählich tiefer. Zweifellos war dies ein Endpunkt. Es gibt keinen Fall von »Abschlussjahr«.

Diejenigen, die einen Grund zum Leben haben, ertragen jedes Wie

Mit anderen Worten, du verstehst, während du lebst; du lebst, je mehr du verstehst. Kurz gesagt, es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Bedeutungsebene und der Fähigkeit, das Gefängnis richtig zu leben. Meiner Meinung nach ist das Wichtigste, was Menschen am Leben erhält, die Tiefe und das Gewicht ihres Verständnisses dessen, wofür es ein Leben aufzugeben lohnt. Schließlich befinden wir uns in einer vergänglichen Welt. In diesem »zweitürigen Wirtshaus« erleben wir alle eine gewisse Vorläufigkeit, ein Zu-Gast-Sein. Wofür sollte dieses Leben dann geopfert werden? Insofern gibt einem das Land, sein Volk, zumindest das Gefühl, um der Befreiung Willen verschwendet zu werden, es gibt den Menschen einen sehr starken Widerstand und eine eigene Kraft. Natürlich Ehre und Glück zugleich. Man sagt ja, diejenigen, die einen Grund zum Leben haben, ertragen jedes Wie. Wenn sich diese Gedankentiefe in dir festsetzt, wird einem:einer sogar der Tod nichts ausmachen.

Der innere Käfig

Aber es geht nicht nur darum, körperlich am Leben zu bleiben. Immerhin überlebt eine Person irgendwie fast. Was zählt ist, wie lange du mit dem, woran du glaubst, stehen kannst. Wirst du in der Lage sein, friedlich und mit erhobenem Haupt herauszukommen, wenn du morgen angesichts dessen, was du verloren hast, die Haft verlässt? Ich denke, das ist das Hauptproblem. Genauso wie in dieses Land zu gehen, das Tragen dieses Kleides und Trikots eine Person nicht erfolgreich macht, macht das Einsitzen von 30 Jahren allein eine Person nicht gut oder perfekt. Dabei »gut« zu sein, liegt ganz in der eigenen Hand. Ehrlichkeit, Bewusstheit, Willensbemühungen sind in dieser Hinsicht nicht die Hauptdeterminanten. Tatsächlich ist ein jahrelanger Aufenthalt zwischen vier Wänden meiner Meinung nach keine Situation, die dich langweilt und unruhig macht, oder noch mehr, die dich zerstört. Die eigentlichen unruhigen und langweiligen Dinge erleben wir »im Inneren«. Mit anderen Worten, der Ort, der Käfig, die Behandlungen von morgen, die Wände und so weiter sind nicht nur langweilig, sondern sie stören die Ruhe, wenn sie von »innen« kommen.

Anders gesagt, die Essenz der Sache sowie der Frieden und das Glück eines Menschen sind im Kerker in uns verborgen. Wenn du den Kerker erst einmal zum Verstand und Herzen gebracht hast, wirst du selbst am meisten im Käfig leben. In umgekehrter Haltung sind wir keine Blume, die an den Wänden und manchmal auf den Böden blüht. Leider sind unsere diesbezüglichen ›linken Kinderkrankheiten‹ nicht geringer. Manchmal gehen wir aufeinander los, mauern Wände zwischen uns, ziehen Drahtzäune. Manchmal stechen wir einander wie Dornen. Das ist das, was wir das echte Verlies nennen, dann fängt es an. Mit anderen Worten, nicht unsere Kerker sind die Mauern von morgen, sondern unsere »Dornen«, die wir ineinander versenken. Ich habe dir gesagt, Erbe ist sehr wichtig. In dieser Hinsicht würde ich sagen, dass diejenigen, die den Mottos »Schreibe ›schuldig‹ an mein Grab« (von M. Xeyri Heval ) und »Ich liebe mein Leben so sehr, um dafür zu sterben« (K. Pir) folgen, den richtigen Weg einschlagen werden für das Leben in Gefängnissen.

Ratschläge für das Innere

Bescheidenheit, Selbstaufopferung, Aufrichtigkeit und Einfachheit … Wenn wir über mich persönlich sprechen; Ich selbst habe nie aufgeschaut, ich habe immer davon geträumt, ein guter Liebhaber eines Landes und Volkes zu sein, weil es mir immer gereicht hat, diese Prüfung mit reinem, unbeflecktem Herzen und hoch erhobenen Hauptes zu beenden und »eine angenehme Stimme in der Himmelskuppel zu hinterlassen«. Ich weiß es nicht, aber ich sage, dass dieses Gefühl den Menschen die Kraft gibt, Widerstand zu leisten, genauso wie Frieden.

Nazım hat ein Gedicht mit netten Ratschlägen für das »Innere«. An einer Stelle sagt er:

»… Also zehn Jahre, fünfzehn Jahre drinnen
mehr auf dem Feld
Es ist nicht undurchdringlich, es ist passierbar.
Es reicht, wenn es nicht dunkel wirddas Juwel unter der linken Brust«

Ja, wir können von unserem Land, unserer Gesellschaft, unseren Lieben abgeschnitten und in einen Käfig hinter vier Wänden gesperrt werden. Aber es geht nicht um physische Wände, Nähe oder Distanz. Wenn du den Kerker zum Einsturz bringst, aber das Gehirn und das Herz einsperrst, bist du bereits drinnen. Aber wenn du nicht zulässt, dass der Kerker in dein Gehirn und Herz kommt und dein Herz nicht verdunkelt, sage ich, dass die vergehenden Jahre dich nicht »verdunkeln«, sondern nur reifen werden.

18.03.2022
Hüseyin Bilge


 Kurdistan Report 221 | Mai/Jubi 2022