Wissenschaftlerin, Journalistin, Guerillera: Gurbetelli Ersöz

Kurze Geschichte der kurdischen Presse

F. Adar Sönmez


Wissenschaftlerin, Journalistin, Guerillera: Gurbetelli ErsözDie erste kurdische Zeitung, die »Kurdistan Newspaper«, wurde am 22. April 1898 von Mikdat Mithat Bedirhan im Kairoer Exil herausgegeben – dieses Datum wird seit 1973 als »Tag des kurdischen Journalismus« gefeiert. Wir können von einer Tradition der kurdischen Pressegeschichte sprechen, die im Exil begann und sich dann von Istanbul ausbreitete und von kurdischen Männern geprägt war. Die kurdische Presse, die auf eine 124-jährige Geschichte zurückblickt, entwickelte sich zunächst als Ergebnis des allgemeinen Zeitgeistes und der Bemühungen der kurdischen Mir und von Intellektuellen, die nach Istanbul verbannt worden waren, sich zu organisieren. Wir können von einer sehr lebendigen kurdischen Pressegeschichte mit Sitz in Istanbul sprechen, insbesondere zwischen der Zweiten Verfassungserklärung von 1908 und dem Ersten Weltkrieg von 1914.

In der Geschichte der kurdischen Presse begegnen wir dem kurdischen Frauenjournalismus nur in der Tageszeitung, die eine der wichtigsten Etappen in der Geschichte der kurdischen Presse nach 1990 darstellt, als die kurdische politische Bewegung begann, eine Massenbewegung zu werden. In diesem Sinne war diese Zeit für kurdische Journalistinnen existentiell. Die 90er Jahre, die in den letzten 30 Jahren der wichtigste Meilenstein der aufstrebenden kurdischen Frauenbewegung waren, waren eine Zeit, in der kurdische Frauen in fast allen Bereichen sichtbar wurden. Diese Periode entspricht auch einer historischen Periode, in der sich die kurdische Presse diversifizierte und eine größere Masse erreichte. In der Geschichte der kurdischen Presse waren bei der »Özgür Gündem« vor allem kurdische Journalistinnen an allen Positionen von ganz unten bis ganz oben und manchmal auch auf der Basis der Leitung beteiligt. Diese als »Tradition der freien Presse«1 bezeichnete Entwicklung beginnt mit der Zeitschrift »Toplumsal Diriliş«, die 1988 zum ersten Mal erschien.2

Die Zeitungen der »Özgür-Gündem-Tradition« oder »Tradition der freien Presse« haben ihre Spuren in der Geschichte der kurdischen Presse in Nordkurdistan hinterlassen, insbesondere in den 1990er Jahren. In einem von Männern dominierten Bereich wie der Presse hat sich der Existenzkampf kurdischer Frauen in den kurdischen und oppositionellen Zeitungen ziemlich eindrucksvoll entwickelt.

Nach 1990 begann die Epoche, in der die kurdische Bewegung immer mehr Menschen mobilisierte und die Rechte der Frauen in das Zentrum ihrer politischen Praxis stellte. In dieser Zeit wurde die Arbeit von Gurbettelli Ersöz als Akademikerin und Wissenschaftlerin in der Praxis kurdischer Journalistinnen bei der Herausgabe einer Tageszeitung sehr wichtig.

Eine Journalistin, die sich gegen die Kommodifizierung der Frau wehrte

Nach dieser eher allgemeinen Einführung in die Geschichte der kurdischen Presse wollen wir nun zu Gurbetelli Ersöz kommen. Gurbetelli spielt eine führende Rolle in der Entstehung des kurdischen Frauenjournalismus, ein Abenteuer, aus welchem später JINHA3 hervorgehen sollte und welches erst in den letzten 30 Jahren einer 124-jährigen Pressetradition Sichtbarkeit ­erlangte.

In der Tradition von »Özgür Gündem« stehend, wurde Gurbetelli Ersöz mit der Gründung der zweiten »Özgür Gündem« im April 1993 die erste Chefredakteurin in der Geschichte der Türkei und Kurdistans. Gurbetelli, die eigentlich eher Akademikerin und Wissenschaftlerin war als Journalistin und Guerillakämpferin, wurde 1965 in Xarpêt (türk. Elaziğ) geboren. Zwischen 1989 und 1997 war sie in der kurdischen Bewegung aktiv. Von 1989 bis 1993 wurde sie wegen Mitgliedschaft in der PKK inhaftiert. Ab April 1993 praktizierte sie den von ihr so geliebten Journalismus, diesmal beruflich bei der Zeitung »Özgür Gündem«. Ende desselben Jahres wurde sie nach einer Razzia in der Zeitung für mehr als sechs Monate inhaftiert. Von Juni 1994 bis 1995 begann sie wieder bei der Zeitung zu arbeiten. 1995 beschloss sie als kurdische Journalistin aufgrund starker Repression und Verhaftungen, ihren Kampf bei der Guerilla fortzusetzen. Gurbetelli fiel am 8. Oktober 1997 zusammen mit weiteren Freund:innen am Berg Gare im Kampf gegen eine Kollaboration zwischen KDP und der Türkei.

Es waren zwei Dinge, welche sie, als sie zwischen 1995 und 1997 in den Bergen war, selbst unter den schwierigsten Umständen nicht zurückgelassen hatte: Ihr Tagebuch und das Kopftuch ihrer Mutter. Ihr Tagebuch wurde unter dem Titel »Gurbet›s Diary: I Embed My Heart on the Mountains« veröffentlicht. Gurbetelli Ersöz, in deren Name jedes Jahr ein Preis für Frauenjournalismus verliehen wird, schreibt in ihrem Tagebuch vor allem über ihre Verbundenheit zu ihrem Bruder, Dr. Orhan Ersöz, ihre Sehnsucht, ihre Klage, ihre Gedanken über Frauen, ihr Leben bei der Guerilla, die erlebten Schwierigkeiten und Freuden.

Gurbetellis enge Freundin Ferda Çetin beschreibt sie im Vorwort zu dem erschienenen Tagebuch: »Sie war eine Alternative zu den Entwürfen der Frau-als-Ware, welche das System erschaffen will. Sie konnte in ihrem so kurzen Leben die ihr gebotenen ›Gottesgaben‹ des Systems mit einem gezielten Schlag zerstören. Konzepte wie Position, Karriere, Status, ›Werte‹, für die eine in der herrschenden Ordnung integrierte Frau alles opfern kann, die aber für Revolutionärinnen nicht viel Sinn ergeben, verwandelten sich unter Gurbets Füßen in Treppenstufen zur Freiheit. Sie lernte revolutionäre Ideen während ihrer Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Chemie der Çukurova-Universität kennen. Sie zögerte nicht. Sie erkannte – mit ihrem (noch) sehr begrenzten Wissen – dass das Leben, das für viele Frauen ein Traum war, ein Labyrinth aus Fallen war und ging diesen Weg nicht. Weil sie verstanden hatte, was es für ein Horror sein kann, wie eine gefällige Frau zu leben.«

Hüseyin Aykol schreibt, dass Gurbetelli Politik und Revolution in Adana kennenlernte, als sie an der Çukurova-Universität arbeitete und vom Umfeld der Zeitschrift »Hedef« beeinflusst wurde.4 Im Umfeld der Zeitschrift »Hedef« konnte Gurbetelli den Journalismus kennenlernen und erste Erfahrungen in der Pressearbeit sammeln.

Den Prozess, als Gurbetelli 1993 die Stelle als Chefredakteurin von »Özgür Gündem« übernahm, beschreibt Aykol wie folgt: »Ihr war nicht so bewusst, dass sie in dieser Tageszeitung, die trotz der schweren Angriffe des Staates herausgegeben wurde, Geschichte schrieb. Allerdings war sie die erste Chefredakteurin der Türkei. Ich erinnere mich, dass sie sich bei unseren Besprechungen über die Veröffentlichung oder das Management der Zeitung Probleme sehr genau angehört und sich alles notiert hatte. Sie blieb an den Fragen, die sie sich notiert hatte, dran. Sie arbeitete sehr strukturiert. In menschlichen Beziehungen war sie sehr vertraut und warmherzig«.5 In einem Interview mit Nadire Mater, welches sie während ihrer Zeit als Chefredakteurin gegeben hatte, sagte sie: »Natürlich ist es für eine kurdische Frau sehr wichtig, Chefredakteurin zu sein, kurdische Frauen haben es in den letzten Jahren weiter gebracht als die Männer. Wo ich heute stehe, hängt damit ebenso zusammen wie mit meiner eigenen Leistung«.

Am Ende war sie sich ihrer eigenen Kraft bewusst, während sie Geschichte schrieb und der Arbeit der Frauen Wertschätzung verlieh. Zwei der ausdrucksstärksten Worte für Gurbetelli waren Anderssein und Bewusstheit.

Ich habe versucht, ihre Spuren in unveröffentlichten Interviews zu finden und Gurbetelli mithilfe ihres Tagebuch und weiteren Quellen zu verstehen. Aykol beschreibt Gurbetelli als freundlich, meist mit einem Lächeln auf den Lippen und mit einem Naturell, dem man einfach nicht böse sein konnte.6 ­Nadire Mater beobachtet Gurbetelli mit unglaublicher Bewunderung. Sie habe miterlebt, mit welch großartiger Energie sie Nachrichten mit Redakteur:innen und Reporter:innen diskutierte, zuhörte und Vorschläge machte, als hätte sie jahrelang eine Zeitung geleitet.

Die zweite »Özgür Gündem« 1993: Eine Zeit der intensivsten Frauenarbeit

In meinem Interview mit Gültan Kışanak aus dem Jahr 2014 erweiterte sich meine Perspektive auf Gurbetelli. Gültan identifizierte das Jahr 1993 als die Zeit, in der die Arbeit von Frauen im Journalismus am intensivsten war. Alle vier Hauptaufgaben der Zeitung waren mit Frauen besetzt. Gurbetelli war Chefredakteurin, Gültan Chefredakteurin, Yurdusev Özsökmenler hatte die journalistische Leitung inne und Yasemin Gedik war Ressortleiterin und somit für die allgemeinen Kommentare und Diskussionsforen zuständig. Alle Haupttätigkeiten der Zeitung wurden fast ausschließlich von Frauen ausgeübt.7

Tatsächlich, sagte Gültan, habe Gurbetelli mit dem Bewusstsein ihrer Weiblichkeit sich selbst und andere Journalistinnen, ihre Freundinnen, einen Schritt weiter gebracht, dank ihr hat sich die Farbe der Zeitung geändert. In dieser Zeit begannen erstmals monatliche Treffen von Journalistinnen. Die Zahl der Journalistinnen in den Büros in Kurdistan und der Türkei stieg.8 Es wurde gefordert, dass auf die Sprache in den Nachrichten geachtet werde9 und das Nachrichten über Frauen mehr Raum einnehmen sollten. Für den Einsatz insbesondere von Reporterinnen in den Ost- und West-Büros der Zeitung wurde gesorgt. Im Zentrum von Istanbul erhielten Reporterinnen eine journalistische Ausbildung. Jedoch verhinderte die Tatsache, dass in dieser Zeit die Agenda durch Rechtsverletzungen aufgrund des Krieg bestimmt war, dass die Identität der Frau in die Zeitung einfloss. Zeitungen hielten es in gewisser Weise für einen Luxus, angesichts der von der Bevölkerung erlebten Rechtsverletzungen die weibliche Identität hervorzuheben. Dennoch hat die Sensibilität der vier weiblichen Führungskräfte und insbesondere Gurbetellis gegenüber der weiblichen Identität zu einer Veränderung geführt, wenn auch auf diskursiver Ebene. Gurbetellis Arbeit als Chefredakteurin war jedoch nur von kurzer Dauer und mit ihrer Verhaftung im Dezember 1993 wurde die Zeitung geschlossen.10

Während der Zeit ihres Erscheinens hatte die Zeitung »Özgür Gündem«, trotz der Intensität der Frauenarbeit, keine Frauenbeilage oder -seite. Es wurden aber zumindest Themen wie mehr Berichterstattung über Frauen, Erhöhung des Anteils von Frauen in den Kommentarspalten, Verzicht auf Ausdrücke, die die weibliche Identität beleidigen könnten, diskutiert und Schritte gegen Diskriminierung unternommen.11 Es war wichtiger, dass die Perspektive und das Bewusstsein der Frau in der gesamten Zeitung dominiert. Andernfalls hätte es zu einer unaufrichtigen Situation wie in den Mainstream-Medien führen können. Aus Sicht der Frauen wurde ihnen in diesen ihre Emanzipation durch Einverleibung verhindert.

»Wenn die Presse die Wahrheit geschrieben hätte, hätte es nicht so viele Tote gegeben«

Ein gemeinsamer Punkt bei meinen Gesprächen über den Leitungsstil und den Journalismus von Gurbetelli, die ich mit vielen Journalistinnen geführt habe, die in der Zeitung »Özgür Gündem« in unterschiedlichsten Positionen gearbeitet haben, ist die Beschreibung einer lösungsorientierten, tatkräftigen, auf Frauen fokussierten, positiven, selbstbewussten, fragenden, diskutierenden Frau. Es gibt sogar Frauen, die sich, von Gurbetelli inspiriert, dieser Profession zuwandten und Journalistin werden wollten.

Alternativen Journalismus in den 1990er Jahren zu betreiben bedeutete, Teil des Krieges zu sein – heftige Rechtsverletzungen, Folter, das Niederbrennen von Dörfern, einen schmutzigen Krieg und Morde durch unbekannte Täter waren an der Tagesordnung. Daher war die Presse eine Rückendeckung für die kurdische Bewegung. Gurbetelli spricht jedoch sowohl im Gefängnis als auch während ihrer journalistischen Tätigkeiten ständig über die Bedeutung der Rolle sowohl der Presse, als auch der Journalist:innen und ihrer Macht, die Wahrheit zu vermitteln. Es ist kein Zufall, dass sie in einem Interview mit Nadire Mater sagte: »Wenn die Presse die Wahrheit geschrieben hätte, hätte es nicht so viele Tote gegeben«. Für Gurbetelli war die Presse verpflichtet, die Wahrheit zu schreiben, ansonsten sei sie mitschuldig. Deshalb wurde Gurbetelli zu Militärbesprechungen oder Ministertreffen, zu denen die Mainstream-Medien eingeladen wurden, nicht eingeladen. Sie war eine der wenigen Frauen, die Journalismus und Widerstand miteinander verbinden konnten.

In ihrem Tagebuch schreibt Gurbetelli über die erste nationale Frauenkonferenz12 in Zap, dass sie dort die Realität des Landes kennengelernt hatte, und dass sie eine ›Natur‹ der Frau und damit ihre eigene Realität, erfahren konnte. Während der ersten Frauenkonferenz wurde über die Arten und Weisen der Erfahrung des Machtkampfes zwischen Männern und Frauen gesprochen, welcher die Nahostpolitik beeinflusste. Sie schreibt, dass sie ihr Geschlecht und damit sich selbst als Frau liebt, dass sie die männliche Dominanz ebenso sieht wie die Rolle der Frau im Krieg und in den Geschlechter- und Klassenkämpfen. Gurbetelli traf die Entscheidung, ihr Frau-Sein zu lieben und eine leidenschaftliche Kämpferin hierfür zu werden.13

Bei der ersten Frauenkonferenz »hatte zum ersten Mal die Frau so viel über sich selbst gesprochen und sich wiedererkannt. Es war auch das erste Mal, dass sie so viel über den Mann gesprochen und ihn erkannt hatte. Es wurden sowohl Probleme als auch Lösungen gesehen.«14

Die kurdische Frauenbewegung begann vor allem in den 1990er Jahren an Dynamik zu gewinnen. Sie durchlief einen teilweise institutionalisierenden Prozess. Wir können jedoch sagen, dass mit Zunahme der Sichtbarkeit der Frauen, die seit Jahrhunderten als unsichtbar galten, der Kampf gegen die männlich dominierte Sichtweise seinen ersten Höhepunkt erreicht hatte. Gurbetelli hat im Bereich der Presse jede Chance zugunsten der Frauen genutzt. Bei der Guerilla stieß sie zusätzlich auf große Widersprüche. In Bezug auf den Geschlechterkampf schreibt sie in ihrem Tagebuch: »Die Entwicklung der Frauen nicht zu wollen, ja es gibt sogar Angst davor. Es gibt Verleugnung, Herabsetzung, Anpassung, in Reserve halten, Frauen sollen nur für das Leben zuständig sein, man lässt sie nicht am Ganzen teilhaben. Oder besser gesagt, man macht sie zu seiner eigenen Frau.«15

Ohne die Freiheit der Frau wird niemand frei sein

Gurbetelli stellte eine tiefe Verbindung zwischen der Frauenbefreiung und der kurdischen Revolution her. Eines der Hauptthemen, die ihr Tagebuch prägen, ist ihre Wut darüber, dass Frauen als Reservekräfte im Guerillakampf, im Geschlechterkampf und in den Machtkämpfen angesehen werden. Wenn sie etwas nicht tolerieren kann, dann ist es das Festhalten von Frauen im Hintergrund. In jeder Zeile ihres Tagebuchs betont sie die Bedeutung des eigenen physischen und psychischen Willens der Frau. Ihrer Meinung nach hat eine Frau einen freien Geist und braucht in Niemandes Schatten zu stehen.

Die Frauenkonferenz scheint wiederum in allen Bereichen Anklang gefunden zu haben. Die Entscheidungen zur Bewaffnung, Autonomie und Institutionalisierung von Frauen(-strukturen) haben gezeigt, dass Frauen keine stille Reserveeinheiten sind, sondern eine eigenständige Kraft sein können. Im Tagebuch heißt es zu dieser Initiative der Frau, die versucht, Subjekt zu sein: »Wenn ein Landeskoordinator scherzhaft sagt ›Wenn das so weiter geht, werden wir 2005 einen Männerschutzverein eröffnen‹, zeigt das, dass die Stärkung von YAJK16 als Abspaltung empfunden wird und wenn in allen Regionen die gleichen Herangehensweisen auftauchen, dann spiegelt dies eine tief verankerte Mentalität wider«.

Gurbetelli verstand Frauen als von Geburt an verheiratet. Deshalb sollte die Scheidung vom Mann die oberste Priorität der Frau sein, sonst ist sie entweder Jemandes stille Reserve oder Sklave, sie kann nicht frei werden. Deshalb schreibt sie: »Genauso wie ich die männliche Dominanz bekämpfe, werde ich das Frau-Sein verschönern, angefangen bei mir selbst«.

Dr. Orhan Ersöz, ein Arzt, ist Gurbetellis einziger Bruder. Im Herzen des Tagebuchs steht ihr Bruder, den Gurbetelli verlor, kurz nachdem sie sich der Guerilla angeschlossen. Sein Tod hat einen tiefen Schmerz hinterlassen. Im Zentrum stehen Klagen, Gedichte und Träume für ihren Bruder, welcher von Soldaten verbrannt wurde. Das Feuer erscheint auf jeder Seite bei Gurbetelli: »Als ich aufwachte, träumte ich von seinem brennenden Körper in dieser Hitze. Ein Foto sehe ich immer wieder vor meinem inneren Auge. In der Zeitung »Özgür Gündem« veröffentlichten wir ein Foto von brennenden Leichen, von denen noch Rauch aufstieg.«17

Fußnoten:

1 -  Die »Tradition der freien Presse« ist eine Definition der kurdischen Pressegeschichte – vor allem auf die »Özgür Gündem« bezogen – die mit dem Ziel entwickelt wurde, die Linie des Journalismus zu beschreiben, die mit ihren Nachrichten und Sendungen eine Alternative zum Diskurs der Mainstream-Medien im Dreieck Staat-Macht-Armee darstellte. Seit den 1990er Jahren prägt die »Tradition der freien Presse« bis heute die Geschichte der kurdischen Presse, die insbesondere mit »Özgür Gündem« identifiziert wird und oft auch als »Bewegungsjournalismus« und »kämpferischer Journalismus« bezeichnet wird.

2 -  Die Zeitschrift »Sosyal Diriliş«, die als erste legale Publikation der kurdischen Freiheitsbewegung gilt, wurde nach kurzer Zeit geschlossen. Hüseyin Aykol gibt an, dass in der kurzen Zeit mehr als 50 Tages-, Wochen- und Monatszeitungen herausgegeben wurden. Laut Aykol war die erste wichtige Veröffentlichung der »Tradition der freien Presse« die Wochenzeitung »Halk Gerçeği«, welche am 22. April 1990 geschlossen wurde. »Halk Gerçeği«, ein gemeinsames Publikationsprojekt von sechs politischen Gruppen, wurde von der Zeitungsleitung nach drei Ausgaben beendet. Darauf folgte die Wochenzeitung »Yeni Ülke«. Als das gemeinsame Publikationsprojekt scheiterte, schreibt Aykol, habe man sich entschieden, diesmal allein mit »Yeni Ülke« aufzubrechen, welche zum ersten Mal am 20. Oktober 1990 erschien. In derselben Woche wird das Büro der Zeitung in Diyarbakir bombardiert. Der Gründungsredakteur der Zeitung war Günay Aslan. Die Zeitung wurde zwei Jahre produziert, bis sie im Dezember 1992 mit der Begründung geschlossen wurde, dass sie den Anforderungen nicht entspreche, und der Chefredakteur wurde für eine Weile festgenommen. Quelle: Aykol, H. (2010). Zwanzig Jahre kurdische Medien. Istanbul: Evrensel. S. 149.

3 -  JINHA war eine Nachrichtenagentur, in der ausschließlich Frauen arbeiteten. Der Name kommt von »Jin«, was auf Kurdisch »Frau« bedeutet, gefolgt von »H« für »haber« (Türkisch: Nachricht) und »A« für »Ajansi« (Türkisch: Agentur). JINHA wurde 2010 von kurdischen Frauen gegründet und es arbeiteten Frauen aus verschiedenen Nationalitäten mit. Hauptsitz von JINHA war Diyarbakir. Es wurden in den Sprachen Englisch, Kurdisch und Türkisch Nachrichten verfasst. Das Ziel war, eine andere als die hegemoniale und von Männern dominierte Sprache zu verwenden. Die Journalistinnen wollten aus der Sichtweise der Frauen berichten und die Frau nicht als (Sexual)Objekt darstellen. JINHA hatte verschiedene Standorte in Rojava und in der Türkei sowie einen in Silêmanî in Südkurdistan/Nordirak. Zuerst war die Website nur für Abonnent:innen zugänglich. Später öffneten sie sich einem weiteren Publikum und verfassten frei zugängliche Artikel. Seit dem Ende des Friedensprozesses zwischen der PKK und der türkischen Regierung wurde es für kurdische Nachrichtenagenturen wie JINHA schwierig, weiter ihrer Arbeit nachzugehen. So berichtete etwa Güler Can vom JINHA-Büro in Diyarbakir, dass veröffentlichte Artikel als Beweis für Anklagen gegen Journalist:innen genutzt wurden. Im Dezember 2015 wurde Beritan Canözer, während sie an einer Demonstration in Diyarbakir teilnahm, um von ihr zu berichten, von der Polizei festgenommen, weil sie zu »begeistert« ausgesehen haben soll. Am 29. Oktober 2016 wurde JINHA durch das Dekret 675 geschlossen.

4 - Aykol, Hüseyin (2012 /2. Ausgabe 2015). Aykırı Kadınlar: Osmanlı’dan Günümüze Devrimci Kadın Portreleri, Ankara: İmge (S. 236).

5 - Ebd.

6 -  Ebd., S. 237.

7 -  Tatsächlich betont Aysel Kılıç in ihrer Abschlussarbeit, dass in der türkischen Presse in den 1990er und 2000er Jahren kaum Frauen in der Führungsebene vertreten waren, während es in der kurdischen Presse umgekehrt war. Siehe: Kilic, A. (2013). Die Position von Journalisten in der türkischen Presse auf Management- und Produktionsebene. Institut für Sozialwissenschaften der Universität Marmara, unveröffentlichte Masterarbeit, S. 125.

8 -  Quelle: Unveröffentlichtes Interview vom 2. September 2014

9 -  Sprachlich wurde bei den Nachrichten darauf geachtet, nicht sexistisch zu ­schreiben. Es war vorgesehen, dass den Nachrichten, in denen Frauen im Vordergrund standen, und Erfolgsgeschichten von Frauen mehr Platz eingeräumt wird. Zu dieser Zeit gibt es keine spezifischen Frauenseiten oder Anhänge. In den Interviews wird jedoch festgestellt, dass sich im Diskurs eine Sensibilität entwickelt habe.

10 -  Çakmak.Y., Şur, T., (eds.) (2018). ‹Gültan Kışanak›, Portraits from Kurdish History and Politics, İstanbul: İletişim.

11 -  Quelle: Unveröffentlichtes Interview vom 2. September 2014

12 -  Die erste nationale Frauenkonferenz der YAJK fand vom 30. März bis 17. April 1996 statt.

13 -  Ersöz, Gurbetelli. (2014). Gurbet’in Güncesi: Yüreğimi Dağlara Nakşettim. Diyarbakır:Aram (S. 128)

14 -  Ebd.

15 -  Ebd.

16 -  Die YAJK (Yekîtiya Azadiya Jinên Kurdistan) war der Verband der Freiheit der Frauen Kurdistans und war der Beginn der eigenständigen Frauenorganisierung mit dem Aufbau der Frauenarmee. 1999 wurde daraus die Frauenpartei PJKK entwickelt.

17 -  Ersöz, Gurbetelli (2014). Gurbet’in Güncesi: Yüreğimi Dağlara Nakşettim, Diyarbakır:Aram


 Kurdistan Report 221 | Mai/Jubi 2022