Ein wichtiges Buch zur Geschichte des deutschen Kolonialismus

Mit »Hänge-Peters« auf zu neuen Ufern

Ulrike Müller, Sozialwissenschaftlerin/Journalistin


Ein wichtiges Buch zur Geschichte des deutschen KolonialismusWer durch bundesdeutsche Städte wandert, wird immer wieder auf den Namen »Kaiserstraße« treffen. 255 gibt es. Davon befinden sich, so der Journalist und Buchautor Gerd Schumann 2021 in einem Interview mit der Zeitung »junge Welt«, allein 253 im Westen der Republik, und zwei im Osten, auf dem Gebiet der vormals antikolonial ausgerichteten DDR. Aus der »Karl-Liebknecht-Straße« im UNESCO-Weltkulturerbe Quedlinburg wurde nach dem 31.1. (!) 1991 kurzerhand die »Kaiserstraße«, und die heutige »Kaiserstraße« im Seeheilbad Heringsdorf hieß einmal »Karl-Marx-Straße«. Aus Alt wird Neu. Und umgekehrt.

Kolonialismus offenbart sich nicht nur durch Straßennamen, sondern, so Schumann, »in seinem realen Sein. Das Streben nach Einfluss auf Territorien, Erwerb von Bodenschätzen, Ausbeutung von Arbeitskräften und die Schaffung neuer Absatzmärkte durchdringen die kapitalistische Ökonomie.« Der »Süden« der Erdhalbkugel – Afrika, Asien und Lateinamerika – fungiert weiterhin und äußerst erfolgreich als Selbstbedienungsladen für Industrienationen. Und nicht zuletzt die Bundesrepublik ist Bestandteil eines Systems, das seine Wurzeln bereits Jahrhunderte zuvor geschlagen hat. Vergangen und vorbei ist die koloniale Vergangenheit Deutschlands – wiewohl sie nur knapp 35 Jahre dauerte – bis heute nicht. Allein der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts in »Deutsch-Südwest« ist bei den Herero und Nama bis auf den heutigen Tag unvergessen und ungesühnt, ganz zu schweigen von bis dato ausgebliebenen Kompensationszahlungen für enteignetes Land, geraubtes Vieh, Boden- und Kunstschätze. Im Land der Täter hingegen erinnern Straßen bundesweit immer noch an Adolf Lüderitz, Paul von Lettow-Vorbeck oder Wilhelm Solf, und immerhin 63 Straßen oder Plätze enthalten den mittlerweile rassistisch konnotierten Begriff »Mohren«.

»Die Vorarbeit für die Inbesitznahme des östlichen Zentrums von Afrika lieferte der fanatische Rassist Carl Peters (1856–1918), ein Doktor der Philosophie. Ein Bewunderer britischer Weltmachtpolitik, weisen ihn seine biografischen Daten als erbarmungslosen Herrenmenschen aus, der wie die anderen seiner Art und seines Wesens geschätzt wurde von den Heldenverehrern im Deutschen Reich, von den Betroffenen seines Vorgehens jedoch so verachtet wie gefürchtet. Zu Beginn der 1880er Jahre hörte der studierte Philosoph, Historiker und Geograf von üppigen Goldvorkommen in Ost-Rhodesien, ein offenbar phantasieanregender Vorgang: Während eines London-Aufenthaltes (1881–1883) entwarf er auf Grundlage britischer Kolonialliteratur ein Konzept für eine Expansion Deutschlands außerhalb Europas.«

Durch eine Erbschaft zu Geld gekommen, gründet Peters 1884 die »Gesellschaft für Deutsche Kolonisation«, die spätere »Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft«. Nach Südwestafrika wird auch der Osten des Kontinents mit Inbesitznahme des Festlandsgebietes gegenüber der Insel Sansibar trickreich erobert. Reichskanzler von Bismarck ist hocherfreut, und Deutsch-Ostafrika wird zum Vorzeige-Kolonialbesitz, wobei der Begriff »Kolonial« sich nach reichsdeutscher Definition mit dem fürsorglichen »Schutzgebiet« auch öffentlichkeitswirksam gut verkaufen lässt. Dass die außereuropäische Welt fortan am deutschen Wesen genesen soll, zeigt sich am globalen Rundumschlag der Kolonisatoren, deren sogenannte »Schutzgebiete« das heutige Burundi, Ruanda, Tansania, Namibia, Kamerun, Togo, Teile des heutigen Gabuns, der Republik Kongo, der Zentralafrikanischen Republik, Tschad, Nigeria, Ghana und Mosambik umfassen. Bis Ende des 19. Jahrhunderts kommen diverse Pazifikgebiete hinzu, darunter Neuguinea, Samoa, Karolinen, Marianen, zwei Salomonen- und die Marschall-Inseln sowie das Pachtgebiet Kiautschou im Nordosten Chinas. »Die Überseegebiete verfügten über etwa 2,6 Millionen Quadratkilometer Fläche, auf der 12,7 Millionen Menschen lebten. Zudem erweiterte das deutsche Kapital seine Einflusssphäre durch Ausbeutung nicht kolonial beherrschter, bodenschatzreicher Regionen sowie von Arbeitskräften in Südamerika – vor allem in Chile und Brasilien.«

Carl Peters, der promovierte Feingeist aus dem Königreich Hannover, profitiert auf die ihm eigene Weise von der aufstrebenden Kolonialmacht Deutsches Kaiserreich und wird 1891 zum Reichskommissar für das Kilimandscharo-Gebiet ernannt. »Schutz« wird hier fortan zum verbalen Deckmäntelchen für Grausamkeiten an der indigenen Bevölkerung, und Dr. Carl Peters ist ihr Protagonist, ein fanatisch-gnadenlos agierender Kolonialist, der sich nicht nur im Konservativen Club in Berlin im militaristischen Outfit präsentiert, sondern auch vor Ort am Kilimandscharo willkürliche Hinrichtungen vollzieht, die ihm bald den Beinamen »Hänge-Peters« einbringen. Für den Herrenmenschen mit rassistisch-sozialdarwinistischem Menschenbild ist der »›Neger (…) der geborene Sklave, dem ein Despot nötig ist, wie dem Opiumraucher die Pfeife‹«. Und das Erbe von Peters soll sich noch lange über seinen Tod im Jahr 1918 hinaus halten: »Während der faschistischen Herrschaft in Deutschland wurde der ›Kolonialpionier‹ zur Kultfigur stilisiert … Das Naziregime pries anhand der Figur Peters [sic!] vor allem die rücksichtslose Umsetzung seiner eigenen ideologischen Ziele und glorifizierte zu diesem Zweck Peters‘ Brutalität und Skrupellosigkeit. Als Lehrstück aus dem kolonialen Afrika für die Kolonisierung des europäischen Ostens.« Allerdings hätte die deutsche Kolonialpolitik nie so erfolgreich ihre »Schutzhelme« weltweit anbieten können, wäre dies nicht seitens der Industrie, namentlich der Essener Stahl-, sprich: Rüstungs-Dynastie Krupp, sekundiert worden: »Der Krupp-Konzern mit Standorten und Rohstoffzulieferern über Deutschlands Grenzen hinaus wurde zu einem Mythos. Das Schwert für einen zukünftigen großen Krieg und absehbar auch für koloniale Vorhaben sollte härter geschmiedet und schärfer geschliffen werden; Krupp sorgte dafür, und der Staat zahlte.« Der Kanonenkönig von der Ruhr war keineswegs allein: Siemens, Borsig, Kraus-Maffei, die Deutsche Bank und mit ihnen zahlreiche andere Betriebe profitierten ebenfalls vom Kolonialismus, und das nicht nur im Deutschen Reich: »Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Afrika (außer Äthiopien und Liberia), Australien sowie große Teile Asiens und Lateinamerikas zu Kolonien, Halbkolonien und abhängigen Ländern einiger imperialistischer Staaten – Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Japan, Niederlande, Russland, USA – geworden. In Zahlen: Kolonial beherrscht waren Afrika zu 90,4 Prozent, Polynesien zu 98,9 Prozent, Asien zu 56,6 Prozent, Australien zu 100 Prozent und Amerika zu 27,2 Prozent.«

Das Chilehaus, ein monumentaler Backsteinbau in Hamburgs geschichtsträchtigem Kontorhausviertel, heute UNESCO-Weltkulturerbe und Ikone des Expressionismus in der Architektur, repräsentiert wie kaum ein anderes Gebäude die Hoch-Zeit des deutschen Kolonialismus. Auf 36 000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche werden unter dem Architekten Fritz Höger von 1922 bis 1924 mehrere Millionen Reichsmark verbaut. Das Geld dafür hatte Bauherr Henry B. Sloman, ein britisch-deutscher Unternehmer und Privatbankier, zuvor im chilenischen Norden verdient, wo Arbeiter aus ganz Lateinamerika unter unsäglichen Bedingungen den Reichtum ihres Arbeitgebers erschuften mussten, und dieser Reichtum trug den Namen »SALPETER«: ein unverzichtbarer Rohstoff sowohl für die Industrie wie für die Landwirtschaft. Für den Unternehmer Henry B. Sloman hat sich das Geschäft auf jeden Fall finanziell gelohnt: »1912 wurde er mit einem Vermögen von rund 60 Millionen und einem jährlichen Einkommen von etwa drei Millionen Reichsmark als mit Abstand vermögendste Person der Stadt bezeichnet.« Kolonisation als Globalisierung auf höchstem Niveau. Der Weltwirtschafts-Motor, angetrieben durch die Ausbeutung von Menschen, inklusive Raub von Rohstoffen. Dieser Motor läuft bis heute in offiziell »post-kolonialen« Zeiten. Und die militärische Absicherung von Handelswegen zur Interessenwahrung westlicher Industrienationen gehört wie selbstverständlich dazu. Ex-Bundespräsident Horst Köhler hat dies 2010 allzu freimütig geäußert – und musste wenig später seinen Hut nehmen …

Noch einmal zurück zur »Kaiserstraße«. Nein, nicht eine von jenen 255 im »vereinten« Deutschland, sondern in Windhoek, der Hauptstadt Namibias, ehemals »Deutsch-Südwest«. Auch hier wird, wie in Quedlinburg und Heringsdorf, eine Straße umbenannt. Nur eben andersherum: Nach der Unabhängigkeit Namibias am 21. März 1990 wird aus der »Kaiserstraße« die »Independence Avenue«. tGerd Schumann:

Kaiserstraße
Der deutsche ­Kolonialismus und seine Geschichte
Köln, PapyRossa Verlag 2021, 239 Seiten.
ISBN: 978-3-89438-764-8, 16,90 €


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